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Z serii: ide-extra #14
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2. Definition und Anspruch

Ziel Transkultureller Literaturdidaktik ist es, einen spezifisch ästhetischen Beitrag zu einer Erziehung für eine solidarische Weltgesellschaft zu leisten. Sie begreift sich als Bestandteil globalen Lernens, mit Hinblick und unter Nutzung der besonderen Möglichkeiten der Literatur. Sie situiert sich im Rahmen eines Bildungskonzepts, das Differenz akzeptiert und auf ihr gründet, nicht im Sinne multikultureller Beliebigkeit, sondern bezogen auf ein universelles Wertesystem, das Respekt vor der Verschiedenheit, d.h. vor der ›Andersheit‹ des/der Anderen, zum zentralen Programm macht. Entscheidend ist es dabei, die Besonderheiten ästhetischen Lernens und speziell des Systems Literatur nie aus den Augen zu verlieren.

Transkulturelle Literaturdidaktik ist ein normativer Begriff. Sie definiert sich nicht in Bezug auf eine spezifische soziale Situation in einer bestimmten Schule, zum Beispiel eine mehrsprachige Klasse, sondern versteht sich als die literaturdidaktische Antwort auf eine inzwischen allgemein gewordene Situation, nämlich auf die gegenwärtigen Globalisierungsprozesse der Nationalstaaten – auch wenn sich dieser Trend keineswegs einheitlich und gleichzeitig in derselben Form im Bildungsbereich auswirkt. In stark multikulturellen und mehrsprachigen Klassen ist allerdings eine besondere Rezeptionssituation für Transkulturelle Literaturdidaktik gegeben.

Transkulturelle Literaturdidaktik möchte nicht eine neue Nische im Bereich der Literaturdidaktik erschließen, sondern erhebt den Anspruch, einen Paradigmenwechsel der Literaturdidaktik einzuleiten: Jede Literaturdidaktik sollte sich – statt an einem Denkrahmen der Nationalliteratur – an einem Denkrahmen einer transkulturellen Betrachtung von Literatur orientieren. Transkulturelle Literaturdidaktik möchte nicht nur den Kanon, sondern auch die Art des Umgangs mit Literatur grundlegend verändern. Dieser Anspruch kann auf mehreren Ebenen erfüllt werden:

Eine dem transkulturellen Paradigma verpflichtete Literaturdidaktik wird – auf einer ganz pragmatischen Ebene – den realen Lebensbedingungen der SchülerInnen gerecht. Diese wachsen in einer Welt auf, in der nationale Grenzziehungen schon längst ihre absolute Gültigkeit verloren haben, in der soziale und kulturelle Identitäten nur noch um den Preis der Schizophrenie als homogen imaginiert werden können, da die Konfrontation mit dem kulturell Fremden mehr oder minder jede einzelne Biografie prägt. Das Leben in einer Welt, die sich der Einzelnen/dem Einzelnen als undurchschaubar in ihrer Vielfalt und ihren Durchmischungen präsentiert, bringt selbstverständlich auch eine andere Art von Literatur hervor – eine Literatur, die die Bedingungen ihres Entstehens widerspiegelt. Die Miteinbeziehung so gearteter zeitgenössischer Texte (die nicht unbedingt zweisprachig sein müssen) und anderer Medien (beispielsweise Musik) ist eine der Formen, in denen transkultureller Literaturunterricht realisiert werden kann.

Was die Ästhetik literarischer Texte betrifft, so stellt der transkulturelle Literaturunterricht ebenfalls bestimmte Anforderungen und zwar unabhängig davon, ob es sich um einen neueren oder einen älteren Text handelt. Diese Fremdheit ist jedem literarischen Text insofern inhärent, als er sich einer Sprache bedient, die den Strukturen der alltäglichen Sprache – und damit der gewohnten Ordnung – zuwiderläuft. Die intensive Auseinandersetzung mit der Subversion, die literarische Sprache noch im konservativsten Text betreibt, ist folglich eine weitere Ebene, auf der transkultureller Literaturunterricht verwirklicht werden kann. Diesem Aspekt sollte besondere Aufmerksamkeit zukommen. Erstens, weil nur Lesarten, die das ›Spezifische‹ der literarischen Sprache mit bedenken, dem Text wirklich gerecht werden können und damit literarisches Lernen ermöglichen, und nicht nur Lernen im Medium des Literarischen. Zweitens, weil der literarische Text dank seiner Fähigkeit, das gewohnte Sprechen und Denken zu überschreiten, zur Utopie, zu einem Denken des Neuen und Unbekannten befähigt.

Transkulturelle Literaturdidaktik findet schließlich auch noch auf psychologischer Ebene statt. Was Bernhard Waldenfels als »intrakulturelle Fremdheit« (Waldenfels 1997, S. 27) bezeichnet und Julia Kristeva auf die berühmt gewordene Formel »Fremde sind wir uns selbst« (Kristeva 1990) gebracht hat, ist auch in Zusammenhang mit den Ansprüchen der Transkulturellen Literaturdidaktik relevant. »Eigenes entsteht, indem sich ihm etwas entzieht, und das, was sich entzieht, ist genau das, was wir als fremd und fremdartig erfahren« (Waldenfels 2006, S. 21). Wenn wir dieser These folgend davon ausgehen, dass ein Eigenes sich immer nur über die Abgrenzung von einem »Fremden« definieren kann, dann ist die Auseinandersetzung mit dem »Fremden« unhintergehbarer Teil jeder Biografie. Das kulturell Fremde wird zu einer Spielart dessen, was die Entwicklung einer Ich-Identität im Kern bedeutet. Die Art und Weise, wie man mit diesem Fremden kommuniziert, ob angstfrei und neugierig oder abwehrend und aggressiv, kann bis zu einem gewissen Grad gelehrt werden. Ein Weg dorthin ist auch die Transkulturelle Literaturdidaktik, die einen bewussten Umgang mit dem Fremden, ein ›ethisches Antworten‹ auf dessen Ansprüche, einüben möchte.

Transkulturelle Literaturdidaktik wirft jedoch nicht nur einen anderen Blick auf die Literatur, sie richtet den Blick auch auf eine andere Literatur. Sie interessiert sich für die Differenzen wie für die Gemeinsamkeiten von so genannten nationalen Literaturen, für das »Dazwischen«, das bei nationaler Betrachtungsweise unbeachtet bleibt. Sie richtet die Aufmerksamkeit auf sprachliche, kulturelle, wirtschaftliche und politische Machtverhältnisse, wie sie in der Literatur thematisiert werden, wie sie aber auch im Literaturbetrieb ihren Niederschlag finden. Transkulturelle literarische Bildung erweitert den Kanon über die deutschsprachige Literatur hinaus – durch die Einbeziehung von Texten der ethnischen Minderheiten, der Migration und der Kontakträume mit den Nachbarländern sowie durch einen neuen Begriff von Weltliteratur, der die postkolonialen Literaturen der ›Dritten Welt‹ mit einbezieht.

Der Entscheidung für den Begriff »Transkulturalität« anstelle des besser eingeführten Ausdrucks »Interkulturalität« liegt das Bestreben zugrunde, die Überschreitung des nationalen Denkrahmens deutlicher zum Ausdruck zu bringen, als dies im literaturdidaktischen Diskurs bislang der Fall ist. Transkulturalität ist nach Wolfgang Welsch ein Konzept, »das deskriptiv und normativ ein anderes Bild vom Zustand und Verhältnis der Kulturen entwirft: eines nicht der Isolierung und des Konflikts, sondern der Verflechtung, Durchmischung und Gemeinsamkeit« (Welsch 1997, S. 13). Damit wollen wir uns aber nicht in einen Gegensatz zu einer sich selbst als interkulturell oder auch interregional bezeichnenden Literaturdidaktik, insbesondere von Rösch (1992, 1997, 2000a und 2000b, 2001), Kliewer (2006), Kliewer/Massingue (2006) oder Honnef-Becker (2007) bringen.2 Selbstverständlich stützt sich Transkulturelle Literaturdidaktik auch auf deren Theorieentwürfe, Unterrichtserfahrungen und Konzepte.

3. Transkultureller Literaturunterricht in der Praxis
3.1 Die Ausgangssituation

Transkulturelle Literaturdidaktik ist auch ein neues und noch wenig verbreitetes Arbeitsgebiet der Schulpraxis, nicht bloß ein neues theoretisches Feld. Deswegen ist es auch nicht möglich, sich ihm einfach als BeobachterIn zu nähern. Eine Reihe unserer Beobachtungen hatte folglich den Charakter von Interventionen, sei es, dass die Lehrkräfte unsere Erwartungen – aufgrund der Vorgespräche – im Unterricht antizipierten, sei es, dass wir sogar gebeten wurden, Vorschläge für die Arbeit mit bestimmten Texten zu formulieren. Man kann also in diesem Fall eher von literaturdidaktischen Experimenten sprechen, die wir begleiten durften. In einer anderen Klasse war unsere Methode die teilnehmende Beobachtung mit anschließenden Leitfadeninterviews.

Wir haben unseren Schwerpunkt dabei auf die Hauptschulen bzw. allgemein auf die Sekundarstufe I gelegt, denn die Pflichtschule ist die entscheidende Phase, wenn der neue Ansatz tatsächlich bildungspolitisches Gewicht bekommen soll. Dieser Entscheidung liegen letztlich drei Thesen zugrunde:

– dass Literatur nach wie vor für Kinder und Jugendliche (10–14) von großer Bedeutung sein kann und dass dies im schulischen Unterricht erfahrbar gemacht werden kann;

– dass es möglich ist, mit Hilfe von Literatur die eigene Welt-Sicht zu erweitern, sich selbst und die Welt neu zu sehen;

– dass wie jeder Unterricht auch der Literaturunterricht in mehrsprachigen und multikulturellen Klassen den Voraussetzungen, Chancen und Bedürfnissen der neuen Zielgruppen angepasst werden muss.

Diese Aussagen sind nicht als operative »harte« Thesen zu verstehen, die sich einfach im Zuge einer empirischen Überprüfung verifizieren oder falsifizieren ließen. Es handelt sich eher um Markierungen, die ein Feld abstecken, innerhalb dessen wir uns nun bewegen wollen. Die eigentlichen praktischen und theoretischen Entdeckungen in diesem Feld sollten und – wie sich zeigen sollte – konnten damit nicht antizipiert werden. Unsere Beobachtungen waren also keine an die quantitative Sozialforschung angelehnten Interventionen. Was wir taten, war eher so etwas wie einen Stein in den Teich zu werfen – wir können zwar bestimmen, wo wir welchen Stein hineinwerfen, aber wir können vorher nicht wissen, welche Kreise er ziehen wird …

In der Folge diskutieren wir Beispiele aus Kärnten, deren sozialer Hintergrund auch die (in ganz Österreich anzutreffende) Migrationssituation von SchülerInnen ist. Großteils aber konzentrieren wir uns auf Fälle, die die besondere Konstellation von gemischtsprachigen SchülerInnen (deutsch-slowenisch) unter den Bedingungen einer »deutschkärntner Dominanzkultur« ansprechen. Das ist natürlich ein regionales Spezifikum, aber doch nicht so sehr, als dass darin nicht auch ein Allgemeines zum Ausdruck käme. Kulturelles Dominanzstreben, Ausüben von kultureller Gewalt in einer bürokratischen, juridischen, vor allem aber in einer subtilen alltagskulturellen Form ist kein Kärntner Unikum, sondern die generelle Art, wie kulturelle (und in der Folge politische) Hierarchien durchgesetzt, erlebt und erlitten werden. Wir haben die Fallbeispiele deswegen nicht nach der ethnischen Zusammensetzung der Klassen, sondern nach ihren möglichen Lernerfahrungen geordnet und im Titel des jeweiligen Unterkapitels das literaturdidaktisch Interessante, nicht die spezifische sprachliche Konstellation hervorgehoben.

 

3.2 Literatur und Identität(sabwehr)

Literarische Texte bieten die Gelegenheit, die eigene Situation zu reflektieren, ohne unbedingt direkt über sie sprechen zu müssen. Ein geschützter Raum, wie ihn ein Gespräch über Literatur darstellt, wo die eigenen Befindlichkeiten oder Positionen nur indirekt verhandelt werden, ist besonders wichtig, wo persönliche Identitätsfindung in das Spannungsfeld gesellschaftlicher Konflikte. Ein Paradebeispiel ist die zweisprachige Situation in Südkärnten, wo die Kenntnis der slowenischen Sprache sehr schnell mit dem Stigma der Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlich diskriminierten Gruppe belegt wird. Unter solchen Bedingungen ist es nicht besonders verwunderlich, dass das Angebot eines Textes, mehrsprachige Identitäten zu thematisieren, von den AdressatInnen mitunter auch zurückgewiesen wird.

Im Literaturunterricht einer zweiten Klasse (1. Leistungsgruppe) einer Hauptschule wurde Jani Oswalds Gedicht Jaz-Ich (Oswald 1992) durchgenommen.3 Das war wohl kein Zufall, handelt es sich bei der Lehrkraft doch um eine sehr engagierte Person, die selbst zweisprachig ist und den Mut hat, im Deutschunterricht immer wieder Texte in beiden Landessprachen einzusetzen. Da die Lehrerin eine künstlerische Ader hat und auch kreative Fächer unterrichtet, legt sie wohl auch mehr als manche ihrer KollegInnen Wert darauf, dass sich die Kinder mit literarischen Texten beschäftigen. Die Besonderheit dieses Gedichts liegt darin, dass das doppelte, zweisprachige Ich – also die zerrissene Identität des slowenisch-deutschsprachigen Ichs, das seine eigene Identität sowohl »liebt« wie »hasst« – in ästhetisch adäquater Weise durch eine Verschränkung von deutscher und slowenischer Sprache dargestellt wird. Der gesamte Text ist konsequent in beiden Sprachen vorhanden, doch die zwei Sprachen stehen nicht fein säuberlich nebeneinander, sondern sind wort- oder wortgruppenweise ineinander verschachtelt.4 Jemand, der nur eine der beiden Sprachen versteht, »versteht« damit den Wortsinn des Gedichts, er oder sie ist sich dessen allerdings nicht bewusst. Nur wenn einem die andere Sprache einigermaßen zugänglich ist, erkennt man, dass es sich um zwei identische, miteinander verwobene Versionen handelt und begreift, wie das Gedicht aufgebaut ist.

Man sollte meinen, dass eine leistungsfähige Klasse von Südkärntner Kindern, etwa zu 80 Prozent zumindest rudimentär zweisprachig und zumindest im Deutschunterricht ohne Angst, über die eigenen Slowenischkenntnisse zu sprechen, den Grundgedanken dieses Gedichts leicht erkennen kann. Doch genau das Gegenteil war der Fall. Für das »doppelte Ich« bieten die Kinder eine ganze Reihe von Erklärungen und Interpretationen, die alle eines gemeinsam haben – sie vermeiden eine Verortung der Doppelidentität in der Zweisprachigkeit und imaginieren stattdessen andere Formen: Doppelgänger, Spiegelbild, Schatten, die innere Seite, das eigene Bild usw. Auch den Gegensatz »Ich liebe mein doppeltes Ich / ich hasse mein doppeltes Ich« deuten sie moralisch (»Wenn man was Schlimmes macht, hasst man sich dafür«, »Man ist frech und will es gar nicht sein«), wofür sie den Text – eine beachtliche Leistung – gegen den Strich lesen müssen.

Obwohl der Text sehr deutlich eine bestimmte Lesart anbietet und obwohl sie selbst großteils auch einigermaßen Slowenisch können, vermeiden die Kinder eine Interpretation, die es erfordern würde, sich in den Zwiespalt der Zweisprachigkeit hineinzuversetzen und das doppelte Ich eben als »Jaz-Ich« zu deuten. Dass dies keine intellektuelle Schwäche und kein Zufall ist, dafür gibt es – außer dem allgemeinen Wissen über die Situation des Slowenischen in Kärnten – ein Indiz: Kurze Zeit später erzählen einige Kinder von Situationen, in denen der Gebrauch des Slowenischen als peinlich empfunden werden kann.

Obwohl die Lehrerin noch eine zweite Unterrichtsstunde für die Diskussion der Thematik aufwendete, bestätigt auch die anschließende schriftliche Übung das Bild, das wir aus der Beobachtung der spontanen Rezeptionssituation gewonnen haben. Die Kinder bringen das Gedicht nicht auf den Punkt. Von elf SchülerInnen erwähnen nur fünf überhaupt die zweisprachige Form des Gedichts in ihren Interpretationen und Kommentaren, drei von diesen Fünfen sind aber nicht der Meinung, dass die Sprache entscheidend für das Verständnis des Dilemmas ist, in dem sich das Jaz-Ich befindet. Ganze zwei SchülerInnen sehen das Jaz-Ich tatsächlich als eine Person in einer sprachlichen Doppelsituation an, wobei ein einziger Schüler diese Situation als soziale Diskriminierung anspricht und eine Analogie zu seiner persönlichen Lage herstellt:

Der Text versucht uns zu sagen, dass er manchmal seine innere Hälfte liebt, aber manchmal liebt er sie nicht, weil wenn andere sagen du Jugo du und ihn ausspotten dann hasst er sie. Desshalb will er nie Slovenisch vor mitschülern reden, aber wenn er in seinem heimatland essen geht und ein mitschüler dabei ist. Einerseits wissen alle das er Slovenisch kann, andererseits wird er dann in der Schule ausgespottet, da finde ich da bin ich [in] so einer Situation. (Aufsatz, S. 7)

Bemerkenswert an dieser Stellungnahme ist, dass auch dieser Schüler sich als Repräsentanten dieses gespaltenen Ichs keinen Kärntner Slowenen vorstellt, sondern einen Ausländer aus Slowenien, den es nach Kärnten verschlagen hat. Dies ist umso erstaunlicher, als die Kinder über die Kärntner Herkunft des Autors Jani Oswald Bescheid wussten, aber ausdrücklich keinen Bezug zwischen dem Text und der Biografie des Autors herstellten – ganz im Gegensatz zu unseren anderen Erlebnissen mit SchülerInnen dieses Alters, die nur allzu schnell literarische Texte biografisch deuteten. Zusammengefasst: Der Text macht den Kindern ein nur wenig verschlüsseltes Angebot, über ihre eigene Situation bzw. allgemein über die Situation in Südkärnten zu sprechen, das diese aber zurückweisen.

Ein Erklärungsmuster für diese auffällige ›Blindheit‹ ist das sprachenpolitische Klima in (Süd)Kärnten, das durch eine negative Konnotation des Slowenischen und ein darauf beruhendes möglichstes Ausklammern der Zweisprachigkeit charakterisiert ist. Das Nicht-Verstehen des literarischen Textes kann in diesem Sinne als Verdrängungsleistung gedeutet werden. Allerdings ist eine andere Interpretation ebenso nahe liegend. Die SchülerInnen haben sich wie typische nicht-professionelle LeserInnen literarischer Texte verhalten: Sie behandeln den Text wie einen Steinbruch, aus dem sie sich die schönsten Brocken herausschlagen. Was einem Literaturwissenschaftler nahe liegend erscheint, die Verbindung zwischen zweisprachiger Form und der Doppelidentität auf der Inhaltsebene, muss ihnen noch lange nicht plausibel und vor allem nicht interessant erscheinen. Stattdessen haben sie im Text eine »Spur« gefunden, der nachzugehen sich für sie lohnt, wenn sie auch vom Text wegführt: das Spekulieren über Doppelgänger, Spiegel und Zwillinge, an dem sie hartnäckig und gegen alle Einwände der Lehrkraft festhalten. Unsere kurzen Beobachtungen reichen allerdings nicht aus, hier eine Entscheidung zu fällen, welches Erklärungsmuster nun für welche SchülerInnen am ehesten zutrifft.

3.3 Literaturdidaktik oder pädagogische Instrumentalisierung von Literatur?

In einer Kärntner Hauptschule, die wir über Wochen hinweg bei einem Projekt zu Antoine de Saint Exupérys Der kleine Prinz begleitet haben, konnten wir auf der so erarbeiteten Vertrauensbasis insgesamt zwölf Interviews mit mehrsprachigen Kindern (mit Migrationshintergrund) einer vierten Klasse führen. Die Gespräche sollten sich eigentlich auf die Art und Weise konzentrieren, in der der Text von den Kindern gelesen worden war. Die Ergebnisse waren in einigen Punkten sehr ähnlich: Alle Kinder hatten die Miteinbeziehung eines literarischen Textes in den Deutschunterricht als etwas sehr Schönes und Interessantes wahrgenommen und alle waren sich darin einig, dass sie bald wieder ein solches Projekt im Deutschunterricht haben möchten.

Dieser Begeisterung für den Text standen allerdings zum Teil recht magere Ergebnisse gegenüber, was das Textverständnis betraf. Nur zwei Kinder konnten begründen, weshalb sie eine bestimmte Figur als ihre Lieblingsfigur bezeichneten, und es fiel ihnen auch schwer, eine besonders interessante Episode nachzuerzählen. Die Schwierigkeiten im Verständnis des Textes waren – nicht nur gemäß unseren Eindrücken, sondern auch nach Aussage der Lehrerinnen – zum Teil auf mangelnde Sprachbeherrschung zurückzuführen, zum Teil auch auf andere Lernschwächen wie etwa Konzentrationsschwierigkeiten. Die Verständigung war mit den meisten Kindern nur auf einem sprachlich sehr einfachen Niveau möglich und die Antworten waren häufig knapp oder inkohärent. Die größte Problematik ist aber wohl in der Antwort auf die Frage zu sehen: »In welcher Sprache fühlst du dich wohler, in deiner Muttersprache oder im Deutschen?« Etwa 80 Prozent der Kinder geben an, sich in der deutschen Sprache wohler zu fühlen und das Gefühl zu haben, dass sie diese auch besser beherrschen. Objektiv betrachtet haben sie sowohl produktiv als auch rezeptiv große Probleme im Bereich des Wortschatzes. Was die produktiven Fertigkeiten betrifft, fallen vor allem syntaktische Unsicherheiten und Fehler auf. Zuhause sprechen die SchülerInnen laut eigener Angaben meistens eine »Mischung« beider Sprachen, die nicht nur vom jeweiligen Gegenüber, sondern auch von der Sprechsituation abhängig ist. Viele Kinder werden von ihren Eltern in deren Muttersprache angesprochen, geben »Mischantworten« und sprechen mit den Geschwistern eher deutsch, allerdings mit Einsprengseln aus der Muttersprache. Schulbildung in der Muttersprache haben die meisten dieser Kinder nie erfahren und so fehlt ein gewisser, nicht-alltagssprachlicher Teil des Wortschatzes meist in beiden Sprachen. Erstaunlicherweise können sich die Kinder aber trotz mangelnden Verständnisses auf sprachlicher Ebene gut auf literarische Texte einlassen und erleben sie als etwas Sinnvolles und Interessantes. Was genau das Faszinierende an den Texten ist, können die meisten allerdings nicht oder nur schwer in Worte fassen.

Die Lehrerin dieser Klasse meinte, dass, wenn es nach ihr ginge, der Deutschunterricht hauptsächlich aus Literaturunterricht bestehen würde. Dieser Wunsch lässt sich leicht nachvollziehen, wenn man die Vorteile bedenkt, die die Arbeit mit literarischen Texten gerade in sehr inhomogenen Klassen hat:

– Es ist ohne großen Aufwand möglich, die einzelnen Aufgabenstellungen zum selben Text je nach Leistungsfähigkeit und Interesse der SchülerInnen zu modifizieren.

– Die Diversität der Ergebnisse ist nicht wie bei anderen Übungen (z. B. einer Grammatikübung) ein Defizit, sondern im Gegenteil, sogar wünschenswert. Die Inhomogenität der Gruppe, die grundsätzlich auch im Bewusstsein der SchülerInnen ein Problem darstellt, stellt im Literaturunterricht automatisch einen Wert/ein Potenzial dar.

– Das Interesse der meisten SchülerInnen an Geschichten ist groß. Dieses Interesse und das Bedürfnis der Kinder, eigene Geschichten zu erzählen, muss nicht erst geweckt werden, sondern ist bei den meisten vorhanden.

Es stellt sich nun aber die Frage, ob die Möglichkeit der positiven Besetzung von sprachlicher, kultureller und individueller Vielfalt im Literaturunterricht auch tatsächlich genutzt wird. Der transkulturelle Literaturunterricht birgt auf jeden Fall die Möglichkeit dazu, aber in der von uns beobachteten Praxis ist diese Form der Literaturvermittlung der Ausnahmefall. Das »Fremde« an den Texten und in der eigenen Identität wird in der Behandlung literarischer Texte bewusst oder unbewusst ausgeblendet, wobei diese Vorgehensweise meist in engem Zusammenhang mit der Negierung ästhetischer Eigenheiten des literarischen Textes steht. Der Grund dafür ist ebenso einfach wie nachvollziehbar: Pädagogische und soziale Probleme, wie beispielsweise die häufig nicht gelingende Miteinbeziehung der Eltern in den Bildungsprozess ihrer Kinder, legen es nahe, alle zur Verfügung stehenden Ressourcen für die Lösung dieser »Krisen« einzusetzen. In diesem Sinne ist auch der Literaturunterricht nur ein Lösungsversuch, er wird Mittel zum Zweck. Damit entsteht eine paradoxe Situation: Gerade weil man die Literatur pädagogisch nutzen möchte, verfehlt man die pädagogischen Möglichkeiten der Literatur. Sie lässt sich nämlich nicht einfach instrumentalisieren, sondern wird nur wirksam, wenn man ihre Wirkungsmöglichkeiten systematisch freilegt und entfaltet.