Scheitern und Glauben als Herausforderung

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

2.1. Scheitern – eine Annäherung

Was ist Scheitern? Als erste Annäherung dienen die folgenden Bemerkungen. Scheitern ist temporäre oder dauerhafte Unverfügbarkeit, Handlungsunfähigkeit. Ist Scheitern temporär, dann ist Scheitern als ein graduelles Phänomen aufzufassen. Unterstellt wird, dass auch nach dem Scheitern noch gehandelt werden kann.

Davon ist absolutes Scheitern zu unterscheiden. Dieses macht weiteres Handeln unmöglich. Im absoluten Scheitern gibt es keine Verfügungsmöglichkeiten für Handeln. Der Begriff des absoluten Scheiterns ist ein Idealtyp im Sinne Max Webers. Er tritt in der sozialen Realität überwiegend in Abschattungen auf. Als Idealtyp erlaubt dieser Begriff in der Gegenüberstellung zum graduellen Scheitern eine genaue Kennzeichnung der Voraussetzungen und der Grenzen des Handelns. Denn im absoluten Scheitern dringt die Grenze des Handelns – die Unverfügbarkeit von Handlungschancen – in die Handlungsbedingungen ein und zerstört die Voraussetzung für das Handeln.

Scheitern als ein Oberbegriff für beide Phänomene ist die Negation von Handlungsfähigkeit. Scheitern ist der Grenzfall vor dem sich die Konzeption des Handelns abheben kann. Deshalb kann Handeln als Scheiternsvermeidung aufgefasst werden. Handelnd wird versucht, das Scheitern zu vermeiden, indem der Bereich der Verfügbarkeit erweitert wird. Dabei ist der nur temporäre Charakter graduellen Scheiterns bedeutsam. Denn dann ist ein zeitlicher Horizont gegeben, der in der Reflektion auf das Scheitern überschritten werden kann.

Handeln ist aber auch Scheiternsbewältigung. Wenn gescheitert wurde, dann setzt ein Handeln ein, welches das Scheitern zu überschreiten sucht, indem die Erfahrungen aus dem Scheitern in Konsequenzen für weiteres Handeln umgesetzt werden. Handeln hat dann die Perspektive des Scheiterns integriert. Das ist vor allem für ein Verständnis von Scheitern als Sanktion bedeutsam. Sanktion für ein Handeln, das den Erfolg nicht erreichte, weil technische oder soziale Normen verletzt wurden (vgl. nur Habermas 1989). An technischen Normen scheitert man, weil etwas nicht gelingt, es geht nicht. An sozialen Normen scheitert man, weil etwas nicht gelingen darf, weil es aufgrund sozialer Konventionen dem Bereich der Verfügbarkeit des Handelns entzogen ist.

Aus der Unterscheidung von graduellem und absolutem Scheitern ergeben sich unterschiedliche Scheiternserfahrungen. Graduelles Scheitern bestärkt die kulturelle Illusion der Autonomie, es führt in die Üblichkeiten sozialen Handelns zurück. Anders absolutes Scheitern, hier gibt es keine Handlungschance mehr. Erfahren wird, dass die Voraussetzungen des Handelns zerstört sind. Damit aber implodiert das Soziale als Gefüge von Handlungsmöglichkeiten. Was bleibt? Eine Erfahrung, die sozial nicht mehr vermittelt werden kann, die nicht mehr im Sozialen aufscheint, obwohl sie im sozialen Kontext entsteht. Anders als in Baudrillards Konzeption der Implosion des Sozialen (1979) ist die hier angezeigte Implosion eine „lokale“, sie ist begrenzt auf den Erfahrungs- und Handlungsraum eines scheiternden Individuums. Implosion und Explosion stellen Gegenbegriffe dar. Diese Relationierung beider Begriffe lässt sich auf das Verhältnis von Scheitern und Handeln übertragen: Während im Scheitern das Soziale implodiert, explodiert im Handeln der Raum der Verfügbarkeit.

Aus den genannten zwei Formen des Scheiterns ergeben sich jeweils andere Scheiternsbewertungen. Das graduelle Scheitern wird als kurze Unterbrechung von Handlungsmöglichkeiten verstanden, denn es kann später weiter gehandelt werden. Bewertungen beziehen sich hier auf die falsche Einschätzung von Handlungsmöglichkeiten, aber die Autonomie des Individuums wird nicht in Frage gestellt. Im absoluten Scheitern geschieht aber gerade dies, die Autonomie des Handelnden wird in Zweifel gezogen. Mit der Implosion des Sozialen im absoluten Scheitern ist auch die Implosion der Autonomie verbunden: und dies vor dem Hintergrund der kulturellen Illusion von Autonomie. Die soziale und individuelle Bewertung folgt auf dem Fuß: versagt im Bemühen um Autonomie. Dann erscheint das Individuum nicht mehr in der Perspektive der Handlungsfähigkeit sondern der Behandlungsbedürftigkeit.

Diese erste Annäherung macht deutlich, dass Scheitern als graduelles Phänomen in handlungstheoretischer Begrifflichkeit erfasst werden kann, das absolute Scheitern hingegen führt über die Grenze handlungstheoretischen Denkens hinaus. Handlungstheoretisch lässt sich darüber nichts aussagen, denn die Implosion des Sozialen zieht das konzeptionelle Fundament handlungstheoretischen Denkens ein.

2.2.Das Scheitern in der soziologischen Theorie

Die Darstellung soziologischer Theorien und ihrer Konzeption des Scheiterns kann, bis auf zwei gleich zu skizzierende bedeutsame Ausnahmen, durch eine kurze summarische Feststellung ersetzt werden: Das Konzept des Scheiterns kommt in der soziologischen Theorie explizit nur selten und nicht an zentraler theoretischer Stelle vor. Scheitern ist konzeptionell unausgearbeitet, weil der Handlungsbegriff so weite Schatten wirft, dass Scheitern nur als ein negativer Abgrenzungsbegriff für Handeln fungiert (vgl. Dombrowsky 1983). Scheitern ist in den meisten Theorien kein Begriff, aber als Fluchtphänomen, als Grenzperspektive immer gegenwärtig.

Zwei Ausnahme sind allerdings zu erwähnen. In zwei Denkmodellen ist Scheitern expliziter Bestandteil der theoretischen Konzeption. Dies sind Poppers wissenschaftstheoretische Arbeiten zum Falsifikationismus und die Überlegungen von Schütze zu Verlaufskurven.

In Poppers Wissenschaftstheorie ist das Phänomen des Scheiterns integraler Bestandteil jedes Erkenntnisprozesses, denn Scheitern (des Erkenntnishandelns an der Erfahrung) ist die einzige Möglichkeit der kontrollierten Erkenntnisgewinnung (vgl. 1959). Wissenschaft im Sinne Poppers ist ein groß angelegtes Programm zur systematischen Erzeugung von Scheiternsmöglichkeiten, weil nur über das Scheitern die Entwicklung von Theorien möglich ist. Weil Verifikation (d. h. Nicht-Scheitern) nicht möglich ist, muss Falsifikation (d. h. Scheitern) in das Programm der Erkenntnisgewinnung aufgenommen werden. Wissenschaftstheoretisch gesprochen: Scheitern ist die notwendige Voraussetzung für systematisches Erkenntnishandeln. Auch hier ist Scheitern graduelles Scheitern, und ähnlich wie in der pragmatischen Tradition wird Scheitern im Begriff der Falsifikation zur Voraussetzung und Durchgangsstation weiteren Erkenntnishandelns.

Das Konzept der Verlaufskurve von Schütze bietet im Gegensatz zu allen bislang vorgestellten Möglichkeiten einen Zugang zum Weg in das absolute Scheitern, ohne jedoch die Struktur des absoluten Scheiterns aufzuklären. Verlaufskurven zwingen die davon Betroffenen, „auf mächtige Ereigniskaskaden zu reagieren, die nicht der eigenen Planungs-, Entfaltungs- und Kontrollkompetenz unterliegen. ...; die Kompetenz und die strukturelle Möglichkeit zu eigenem Handeln sind nach dem Einbruch der Verlaufskurve in das Leben des betroffenen Menschen zunächst abhandengekommen.“ (Schütze 1989: 31) Verlaufskurven sind dem Einzelnen unkontrollierbar, Handlungskompetenzen laufen leer, weil die Struktur der Verlaufskurve – eine Kaskade von Ereignissen zu sein – die Entfaltung von Handlungskompetenz verhindert. Kurz: Der Einzelne wird von den Ereignissen überschwemmt.

Insgesamt machte dieser kursorische und nur das im Kontext Bemerkenswerte auswählende Überblick über soziologische Theorieangebote im Hinblick auf das Phänomen Scheitern deutlich, dass mit der Differenzierung von graduellem und absolutem Scheitern auf eine zu entwickelnde Konzeption von Handlungsfähigkeit verwiesen ist, die auch den Grenzfall der Handlungsunfähigkeit umfasst.

2.3.Absolutes Scheitern als Entstrukturierung – Ein Vorschlag

Die Bestimmung des Weges in das absolute Scheitern wird von Schütze zwar nur als Negationen der Strukturen des Handelns wiedergegeben, aber sie bieten einen Zugang zum absoluten Scheitern. Denn sie legen den Gedanken nahe, die Frage nach den Strukturen des absoluten Scheiterns als Frage nach dem Strukturverlust, als Frage nach der Entstrukturierung der Voraussetzungen des Handelns durch die Unverfügbarkeit von Handlungsmöglichkeiten zu verstehen.

Unverfügbarkeit von Handlungsmöglichkeiten – das scheint mir das soziologische Gegenstück zu einer über die Anerkennung und Wirksamkeit des Konzept erfolgreichen Handelns aufgebauten Gesellschaft. Dieses Gegenstück verlangt nach individueller und sozialer Sinnarbeit. Die Soziologie ist an dieser Stelle überfordert, Sinnarbeit gehört nicht zu ihren unumstrittenen Aufgaben. Aber eine Theorie der Unverfügbarkeit ist notwendig. Solche Theorien liegen vor, aber nicht in der Soziologie, sondern in der Theologie und der Philosophie.

In soziologischer Absicht könnte eine Theorie der Unverfügbarkeit an der kulturellen Illusion der Autonomie ansetzen. Diese dominiert die Wissensordnungen der Orientierung des Handelns (vgl. Junge 2000; 2003b). Autonomie ist das zentrale Element, welches in allen handlungsanleitenden Wissensordnungen impliziert ist (vgl. Junge 2003a). Der Wert der Autonomie ist allen Konkretisierungen von Handlungsorientierungen vorgeordnet, sie stellen nur Spezifizierungen und Konkretisierungen dieses Wertes dar. Scheitern, die temporäre oder dauerhafte Unverfügbarkeit, betrifft die in der kulturellen Illusion der Autonomie unterstellte Verfügungsfähigkeit.

Wenn man absolutes Scheitern analytisch aufschlüsseln möchte, so bietet sich ein Rückgriff auf Luhmanns Differenzierung dreier Dimensionen von Sozialität an: die zeitliche, die sachliche und die soziale Dimension (vgl. 1984). Hierzu ist jedoch ergänzend eine vierte Dimension – die körperlich-räumliche Dimension – zu nennen. Diese fällt in einer systemtheoretischen Perspektive im Regelfalle heraus, weil Raum durch Zeit beschrieben werden kann, sie macht jedoch in der wissenssoziologischen und anthropologisch fundierten Annäherung an das absolute Scheitern eine eigenständige Größe aus.

 

Absolutes Scheitern bedeutet, dass sich die Struktur der Zeit für den Gescheiterten verändert. Zeit schrumpft im absoluten Scheitern zu einer absoluten Gegenwart ohne jede Ausdehnung in die Zukunft. Der Zukunftshorizont jeglichen Handelns geht verloren. Daraus kann eine Verstärkung der Bedeutung von Erinnerung an vergangenes Handeln resultieren. Der Zukunftsbezug des Handelns wird durch den Vergangenheitsbezug der Erinnerung ersetzt. Absolutes Scheitern verdichtet die Zeit auf eine horizontlose unendliche Gegenwart. Beispiele für Darstellungen der Konsequenzen finden sich in der Altersforschung (vgl. Wolf 1988, Backes/Clemens 2008) oder früh schon in der Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ von 1933 (Jahoda/Lazarsfeld/Zeisel 1933). In der psychologischen Forschung ist vor allem auf die Depressionsforschung zu verweisen (vgl. Beck 1974).

Im Hinblick auf die soziale Dimension ist vor allem das Verschwinden der Kontingenz zu bemerken. Handeln unterliegt den Bedingungen der Kontingenz und schöpft aus der Kontingenz seine Freiheitsgrade. Im absoluten Scheitern wird Kontingenz vollständig negiert und zurück bleibt Notwendigkeit. Eine Differenzierung zwischen Person und Situation kann unter diesen Bedingungen nicht mehr erfolgen, denn die Differenz von Situation und Person wird durch Kontingenz aufgebaut. Mit dem Verschwinden der Kontingenz gibt es keine Möglichkeit mehr, sich als Person reflexiv von einer Situation zu unterscheiden. Beispiele hierfür lassen sich in Erfahrungen von Schock und Traumata finden. Dort wird übereinstimmend betont, dass es gerade das Ineinanderfließen von Person und der das Trauma auslösenden Situation ist, die die Traumabewältigung so schwierig macht (vgl. Ursano/Fullerton/McCaughey 1994).

In Bezug auf die Sachdimension ist darauf hinzuweisen, dass die Veränderung in der zeitlichen Orientierung, die Hinwendung zur Erinnerung zugleich auch eine Exklusion von Sinn für die Individuen erzeugt. Tendenziell erzeugt absolutes Scheitern eine Privatsprache (vgl. Wittgenstein 1984), aus der heraus kommunikative Anschlüsse an das sinnhafte Geschehen in der Gesellschaft nicht mehr möglich sind. Ein Beispiel aus der Literatur kann verdeutlichen, was hier gemeint ist. In einer Kurzgeschichte, deren Titel ich leider vergessen habe, von Günter Kunert wird ein Mann geschildert, der zur Bewältigung seiner Langeweile anfängt, alle Gegenstände seiner Umgebung neu zu benennen. Aus dem Bett wird der Tisch, der Tisch wird zur Hose, die Hose zum Stuhl, der Stuhl zur Tasse und so fort. Dem Mann gelingt es, sich zu beschäftigen und damit die Langeweile zu vertreiben. Aber der Preis ist hoch. Nach Abschluss der Arbeiten an der Umbenennung versteht ihn niemand mehr. Er hat sich vom sozialen Sinn ausgeschlossen, exkludiert. Anders formuliert, er hat sich in seiner eigenen Sinnwelt eingeschlossen.

Im Zuge absoluten Scheiterns ändert sich auch die Körpererfahrung und Raumerfahrung. Der Körper erhält absolute Bedeutung, denn der eigene Körper ist der verbleibende soziale Raum. Erfolgsorientiertes Handeln setzt immer einen sozialen Raum voraus, in den ein Körper gestaltend eingreift. Der soziale Raum im absoluten Scheitern reduziert sich auf den Körperraum und damit auf die körperliche und leibliche Konstitutionsbasis des Menschen. Darauf resultieren gravierende Konsequenzen in Hinblick auf die Fähigkeit, Freiheit durch Kontingenz der Bewegung im Raum realisieren zu können.

Dieser Gedanke kann am Beispiel der Zeitgeografie, so wie sie Anthony Giddens vorgestellt hat (vgl. 1988), deutlich gemacht werden. Diese rekonstruiert Tages- oder auch Lebensverläufe von Menschen als Bewegung im Raum. Zeitgeografisch formuliert ist absolutes Scheitern die Zurückführung der Bewegung im Raum auf ein Minimum, die letztlich Bewegung nur noch als Bewegung im eigenen Körper erscheinen lässt und eine Inversion der Raumwahrnehmung der absolut Scheiternden erzeugt.

Insgesamt ist vor dieser Folie absolutes Scheitern als eine Grenzerfahrung zu bezeichnen – als Entstrukturierung der Handlungsvoraussetzungen.

2.4. Ansatzpunkte der Scheiternsbewältigung

Fasst man die bislang ausgeführten Überlegungen zusammen, so ist eine Schlussfolgerung wichtig: Weil Scheitern eine Normalerfahrung jeden Lebens ist, sollte Scheiternsbewältigung den Focus der Auseinandersetzung sowohl in lebenspraktischer wie auch in theoretischer Hinsicht darstellen.

Es ist die Bewältigung, es ist der Überschritt vom Scheitern zu einem neuen Anlauf hin, der den Mittelpunkt des Interesses bilden sollte. Das ist eine normative Formulierung und sie ist bewusst gewählt, weil wir uns ohne diesen normativen Fixpunkt nur auf der Ebene einer grundlagentheoretischen Rekonstruktion der Mängelhaftigkeit einer grundbegrifflichen Entscheidung der Soziologie bewegen würden. Interessanter im gegebenen Kontext ist die Frage: Was kann getan werden, wenn dieser unglückselige Fall eingetreten ist?

Ich sehe vier Ansatzpunkte der Bewältigung. Sie lassen sich vor der Folie des absoluten Scheiterns entwickeln. Diese eben skizzierte Grenzfigur einer handlungstheoretischen Diskussion des Scheiterns hilft aufzuzeigen, welche Schritte eine Bewältigung des Scheiterns zu erfordern scheint.

Scheitern führt zum Zusammenbruch der Zeitstruktur in der Wahrnehmung, Scheitern ist – paradox gesprochen – ein unendlich ausgedehnter Moment, ein Moment, in dem der Zeithorizont des Handelns zerstört zu werden droht. Wichtig ist es deshalb, Strategien zu finden, wie dieser zeitliche Horizont wieder gewonnen werden kann. Je nach Ausmaß des Scheiterns ist dies ein schwieriger und langwieriger Weg. Ein gutes Beispiel geben die Schwierigkeiten von Schuldnerberatern im Umgang mit insolventen Klienten. Der Abbau der Überschuldungslast ist eine große Herausforderung, aber nochmals größer sind die Schwierigkeiten zur Motivation für diesen langen Weg. Das Ziel der Schuldenfreiheit liegt in weiter Zukunft, die Dringlichkeit der Gegenwart hingegen ist unmittelbar spürbar und behindert zumeist die Perspektive in die erwünschte Zukunft. Diesen Horizont wieder zu gewinnen ist unverzichtbar für eine erfolgreiche Bewältigung der Überschuldung.

Das gleiche gilt für die nächste Dimension. Im Scheitern schrumpft der soziale Raum im Prinzip auf ein Nichts zusammen. Es scheint keinen Ansatzpunkt für Handeln mehr zu geben. Also müssen Möglichkeiten gefunden werden, den sozialen Möglichkeitssinn wieder aufzubauen. Oder zu verlernen, was lange Phasen des Scheiterns zu erlernen halfen: sich einzurichten im Scheitern. So etwa im Falle des Scheiterns von Paarbeziehungen. Der wichtigste Schritt scheint darin zu bestehen, Kontakte wieder aufzunehmen, neue aufzubauen und sich darin wieder einzurichten. Das Scheitern von Paarbeziehungen ist tragisch, weil ihm eine mehr oder weniger lange gemeinsame Geschichte zum Opfer fällt. Bedeutsamer ist aber, sich nun eine neue Geschichte, neue Kontakte und neue soziale Zusammenhänge aufzubauen, um nicht in der sozialen Isolation vollends geschichtslos zu werden.

Das fällt und hängt zusammen mit der dritten Dimension, es muss auch ein sachlicher Ansatzpunkt der Bewältigung gefunden werden. Sachlich bedeutet vor allem, dass die kommunikative Kompetenz dessen, der gescheitert ist, wieder aktiviert werden kann. Soziale Kontakte sind wieder aufzubauen. Das ist, je nach Kontext in dem gescheitert wurde, eine unterschiedliche Aufgabe. Das kann heißen, „vernachlässigte“ Geschäftspartner wieder zu besuchen, Freundschaften wieder mit Leben zu erfüllen, Verwandtschaftsbeziehungen wieder aufleben zu lassen, sich dem eingeschlafenen Beziehungsleben in einem Verein erneut zuzuwenden usw. Entscheidend ist, soziale Kontakte stabilisieren jeden Versuch, ein Scheitern zu bewältigen, indem sie, egal ob hilfreich, kommentierend oder ablehnend oder irritierend reagierend eine Form der Unterstützung bereitstellen, die häufig gerade darin besteht, dass man taktvoll oder einfach unsicher gar nicht zur Kenntnis nimmt, dass jemand gescheitert war.

Und dann gibt es die vierte Dimension. Wer gescheitert ist, muss sich in einer vierten Dimension, nämlich der körperlichen erneut aktivieren. Er muss den sozialen Raum zurück gewinnen, den sozialen Raum wieder mit seinem Körper füllen. Der soziale Raum lebt auch von der Leiblichkeit der Menschen. Den sozialen Raum zu betreten, einen Platz mit seinem Körper zu besetzen, sich dort zu manifestieren, anzuzeigen, dass dort jemand ist – all das ist ein Moment der Bewältigung. Denn Scheitern ist zumeist verbunden mit wachsender „Unsichtbarkeit“ ausgelöst durch Rückzug aus den Kontexten des bisherigen Lebens. Wieder in Erscheinung Treten beendet die Unsichtbarkeit, macht das jeweilige Leben wieder sichtbar und ansprechbar. Nur wer den sozialen Raum betritt hat Chancen wieder als Element dieses Raumes erkannt und anerkannt zu werden.

Abbildung: Dimensionen des Scheiterns und Formen der Scheiternsbewältigung


Das sind soziologische Kriterien, wie Scheitern bewältigt werden kann. Es sind Ansatzpunkte, an denen gearbeitet werden kann. Bemerken möchte ich hierzu vor allem, dass alle Strategien der Scheiternsbewältigung davon ausgehen, dass ein ursprünglich gegebenes Vermögen nur wieder angesprochen werden muss, daran angeknüpft werden kann.

Innerhalb der Ansatzpunkte können wir nun zwischen verschiedenen Bewältigungsstrategien wählen. Vorab: Einen gesellschaftlich sehr erfolgreichen Weg der umfassenden Bewältigung des Scheiterns in allen vier Dimensionen zugleich stellt der 1993 in Berlin gegründete und mittlerweile 880 Tafeln und etwa 50 000 Ehrenamtliche erfassende Bundesverband Deutsche Tafeln e. V. dar. Die Tafeln erfassen vor allem Obdachlose, Arbeitslose, Geringverdiener, Alleinerziehende und Rentner und bieten Anhaltspunkte zur aktiven Scheiternsbewältigung durch die Beseitigung eines fundamentalen Mangels – an ausreichender Ernährung.

Sieht man von diesem außergewöhnlichen Beispiel ab, so können einerseits eine handelnde und andererseits eine kognitive Bewältigungsstrategie unterschieden werden. Kognitive Strategien der Bewältigung sind die typischen psychologischen Strategien, wie sie in der coping-Forschung nahe gelegt werden. Für die soziale Dimension des Bewältigens aber steht die handelnde Bewältigung im Vordergrund. Handelnde Problembewältigung kann auf einfache Weise dichotomisiert werden. Denn es können eine problemorientierte Bewältigung und eine selbstorientierte Bewältigung voneinander unterschieden werden.

Die problemorientierte Bewältigung analysiert, durchdenkt, betrachtet den Vorgang des Scheiterns, um daraus Konsequenzen zu ziehen, um eine mögliche Wiederholung des Scheiterns zu vermeiden. Das Problem wird analysiert, Ursachen werden diagnostiziert, Konsequenzen werden gezogen. Das ist eine typische instrumentelle Umgangsweise mit dem Problem der Bewältigung des Scheiterns. Das ist eine uns als Handlungsstrategie in ökonomisierten Zusammenhängen gut bekannte Form der Problembewältigung. Man mag eine Ökonomisierung sozialer Sachverhalte beklagen, als rettender Anker ist gerade instrumentelle Rationalität eine effektive Formen der Bewältigung.

Und die selbstorientierten Bewältigungsstrategien versuchen, durch Veränderungen von Wahrnehmungsstrukturen, Persönlichkeitsstrukturen, Überarbeitung von Charaktereigenschaften oder durch Veränderungen der Selbstbeschreibung u. ä. eine Wiederholung des Scheiterns in dieser Konstellation und Verfassung zu vermeiden. Auch diese Strategien sind erfolgreich. Man denke etwa an die eigentümlichen „Motivationstechniken“, die sich um das Wort chaka herum gebildet haben, gleichermaßen aber auch an die Erfolge neurolinguistischer Programmierung, jedwede Form der Therapie, Beratung oder Selbsterfahrung. Gemeinsam ist diesen Wegen eine Art „Umschreibung“ des Selbst, die zu neuen Handlungschancen führt.

Gemeinsam ist beiden Bewältigungsstrategien, dass sie in die Üblichkeiten der kulturellen und sozialen Autonomiefiktion, der Idee der Handlungsfähigkeit und Handlungsbereitschaft zurückführen und diese anerkennen. Bewältigungsstrategien mit anderen Ergebnissen sind vorstellbar, sie würden jedoch gesellschaftlich als Wahrnehmung einer endgültigen Exit-Option bewertet und nicht mehr als „akzeptable“ Bewältigung angesehen.

 
To koniec darmowego fragmentu. Czy chcesz czytać dalej?