Religion und Bildung in Kirche und Gesellschaft

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Die Wartburger Reformatorin Elisabeth

Von der Heiligen Elisabeth war die Rede. (vgl. Fuchs 2009) Warum als Reformatorin der Diakonie? Der Historiker Otto Gerhard Oexle schreibt zu diesem neuen Typus: „Der Vorwurf […] der Geistesgestörtheit, dem Elisabeth sich ausgesetzt sah, weist darauf hin, dass sie einem neuen Typus exemplarischen Lebens zuzuordnen ist, der erst um 1200 in Erscheinung trat und auch erst zu diesem Zeitpunkt in Erscheinung treten konnte: es ist jener Mensch, der sich aus religiösen Gründen zum ‚Idioten’ (Idiota) macht, wobei in diesem Wort sowohl die Unwissenheit und der Verzicht auf geistiges sich Geltendmachen gemeint ist als auch überhaupt der Verzicht auf gesellschaftlichen Rang“ (Oexele 1993, 80f).

Elisabeth von Thüringen (1207-1231) ist eine Heilige, nicht, weil die anderen Gläubigen Unheilige wären, sondern weil sie es mit ihrer Heiligkeit auf die Spitze getrieben hat.2 Sie ist ein Extremfall christlicher Existenz: „sie ist die Übertreibung des Menschen Elisabeth, ist Elisabeth im Extrem, ausgeschöpft und gewagt bis in ihre letzten Wesensmöglichkeiten“. Die Heilige ist sozusagen „die höchste Steigerung des Menschen Elisabeth“ (Coudenhove 71933, 5). Während die im entlastenden Sinn des Wortes mittelmäßige, jedenfalls nicht sehr auffällige christliche Existenz die schärferen biblischen Sätze mit dem Satz „Gott verlangt das doch nicht!“ in die eigene Situation hinein holt und darin entschärft, lebt Elisabeth christliches Leben in einer Überspanntheit, die weit über verpflichtende Normen hinausgeht und auch nie als allgemeingültige Norm eingefordert werden kann. (vgl. Coudenhove 71933, Gespräch 55)

Elisabeths diesbezügliche Verrücktheit, möglichst viel, zuweilen alles zu schenken, die eigenen Häuser und Betten zu öffnen für die Kranken und Aussätzigen, wird von ihrer Umgebung als Insanitas wahrgenommen. Nur ihr eigener Gatte scheint sie mit einer staunenden Bewunderung ihren Weg gehen zu lassen und sie nicht allzu sehr darin begrenzen zu wollen. Aber dann schon nach seinem Tod Landgraf Heinrich Raspe, der sie in die normale Witwenschaft und neue Heirat hineinordnen will, und vor allem ihr dunkler Schatten, dieser Konrad von Marburg, der hinsichtlich der Elisabeth gegenüber die gesunde Vernunft vertritt und diese mit den damals erprobten Regeln von Bußen und Strafen erzwingen will.3 Doch wird sie nicht krank durch Konrads Brutalität, sondern genau dadurch, dass ihr Konrad befiehlt, die zärtlichen Dienste an den Kranken zu lassen: „wie ein Mensch zusammenbrechen mag, der seine Liebsten vor seinen Augen in Schmerzen sieht und darf sie nicht pflegen und trösten“ (Coudenhove 71933, Gespräch 83).

Konrad will, dass sie sich nicht ansteckt, Konrad will, dass sie ihr Vermögen behält, um dauerhaft geben zu können; ihr spiritueller Lehrer kann nicht spirituell verstehen, was bei Elisabeth eine diesbezüglich rücksichtsvolle Verschwendung4 ausmacht: mit vollen Händen zu geben, im Bewusstsein, ja sicher in der Einbildung unerschöpflicher Fülle. Und dies nicht aus Pflicht, die von außen auferlegt wäre, sondern aus einer viel tiefer liegenden Dynamik heraus. Unheimlich ist diese treibende Kraft, die sich solcher die Mittel dosierenden Verteilung der Selbsthingabe entgegenstellt. Konrad jagte ihr gute Vorsätze gegen die unbegrenzte Verschwendung ein, und Elisabeth hat sie immer wieder gebrochen. Ihr Drang zur leiblichen Barmherzigkeit, oder besser zur barmherzigen Leiblichkeit (im Sinne der Leibsorge für die Anderen, aber auch der Leibhingabe von sich her) war stärker. Und sie hat Freude daran, wo immer sie die Vernunftgebote unterlaufen oder übertreten konnte.

Eine Nächstenliebe über die Liebe hinaus, die vital (in Freundschaft, in der Liebe, Kindern gegenüber usw.) geschenkt ist, ist etwas „so Schweres und so gar nicht Selbstverständliches, dass sehr viele nie über klägliche Versuche hinauskommen“ (Coudenhove 71933, Gespräch 76). Und so ist es dann ein Stück der Selbstzucht, der Askese, auch der Pflichterfüllung, über die geschenkte Liebe hinaus Liebe zu geben, gütig zu sein, wo sich diese Güte nicht vital einstellt, Hilfe und Gerechtigkeit nicht von der Empathiefähigkeit abhängig zu machen, so wichtig diese bleibt. Woher gewinnt Elisabeth die Empathiefähigkeit zu einer Liebe völlig fremden bedrängten Menschen gegenüber, als wäre in ihnen ihr eigener Gatte und ihre eigenen Kinder gegenwärtig?

Elisabeth ist fähig zu einer vitalen erotischen und heißen Liebe. Die Geschichten, die ihre Beziehung zu ihrem Mann betreffen, machen dies sehr deutlich. Es ist eine sinnliche, bis in die leibliche Zärtlichkeit hineingehende Liebe. (vgl. Coudenhove 71933, Gespräch 16) Eine kleine Erzählung macht aber schon die Spannung und die Transformationsfähigkeit genau dieser Liebe deutlich: „Wie einst ihr Blick während der hl. Messe auf den festlich geschmückten Gatten fällt und sie lässt sich so innig in die Schönheit und Süße des geliebten Anblicks versinken, dass sie ganz auf das hl. Opfer vergisst […] Wie sie aber vom Glockenzeichen aufgeschreckt den Blick wieder zum Altar wendet, sieht sie die Hostie bluten […] Und es heißt, dass sie lang und wie trostlos über dieses Zeichen geweint hat und Ludwig sie kaum zu beruhigen vermochte“ (Coudenhove 71933, Gespräch 18). Die Alternativen, die hier eröffnet werden, sind nicht die Alternative zwischen Böse und Gut. Denn niemals käme ihr in den Sinn, ihre Liebe zu Ludwig als etwas Böses anzusehen. Es ist vielmehr die Alternative zwischen dem kleinen und dem höchsten Gut. Es „ist nicht der Kampf zwischen Licht und Finsternis, sondern zwischen dem Lichtlein und der Sonne, nicht zwischen Natur und Verderbtheit, sondern zwischen Natur und Übernatur, nicht zwischen Mensch und Teufel, sondern zwischen Mensch und Gott“ (Coudenhove 71933, Gespräch 20).

Diese Transformation beginnt nicht erst mit dem Tod Ludwigs, sondern bereits parallel mit dieser Liebe. So legt sie, als Ludwig auf einem seiner Waffengänge weg ist, einen Aussätzigen in das Bett ihres Gatten, berührt und pflegt ihn. Hier verdichtet sich genau dieser Zusammenhang: in das gleiche Bett, wo sie die Liebe mit ihrem Gatten lebt, legt sie den Aussätzigen und zeigt darin, dass zwar mit anderer, aber mit gleicher Liebesintensität dieser im Mittelpunkt ihrer leiblichen Hingabe steht. Alban Stolz erzählt die Legende so, dass der heimkehrende Landgraf, als er den Vorhang vom Bett zurückzieht, tatsächlich den Gekreuzigten in seinem Bett sieht. Im Wunder kommt der geglaubte „Hintergrund“ zum Vorschein. (vgl. Stolz 1923, 69) Nicht Unwertes wird hier also geopfert, und es wird nicht unlustig und ohne Freude geopfert, sondern aus Liebe. Sie stellt die herrschende Askese vom Kopf auf die Füße: sie schenkt nicht, um sich weh zu tun, sondern sie schenkt, um die anderen zu beglücken, „und der Schmerz, der nicht ausbleibt, ist […] höchstens der Preis des köstlichen Schenkendürfens, um den sie nicht feilscht und jammert und auf den sie auch nicht stolz ist“ (Coudenhove 71933, Gespräch 50).

Der Tod ihres Gatten ist für sie fast unüberwindbar. Gleichwohl hat sie schon mit ihm die Zeit danach vorbereitet. Denn jetzt schreitet sie stufenweise in jene leibliche und insgesamt überschwängliche Liebe hinein, die allen Leidenden gilt. Selbstverständlich ekelt auch sie sich vor den Geschwüren der Kranken, aber sie berührt sie, sie pflegt sie, die Legende sagt sogar, dass sie sie küsst. Ob hier das entsprechende Erzählschema von Franz von Assisi gestaltgebend ist, oder ob dahinter tatsächliches Handeln steht, muss nicht ausgemacht werden. Nun endgültig getrennt von ihrem Gatten, trennt sie sich auch von den Kindern, was allerdings im damaligen Kontext nicht gerade jene Herzlosigkeit sein muss, die wir heute damit verbinden mögen. (vgl. Maresch 1932, 158f) Kinder, die in der feudalen Herrschaftsklasse aufwuchsen, wurden einer Amme und anderen zur Erziehung übergeben.

Doch zeigt sich insgesamt in solchen nicht von ungefähr nochmals unterstrichenen Bemerkungen dieses Zusammenhangs der Hintergrund einer Transformation, die wohl folgendermaßen gelesen werden darf: Elisabeth tut wirklich etwas, was wörtlich von Jesus gesagt wurde, nämlich um seinetwillen die Eigenen zu verlassen (was ja normalerweise „nicht ernst gemeint sein kann“). Sie aber übersetzt diesen Satz Jesu eins zu eins in ihr Leben hinein. Und dies auch nicht nur auf dem Hintergrund des Vorbildes Jesu, sondern in einer intensiven Beziehung mit ihm. Sie umarmt den Schmerz der anderen, weil Christus ihn gelitten hat. (vgl. Coudenhove 71933, Gespräch 68)

Sie will sein armes und gehetztes Wanderleben miterleben, in seliger Weise bei ihm sein und mit ihm sein. (vgl. Coudenhove 71933, Gespräch 69f)

Die körperliche Liebkosung gilt nun nicht mehr dem schönen Leib ihres Gatten, sondern dem geschundenen Leib des fremden Leidenden. Die Erotik bekommt ein negatives Vorzeichen: wenn darunter körperliche Anziehungskraft zu verstehen ist, dann gewinnt nun der verfallende Köper eine geradezu vitale Anziehungskraft für Elisabeth. Alban Stolz scheint in seiner eindrucksvollen Biographie der heiligen Elisabeth diese liebkosende Leiblichkeit am ekelhaften Körper nicht aushalten zu können, indem er schreibt: „Desgleichen ging auch Elisabeth, gleichsam als wäre sie nur noch eine Seele ohne Fleisch und Blut, zu den abscheulichsten Kranken und berührte sie ohne Scheu, wie man ein hübsches Kind berührt“ (Stolz 1923, 68). Der Autor muss offensichtlich den Leib erst vergeistigen, bevor er zu so etwas fähig wird.

Diese leibliche Spiritualität entspricht der Wirklichkeit aus Mt 25,40: „Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“. Diesen Satz hat sie durch und durch substantiell, real präsentisch verstanden: in jedem Leidenden, in jedem Aussätzigen, in jedem Armen begegnet sie in der Tat Christus leiblich. Hier wird nicht etwa der Mensch geliebt, um Gott zu gefallen, sondern beides fällt ineinander. Gott wird im Anderen geliebt. Die Menschenliebe wird also nicht für die Gottesliebe instrumentalisiert, in einer Entwertung der menschlichen Person, in einem „Herabsinken zur zufälligen Begleiterscheinung des Dienstes an Gott“ (Coudenhove 71933, Gespräch 80).

 

Coudenhove hat hier ein schönes Bild: nämlich wenn ein Freund einen anderen Freund schickt, der ihm lieb ist, um bei seinem Schützling ihn selbst zu vertreten. Wenn also dem Fernen die eigenen Hände geliehen werden. „So steht die Heilige zu allen Menschen, die ihr von Gott ans Herz gelegt sind, und dass sie seine Liebe an ihnen vertrete: ‚Liebet einander, wie ich Euch geliebt habe.’ Wie Du den Freund im Namen des Freundes, zu dem Ihr beide gehört, mit offenem Herzen und voll Vertrauen empfängst, voll froher Spannung auf die Botschaft dessen, von dem er kommt, so nimmt sie jeden auf, ‚im Namen Gottes’: sieh, wie das kühle Wort lebendig wird! – sie sieht die Menschen nicht mehr von außen, wie wir; was uns so selten geschenkt wird, in der Gnade der Freundschaft: eines Menschen Bild von Gott her zu sehen, den Namen zu hören, mit dem Gott ihn ruft: das ist ihr wunderbares Geheimnis. Sie sieht wahrhaftig durch die Augen Gottes, oder Gott sieht durch ihre Augen […] und es gibt keinen Fremden und Fernen mehr, denn Gott sieht keinen fremd und fern. Es gibt nur mehr den Nächsten und er ist wahrhaftig: der Nächste, und der erste beste ist wirklich der erste und beste“ (Coudenhove 71933, Gespräch 81f).

Elisabeth zeigt sich in ihrer Liebe durch ihr ganzes kurzes Leben hindurch immer ganz, immer körpernah und immer mit einem Hauch an Unendlichkeit, die diese Dynamik niemals abschließen kann. Eigentlich stellt sich hier nicht Liebe gegen Liebe, etwa Armenliebe gegen die Gattenliebe und Kinderliebe. Sondern diese vitalen Bereiche der Liebe „erster Ordnung“ werden zum Erfahrungsort, um die gleiche Vitalität und Unendlichkeit auch in die Liebe „zweiter Ordnung“ den Kranken und Armen gegenüber zu übertragen, ohne dabei an Vitalität zu verlieren. Es ist die gleiche Quelle.

Noch etwas anderes Entscheidendes fällt bei Elisabeth auf: nämlich ihre unmittelbare Fähigkeit zur Doxologie, zum Lob Gottes, zum Tedeum: und zwar aus unserer Perspektive geradezu kontrafaktisch zu dem, was sie erlebt, zum Beispiel in der Nacht der Vertreibung von der Wartburg.5 In den Quellen wird es spürbar: wie sie fast in kindlicher Weise sich darüber freut, denen ein Schnippchen geschlagen zu haben, die ihre Armen- und Krankenliebe auf ein gesundes Mittelmaß reduzieren wollen.

Immer wieder ist in den Quellen von Jubel und Freude die Rede, aber auch mit gleicher Tiefe von uferlosem Schmerz vor allem bei der Todesbotschaft ihres Gatten. Aber selbst da kann sie den Willen des Vaters preisen: „Herr, Du weißt es wohl: könnte es mit Deinem heiligen göttlichen Willen geschehen, so wäre mir sein Leben und seine liebliche fröhliche Gegenwart und sein Angesicht lieber als Freude und Ehre dieser Welt, so wollte ich gerne alle Tage mit ihm betteln gehen. Aber wider Deinen Willen, liebster Herr, wollte ich ihn nicht wieder zum Leben bringen, wenn ich’s um den Preis eines Haares tun könnte“ (Coudenhove 71933, Gespräch 59-60). Das ist es, was in ihr aufscheint: nämlich Gott größer sein zu lassen als das eigene Elend (vgl. Fuchs 2008b), und dabei leiblich vor Freude zu „glucksen“, wie es Franz von Assisi zu tun vermag.

Bei Elisabeth wird erfahrbar, „[d]ass die ‚Unmöglichkeit christlichen Daseins’ eben durch die vollkommene Verwirklichung christlichen Daseins bezeugt wird. […] Die Kategorien der Vernunft und die Bedingungen des gesellschaftlichen Wohlverhaltens werden brüskiert; die ‚Ordnung’ des irdischen Lebens wird ‚gefährdet’, ja sie wird belanglos unter dem Gebot einer bedingungslose Hingabe an Gott. Das Dasein der Heiligen ist zwecklos in der Welt; die beunruhigte Nach- und Mitwelt jedoch sucht es wiederum irdischen Zwecken der Belehrung, der Sinnstiftung, der Lebenshilfe und Erbauung nutzbar zu machen“ (Schneider 1997, 88).

Johannes Ciudad in Granada

Drei Jahre nach jenem folgenschweren Geschichtsdatum 1492 wird Johannes Ciudad Duarte (vgl. Fuchs 1994) in der portugiesischen Gemeinde Montemor-o-Novo in der Provinz Alemtejo geboren. Seine Eltern haben ein Obstgeschäft. Aus welchen Gründen auch immer: mit acht Jahren läuft er von zu Hause davon, findet eine Pflegefamilie in Oropesa in Spanien, die ihn als Findelkind „von Gott“ (wie Findlinge damals genannt wurden) aufnimmt und wo er als Schafhirte arbeitet. 1532, also mit 37 Jahren, verdingt er sich als Soldat im Feldzug Kaiser Karls V. gegen die Türken und gelangt dabei bis nach Österreich und Ungarn. Danach (1534) kommt er in das spanische Ceuta an der Küste Nordafrikas. Er arbeitet als Tagelöhner in der Bauarbeit der Festung dieser Stadt.

Später findet man Johannes als Schriftenverkäufer in Gibraltar. 1538 kommt er im Alter von 43 Jahren nach Granada. Die Legende erzählt: Dem fahrenden Buchhändler Johannes Ciudad Duarte hat eines Tages ein Kind einen Granatapfel überreicht und gesagt: „Johannes, Granada wird Dein Kreuz sein“. Granada wird für ihn zu einem gewissen beruflichen Aufstieg: hier wird er sesshaft mit einem kleinen Strassenladen, wo er Bücher und Kleinschriften verkauft. Aber er bleibt nicht bei den Drucksachen, Schriften und Buchstaben stehen. Der nächste Schritt steht noch aus.

Dort geschieht nun auch das, was später seine „radikale Umkehr“ genannt wird. Es sind diese beiden Augenblicke: Johannes kann in der Gasse, wo er wohnt, an einem dort liegenden kranken Bettler nicht mehr einfach vorübergehen; und: er hört eine Predigt des Johannes von Avila und spürt plötzlich, dass es so wie bisher mit ihm nicht weitergeht. Johannes von Avila predigt in der Märtyrerkapelle, insbesondere darüber, wie bei den Märtyrern Wort und Leben zusammenfallen und sie dadurch zum Beispiel werden.

Johannes weiß sich im Anschluss an die Predigt des Johannes von Avila zutiefst als Sünder, ja als einer, der bisher nichts anderes als Schuld auf sich geladen hat. Er ist außer sich, er weiß gar nicht, wie ihm geschieht. Er wälzt sich zu Boden, schreit, wirft seine Bücher auf die Strasse und das Geld hinterher. Gerade in diesem Zustand erfährt er von Gott jene bedingungslose Barmherzigkeit, die er später den Kranken zukommen lässt. In der Theologie des zur gleichen Zeit im nördlichen Europa wirkenden Reformators: Johannes erfährt sich als „simul peccator et justus“ (Sünder und von Gott zugleich gerechtfertigt), um im Durchgang durch die Krise den Glauben daran zu lernen, dass er jederzeit „simul justus et peccator“ ist, mit all den Implikationen der unbedingten Liebe allen Menschen gegenüber, die dieser Transzendenzerfahrung entspringen und entsprechen. Dies ist eine ausschlaggebende Scharnierstelle zwischen „vorher“ und „nachher“: die voraussetzungslose Liebe Gottes, die die Sünderin und den Sünder annimmt und für ein neues Leben freisetzt.

Johannes wird in das Jahrhundert der großen Abenteuer hineingeboren. Im letzten Jahrzehnt des fünfzehnten Jahrhunderts erfolgen die fatalen „Entdeckungen“ neuer Welten: verhängnisvoll nicht nur für die letzteren, sondern auch mit der Wirkung mannigfacher Turbulenzen für die „alte Welt“. Mit der gleichen vernichtenden Intoleranz, mit der die neuen Länder um ihr Gold und ihre Kulturen gebracht wurden, werden in der Reconquista auf der iberischen Halbinsel die Muslime und ihre Kultur zwangsintegriert oder vertrieben. 1492 fällt ihr letztes Bollwerk: Granada! Beides geschah im Namen des Glaubens: Die Conquista gegen das Heidentum und die Reconquista gegen den Islam. Signifikanterweise kommen beide Strategien in Granada zusammen, nämlich durch die Tatsache, dass Columbus in der Kathedrale von Granada bestattet wurde.

Just hier, in Granada, wo die geschichtlichen „main-streams“ bedeutsam genug zusammentreffen, wird ein demgegenüber viel kleineres, aber um so alternativeres Rinnsal entspringen, aus einer ganz anderen Quelle, nämlich aus der Quelle der Barmherzigkeit allen Menschen gegenüber, seien es die Christen oder die Muslime, aus der Liebe vor allem denen gegenüber, die krank sind und Not leiden. Eine Gegenbewegung also zu der Gewalttätigkeit und Ungerechtigkeit der geschichtlichen „Hauptströme“, die Krankheit und Not produzierten. Zwei völlig entgegengesetzte Weisen, wie der christliche Glaube „funktioniert“: als Solidaritätsmotiv für alle Menschen oder als Mordmotiv gegen die Ungläubigen, weil es doch besser sei, die Ungläubigen zum Glauben zu zwingen als sie der Hölle zu überantworten. In solcher „Höllendiakonie“ ist jede Grausamkeit erlaubt, mit den unseligsten Folgen einer Ideologie, in der die Glaubensgrenzen die Heilsgrenzen sind.

Über den Haupteingang des Torbogens, hinter dem Johannes die ersten Kranken pflegt, lautet eine Inschrift: „Das Herz befehle!“. Hier kommt zum Ausdruck, dass die unmittelbare Barmherzigkeit leidenden Menschen gegenüber der praktische und hermeneutische Ausgangsort für alle Begegnungen und Verstehensmöglichkeiten darstellt. (vgl. Lk 7,13) Dass das Herz befiehlt, meint hier keinen entfremdenden Befehl von außen, sondern benutzt diesen gesetzlichen Begriff des Befehlens und pflanzt ihn in die ungesetzliche Reaktion der Liebe hinein, gleichsam um in diesem sprachlichen Paradox jene Unbedingtheit und nicht mehr Wegdiskutierbarkeit, jene Urevidenz auszudrücken, die die Kraft der Barmherzigkeit in uns haben kann oder könnte, wenn sie nicht durch so viele defensive Reaktionen und Sicherheitsstrategien verschüttet wäre.

Johannes zeigt deutlich: Wer einmal diese unmittelbare Kraft der Barmherzigkeit in seinem Innersten entdeckt hat und zum Leben hat kommen lassen, der kann nicht mehr anders, als dementsprechend das Handeln und Denken zu gestalten. Ein anderes Wort des Heiligen bringt die Verbindung eines solchen Herzens mit Christus: „Ich vertraue allein auf Jesus Christus, denn er kennt mein Herz“. Walter Nigg schreibt einfühlsam: „das Herz bildet den ersten Personenkern; es ist das wahre Selbst und es ist das Organ, das Gott spürt“ (Nigg 1985, 29). In diesem Zentrum seiner selbst lässt sich Johannes vom Leiden Christi und vom Leid der Menschen „stigmatisieren“.6

Im Bekehrungsprozess erfährt Johannes hautnah die Leiden einer anderen Menschengruppe: die der psychisch Kranken. Die Umkehr kann für Johannes nicht gründlicher und krisenhafter sein. Nicht von ungefähr verwenden manche Biographen das Bild des pfingstlichen Feuers, eines wilden Feuers, das ihn „bis ins Innerste durchglüht, gehämmert, und neu geformt“ hat.7 Die Unruhe seines bisherigen Lebens, die immer wieder neue Abenteuer gesucht hat, bricht nun geballt aus ihn heraus und zerbricht ihn gleichzeitig. In dieser Situation des Irr-Sinnes ist Johannes allein, unverstanden und isoliert, wie er auch später zumindest anfangs in der Verwirklichung seines neuen Sinnes allein sein wird.

Die Leute von Granada reagieren entsprechend, nicht bösartig, sondern eben, wie sie es gewohnt sind bei solchen Tobsüchtigen. Sie bringen ihn in das königliche Spital und dort in die Abteilung für die Geisteskranken. Dadurch wird er vor sich selber, aber auch vor dem Pöbel beschützt, der ihn verschimpft und verlacht.

Johannes kommt in direkten Kontakt mit denen, für die er später da sein wird, aber zuerst einmal als Mitbetroffener selbst. Und er erfährt am eigenen Leib, wie mit Geisteskranken umgegangen wird: in großen Räumen zusammengepfercht, ohne Rücksicht auf die Verschiedenheit der Krankheiten, in Akutzuständen gefesselt und in Zellen gesperrt, geschlagen, mit Schreckensbildern, Teufelsaustreibungen und Ketten traktiert. (vgl. Cruset 1967, 111) Trotzdem: Johannes kommt in dieser traurigen Umgebung zur Ruhe, es geht im allmählich besser und es wird ihm gestattet, sich frei zu bewegen und bei der Pflege und bei den Arbeiten im Hause mitzuhelfen. In dieser Zeit des direkten Zusammenlebens und Umgangs mit unterschiedlichen kranken Menschen klärt sich bei ihm sein künftiges Leben.

Am Ende findet seine tiefe Krise eine ganz einfache Lösung: den Kranken und den Armseligsten zu helfen und sie zu pflegen. Er weiß, dass er diesbezüglich von den Reichen und Mächtigen abhängig ist. Er braucht ihre Almosen. Beides also nimmt er in die Hand: das Betteln für seine Kranken und ihre Pflege. „Die neue und rettende Tat des Johannes von Gott bestand darin, dass er seine Krankenpflege auf dem Prinzip des Bettelordens aufbaute.“ (Nigg 1985, 36) Nicht von ungefähr verstand sich Johannes von daher selbst als ein Tertiar des Franziskanerordens. Das ursprüngliche Ordenswappen zeigte denn auch die Utensilien eines Sammelbruders (Reisestab, Tasche und Sammelbüchse): das Signet für die von Anfang an realistische und offensive Einstellung, dass man sich bei den Reichen holen muss, was man für die Bedürftigen braucht.

 

Eine beträchtliche Zeit ist Johannes ziemlich alleine mit dieser Doppeltätigkeit des Bittens und des Pflegens. Bereits 1539 kann Johannes ein Haus anmieten und dort sein erstes Hospital einrichten. Zunehmend finden sich Männer ein, die bei der Krankenpflege mithelfen. Dann gesellen sich erste Jünger zu ihm, die wie er und zusammen mit ihm insgesamt ein solches Leben in der Nachfolge Jesu auf sich nehmen möchten. Erst als es mehrere solcher „Gruppen“ auch in anderen Städten Spaniens und darüber hinaus gab, wuchs das Bedürfnis einer überregionalen innerkirchlichen Anerkennung. 1571 wurden sie vom Papst als Kongregation autorisiert und der Regel des Hl. Augustinus unterstellt. Papst Sixtus V. erhob diese Kongregation dann 1586 in den Rang eines Ordens: der „Barmherzigen Brüder“.

Johannes sucht eine anspruchsvolle Spiritualität: „Dienen wir dem Herrn nicht wegen der Glorie, die er denen gegeben wird, die ihm gedient haben, sondern einzig wegen seiner Liebe zu uns“. Hier kommt zum Ausdruck, was er offensichtlich in seiner Bekehrung zutiefst begriffen hat. Die Begegnung mit Gott und auch mit Menschen kann nicht durch ein „wenn und aber“ verdinglicht werden, sondern hat ihre Authentizität gerade darin, dass sich die Beteiligten unverstellt und unmittelbar annehmen. Johannes begegnet Gott, insofern er sich (als Sünder!) von ihm unbedingt geliebt weiß (da wird die Frage unsinnig, was er „dafür bekommt“). Und: Johannes ist mit der gleichen Unbedingtheit auf der Seite der Armen und Kranken; ohne „wenn und aber“ geht es um die heilende und teilende Begegnung mit diesen Menschen. Es zeigt sich deutlich, wie sehr Gottes- und Nächstenliebe zusammenhängen.

Johannes lebte von einer unmittelbaren und konkreten Christusfrömmigkeit her, in der Glaube und Handeln sich zu einer untrennbaren Einheit verbanden. Denn er glaubte an jenen Jesus, der in den Geschichten der Evangelien den Armen und Kranken begegnet ist und sie leiblich und seelisch heilte. Diesem Jesus will er „stets gefallen und dienen“. Dieses Wort von ihm eröffnet aber zugleich die andere dementsprechende Seite seiner Jesusfrömmigkeit: er dient Jesus nicht nur indirekt dadurch, dass er seinem Vorbild nachahmt, sondern direkt darin, dass er ihm unmittelbar in den Armen und Kranken begegnet. Sein einfach-praktisches Bibelverständnis erlaubt es in keiner Weise, dass er die Selbstidentifikation Jesu mit den Fremden und Kranken (in Mt 25, 35-40) nur übertragen, metaphorisch oder symbolisch verstehen könnte. Er versteht diese Identifikation Jesu mit den Leidenden durch und durch realistisch und drastisch. Anders hätte sich sein Glaube nicht in dieser unmittelbaren Weise mit der Wirklichkeit der Leidenden verbunden.

Der spirituellen Begegnung mit dem im Gottesdienst real präsenten Christus entspricht in gleichstufiger theologischer Dignität seine diakonische Realpräsenz in der Begegnung mit Leidenden. Die helfende und politische Diakonie ist nicht (nur) eine ethische Konsequenz der Christusbeziehung, sondern ihr zentraler Vollzug! Die „Option für die Armen“ ist das „Herzstück“ der Christopraxie. Die Weihe an Christus entlässt aus ihrem Zentrum heraus die Nachfolge Jesu zum Heil und zur Befreiung der Menschen.

Johannes verändert den Krankendienst selbst: Sie werden je nach ihrer Krankheit voneinander abgesondert und verteilt und nicht unterschiedslos, meist in gemeinsamen Betten zusammengelegt. Jede(r) Kranke bekommt ein eigenes Bett; peinlich wird auf Sauberkeit geachtet. Johannes begründet einen neuen Umgang mit geisteskranken Menschen: Er rückt heftig ab von der Ideologie der Besessenheit und entdeckt darin eine Krankheit des Gemütes und des Kopfes. Seine Behandlung kommt aus der Haltung der Barmherzigkeit, insbesondere das liebevolle Gespräch wird zum Medium seiner Therapie. Hermenegild Stromayer fasst die Krankenreform des Johannes folgendermaßen zusammen: „Jedem Kranken sein Bett! Getrennte Krankenstationen! […] Aufnahme aller Armen und Kranken ohne Unterschied der Religion, Nation und Rasse! Behandlung des ganzen Menschen: Leib und Seele!“ (Stromayer 1978, 18).

Weil der Mensch im Mittelpunkt steht, geht es nicht nur um eine partielle Hilfe an den Stellen, wo er Schmerzen bzw. Not leidet: vielmehr wird der ganze Mensch ernst genommen, auch und gerade mit seiner Suche nach unendlicher liebender Anerkennung. Cruset schreibt: „Er spricht mit ihnen über Gott“8. Immer geht es ihm um diesen Zusammenhang: „Heilt die Kranken und verkündet das Evangelium!“ Hier öffnet sich das Heilen zum Heil. Darin gründet die Verpflichtung des Ordens zur sozialen und apostolischen Tätigkeit.

Das Apostolat ist strikt an die soziale Tätigkeit gebunden und entfaltet sich erst auf ihrem Boden als unmissverständlicher Glaube an den Gott, der tatsächlich die Liebe ist. Johannes fragt deshalb auch nicht nach Religion und Herkunft. Sein soziales Handeln nimmt Maß an der universalen Liebe Gottes selbst. Und genau diese Tätigkeit wird zum vorzüglichen Ort, von diesem Gott zu sprechen. Bei der Beerdigung des Johannes sind auch trauernde Muslime hinter seinem Sarg mitgegangen, „weil Johannes von Gott in seiner Krankenpflege nie einen Religionsunterschied gemacht hatte“ (Nigg 1985, 36). Derart war Johannes von Gott ein Kirchenreformator ersten Ranges!