Politik – Kirche – politische Kirche (1919–2019)

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„Erschließung des Humanen aus seiner Verleugnung und Abwesenheit“

Zwischen methodischem und inhaltlichem Negativismus

Emil Angehrn

Abstract

Die Welt des Menschen vom Negativen her zu erschließen, ist ein vielschichtiges Projekt. Es umfasst unterschiedliche Qualifikationen des Gegenstandes und verschiedene Zugangsweisen zu ihm: unterschiedliche Bestimmungen des Negativen (Endlichkeit, Mangel, Verfehlen, Leiden, Böses) und verschiedene Weisen negativer Erfassung (Beschreibung ex negativo, methodischer und inhaltlicher Negativismus, kritische Darstellung, Deutung). Der Aufsatz erkundet das Spektrum negativer Erkenntnis anhand exemplarischer Positionen aus Negativer Theologie, Kritischer Theorie, Existenzphilosophie, Hermeneutik und Negativismus.

Einleitung

Das Humane „aus seiner Verleugnung und Abwesenheit“ zu erschließen – so lautet eine prägnante Anweisung, unter welcher Ulrich Sonnemann das Projekt Negativer Anthropologie fasst1. Sie steht exemplarisch für viele Ansätze negativen Denkens, wie sie nachmetaphysisches Denken kennzeichnen: als ein Denken, das sich weder im Ausgang von ersten Prinzipien noch im Ausgriff auf ein affirmatives Ganzes seiner Grundlagen versichert. Negatives Denken will Wahrheit nicht im direkten Zugriff, sondern ex negativo, aus der Negation des Defizienten und Nichtseinsollenden erfassen. Indessen ist die Anweisung, wie sie Sonnemann formuliert und wie sie sich ähnlich bei anderen Repräsentanten negativistischen Denkens findet, eine vielschichtige, die unterschiedliche Wege öffnet. Das Denken vom Negativen her begegnet uns in verschiedener Gestalt und in variierenden Konstellationen.

Unterschiedlich ist sowohl die Natur des Gegenstandes wie die Zugangsweise zu ihm: sowohl die Negativität dessen, womit das Denken konfrontiert ist, wie die negative Erschließung und Auseinandersetzung mit ihm. Der negative Status des Gegenstandes oszilliert zwischen dem Fehlenden und dem Negativwertigen, dem ‚abwesenden‘ und dem ‚verleugneten‘ Humanen, zwischen defizitärer Endlichkeit, erlittenem Leid und moralischem Übel, zwischen konstitutiver und kontingenter Negativität. Der negative Modus der Betrachtung wiederum variiert zwischen negativer Erschließung, normativer Verurteilung und kritischer Abwehr, zwischen methodischem und inhaltlichem Negativismus, zwischen Kritik, Widerstand und Transzendierung. Es sind ganz unterschiedliche Weisen theoretischer Durchdringung und praktischer Stellungnahme, in denen das Denken mit dem Negativen befasst ist. Die folgenden Überlegungen suchen ihr Spektrum anhand exemplarischer Positionen aus Kritischer Theorie, Negativer Theologie, Hermeneutik und Negativismus zu erkunden, um die Logik und die Herausforderung negativen Denkens – des Denkens des Negativen und des Denkens aus dem Negativen – zu verdeutlichen.

1. Formen der Negativität
1.1 Theoretische und praktische Negativität

Das Negative begegnet uns in zwei Grundformen: als das Nichtseiende und als das Nichtseinsollende1. Negativität ist als theoretische wie als praktische, als logisch-ontologische wie als lebensweltlich-volitive explizierbar, als Gegenstand eines theoretischen wie praktischen Negierens: des Feststellens, dass etwas nicht ist, bzw. Bestreitens, dass etwas ist, und des Neinsagens zu einer Forderung, einer Norm, einem Wunsch. Das Negative ist einerseits im Raum von Sein und Nicht-Sein, andererseits von Sollen und Nicht-Sollen angesiedelt. Beide Formen der Negativität sind Teil unseres kognitiven und handelnden Wirklichkeitsverhältnisses. Auf der einen Seite vollzieht sich unser Sprachverstehen und Erkennen im unhintergehbaren Spannungsverhältnis zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, zwischen Sein und Nicht-Sein, zwischen Bejahen und Verneinen; nach Tugendhat ist die Fähigkeit zur Ja/Nein-Stellungnahme konstitutive Voraussetzung des Gebrauchs propositionaler Sprache2. Auf der anderen Seite ist unsere Existenz praktischen und emotionalen Widrigkeiten ausgesetzt, Gefahren, die uns bedrohen, Schmerzen und Schädigungen, die wir erleiden. Menschliches Leben vollzieht sich zwischen Glück und Unglück, Gelingen und Scheitern, und Hegel zögert nicht, die „Arbeit des Negativen“3, die beim Negativen verweilt und durch es hindurch geht, als Weg des Lebens zu sich selbst zu beschreiben.

Nun ist nicht von vornherein klar, wie sich theoretische und praktische Negativität zueinander verhalten, inwiefern sie ineinander verschränkt und Momente einer einheitlichen Problemkonstellation sind – oder unabhängig voneinander unser Selbst- und Weltverhältnis bestimmen. Nach einem naheliegenden Verständnis liegt die theoretische der praktischen Negation zugrunde: Dass ein Sachverhalt als negativer – als Mangel, als Fehler – gegeben ist bzw. erkannt wird, bildet in dieser Sicht die Voraussetzung dafür, dass wir uns praktisch-verneinend – in Kritik, Verurteilung, Zurückweisung – zu ihm verhalten können. An ihnen selbst sind Bestreitung und Verurteilung logisch distinkte Akte und voneinander unabhängig. Allerdings widersprechen profilierte Konzepte dieser Anordnung, sowohl hinsichtlich der Getrenntheit wie der Rangordnung beider Negativitäten. Bestimmend ist für sie die ebenso grundlegende Intuition, dass wir ursprünglich affektiv-erleidend dem Negativen ausgesetzt sind und uns abwehrend zu ihm verhalten, vor dem Bedrohlichen fliehen, gegen das Feindliche Widerstand leisten. Dass das praktisch-aversive Verhalten dem logisch-negierenden zugrunde liege, ist die Leitidee in Freuds klassischer Abhandlung über die Verneinung, die er als „intellektuellen Ersatz der Verdrängung“4 aufweisen will. Ähnlich macht Emmanuel Levinas in der Negativität, die im sinnlosen Leiden als der schlechthinnigen „Verwerfung und Verweigerung von Sinn“ erfahren wird, die „Quelle und den Kern jeder apophantischen Negation“5 aus. Die erlebte Konfrontation mit dem Nichtseinsollenden wird hier zur Tiefenschicht der logisch-prädikativen Praxis des Verneinens. Wie immer das Verhältnis zwischen theoretischer und praktischer Negation bestimmt sei – offenkundig ist, dass beide Weisen des Umgangs mit dem Negativen in unser Verstehen und Verhalten eingehen, dass ihre Dualität einen Wesenskern des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses bildet.

1.2 Konstitutive und kontingente Negativität

Komplementär zur theoretischen und praktischen Negation ist eine andere Grunddifferenz im menschlichen Umgang mit Negativität von Belang. Es gibt Negatives, das unabdingbar zur menschlichen Lebensform gehört, und es gibt Negatives, das uns kontingenterweise trifft, sei es, dass es von außen über uns kommt oder von uns selbst hervorgebracht wird.

Menschliches Dasein hat auf der einen Seite mit konstitutiven Einschränkungen, Mängeln und Leidenserfahrungen zu tun, die in der Endlichkeit der menschlichen Natur gründen. Die Existenzphilosophie hat solche Erfahrungen als Existenziale (Heidegger) oder Grenzsituationen (Jaspers) erkundet und exemplarisch in der Konfrontation mit Leid, Schuld, Schicksal und Tod beschrieben. Es ist ein Motiv, das seit der griechischen Tragödie die Besinnung auf das Sein und Wesen des Menschen leitet und das sowohl dessen äußere Schwäche und Verletzbarkeit, sein Ausgeliefertsein an Krankheit und Tod, wie seine innere Defizienz und Hinfälligkeit, seine Tendenz zur Uneigentlichkeit, sein Scheitern und seine moralische Desintegration betrifft. Es sind Momente des Fehlens und Verfallens, die, auch wenn sie beklagt, verurteilt und bekämpft werden, doch zuletzt unhintergehbar, nie zur Gänze eliminierbar sind und als solche in die menschliche Selbstverständigung integriert werden müssen. Mythen und Religionen führen sie zum Teil auf eine vererbte Schuld, eine Ursünde zurück. Zum Teil mag kontrovers sein, wieweit sie im strengen, zumal ethischen Sinn als Negativa zu gelten haben; wiederholt insistiert Heidegger darauf, dass die Uneigentlichkeit nicht als moralischer Makel, sondern als konstitutive Seinsform des Menschen im Zeichen der ‚zunächst und zumeist‘ gegebenen, ‚alltäglichen‘ Existenz zu verstehen sei. Gleichwohl ist unübersehbar, dass die Verfallensphänomene, die zwar das Dasein ‚entlasten‘, im Widerstreit zu einer anderen Strebenstendenz stehen, die der Natur des Menschen ebenso wesentlich, in gewisser Weise tiefer innewohnt und der gegenüber das Verfallen im Zeichen der ‚Versuchung‘ steht1. Mit Bezug auf das eigene Wollen verkörpern die Verfallsphänomene ein Negatives im Menschen, ein nicht wahrhaft Gewolltes und insofern ein Nichtseinsollendes, wenn auch in anderem Sinne als die Not, das Leiden und die Sterblichkeit, denen das endliche Lebewesen Mensch unausweichlich ausgeliefert ist. Allesamt gehören sie zur conditio humana, die dem Menschen unentrinnbar zugehört.

Solcher konstitutiver Negativität stehen kontingente Übel gegenüber, unter denen wir leiden und gegen die wir uns wehren, typischerweise menschengemachte Übel, von denen wir annehmen, dass sie im Prinzip vermeidbar, bekämpfbar, idealiter überwindbar sind: technische Katastrophen, Kriege, Gewalt, Unrecht. Die Qualität des Leidens muss keine andere sein als bei natürlichen Gebrechen und Krankheit, doch unterscheidet sich die praktisch-ethische Haltung in grundlegender Weise: Es sind Übel, die wir kritisieren, die wir aus moralischem Protest oder emotionaler Abscheu verurteilen, gegen die wir uns empören und gegebenenfalls Widerstand leisten. Solche Abwehr kann unter bestimmten Bedingungen auch naturbedingte Schädigungen und Ereignisse betreffen – das Schicksal Hiobs, das Erdbeben von Lissabon (Voltaire), das Leiden der Kinder unter der Pest (Camus), den Tod überhaupt (Canetti). Indessen bleibt die Intuition davon unberührt, dass wir die dem menschlichen Bösen entspringenden Katastrophen in anderer, abgründigerer Weise als ein Negatives, zu Verurteilendes, Nichtseinsollendes erfahren, zugleich als eines, das nicht notwendig sein muss, das kontingenterweise unser Leben und unsere Welt affiziert – auch wenn Zweifel an seiner Vermeidbarkeit, seiner Ausrottbarkeit bestehen bleiben.

 

2. Methodischer Negativismus

Die polymorphe Konstellation des Negativismus ist, neben der Vielfältigkeit des negativen Gegenstandes, durch den unterschiedlichen Umgang mit ihm, die Weisen der Bezugnahme auf das Negative bestimmt. Deren Spannweite wird durch die Erschließung aus dem Negativen auf der einen Seite, die kritische Auseinandersetzung mit ihm auf der anderen Seite umrissen. Es ist eine Spannweite, die in unterschiedlichen Versionen als Polarität von Darstellung und Kritik, Rekonstruktion und Auflösung, Verstehen und Verurteilung zum Tragen kommt. Eine grundlegende Dualität, die das negativistische Denken durchzieht, ist die zwischen einem methodischen und einem inhaltlichem bzw. ontologischen Negativismus: zwischen einem Vorgehen, das auf die negative Erschließung, die Beschreibung einer Sache ex negativo abzielt, und einem Denken, das sich mit der Negativität in der Sache selbst auseinandersetzt1. Der Typus des methodisch-negativistischen Denkens lässt sich anhand dreier Paradigmen illustrieren, in denen sich zugleich der Übergang vom methodischen zum inhaltlichen Negativismus abzeichnet.

2.1 Negative Theologie

Exemplarisch verkörpert scheint negative Erkenntnis in Gestalten negativer Theologie oder negativer Metaphysik1. Exemplarisch sind diese Gestalten darin, dass sie auf ein die Grenzen der Erkenntnis Transzendierendes, auf die wahre Natur Gottes, auf das verborgene Ansich in den Dingen, abzielen, das aber der menschlichen Vernunft entzogen bleibt und nur ex negativo, in negativen Aussagen anvisiert und ausgedrückt werden kann. Von Gott vermögen wir nur zu sagen, was er nicht ist, nicht, sein eigenes Wesen zu fassen. Die neuplatonische Philosophie hat diese Denkfigur in eindringlichen Formen ausgearbeitet, von Platons Idee des Guten „jenseits des Seins“2 zu Plotins absolut Erstem jenseits der vielen Dinge, der Sprache und des Erkennens, das für uns nicht mit einem Namen benennbar ist und von dem wir nur negative Kenntnis haben, sofern wir „wohl etwas über Jenes aussagen, aber nicht Jenes aussagen, und weder Erkenntnis noch Denken seiner“ haben: „Wir sagen ja aus, was es nicht ist; und was es ist, das sagen wir nicht aus.“3 In der Potenzierung der Negationen, die sich identischerweise als Steigerung der Transzendenz hin zum Über-Unaussprechlichen, zum Über-Seienden und zur Überfülle des Absoluten realisiert, zieht der Neuplatonismus von Plotin zu Porphyrios, Jamblich und Proklos die paradigmatische Linie eines negativen Denkens des Höchsten aus4. In bemerkenswerter Affinität zu dieser Denkfigur formuliert im 20. Jahrhundert Emmanuel Levinas seine Kritik am identifizierenden Denken der Phänomenologie unter dem Titel Autrement qu’être ou Au-delà de l’essence5einer terminologischen Reminiszenz, die mit einer inhaltlichen einhergeht. Durch die Denkgeschichte hindurch bildet die via negationis et eminentiae ein Muster negativen Denkens, das die epistemisch-sprachliche Negativität im Innersten mit dem Absehen auf eine höchste Fülle und Affirmativität verschränkt.

2.2 Phänomenologische Beschreibung ex negativo

Indessen ist die Figur des methodischen Negativismus nicht auf die Bindung an eine emphatische Transzendenzorientierung, wie sie die negative Theologie verkörpert, beschränkt. Sie liegt auch gemäßigteren, doch ebenso entschiedenen Explorationen der Wahrheit ex negativo zugrunde. Sie kommt etwa ins Spiel, wenn wir das Verstehen vom Missverstehen, das Gelingen vom Misslingen, das Streben vom Verfehlen her erfassen und explizieren. Im Spiel ist nicht der diametrale Gegensatz zwischen den Extremen des Negativen und Positiven, zwischen Leiden und Glück, Aufbau und Destruktion, sondern die den Lebensbewegungen immanente Spannung zwischen Erreichen und Verfehlen, Verwirklichen und Nichtverwirklichen. Aus dem fragmentarischen, abgebrochenen Unterwegssein, der stummen, verworrenen Geste ist die gerichtete Bewegtheit, der ‚an sich‘ wirksame Sinn eines Wollens oder Tuns zu entnehmen, aus der verdunkelten Spur das nichtmanifestierte Sagenwollen zu entziffern. Namentlich phänomenologische Ansätze haben mit dem Potential solcher indirekter Exploration gearbeitet und sich darum bemüht, aus den defizienten Seins- und Verhaltensformen den ‚Sinn‘ der normalen, gelingenden Lebensform zu verstehen. Exemplarisch begegnen wir diesem Vorgehen in Beschreibungen Merleau-Pontys, die am Beispiel eines Gehirnverletzten aus dem Ersten Weltkrieg dessen Defizite in unterschiedlichen Erlebens- und Verhaltensbereichen – Wahrnehmung, Körperbewegung, Sexualität, Sprachverstehen, Kommunikation – analysieren, um aus dem Fehlen heraus den lebensweltlichen Sinn des ‚gesunden‘ Verhaltens sichtbar zu machen. Die negative Zugangsweise basiert hier auf dem paradoxen Sachverhalt, dass die Sinnorientierung gerade dort, wo sie fehlt bzw. als fehlende oder pathologisch verzerrte erfahren wird, in ihrer Eigenart hervortritt. Merleau-Ponty beschreibt das eigentümliche Defizit eines Kranken, dessen partikulare motorische, sensorische, kognitive Kapazitäten weithin unbeeinträchtigt sind, der aber nicht zur integrativen Formbildung in der Lage ist, welche den Sinn des Erlebens konstituiert; er versteht die Worte, doch nicht den Text oder die Pointe einer Geschichte, er verfügt über die Sprache, empfindet aber nicht von sich aus das Bedürfnis, seine Welt zu beschreiben oder seine Erfahrungen mitzuteilen, er kann sich bewegen, geht aber nicht unaufgefordert spazieren, wie er nicht von sich aus singt oder spielt. Es ist eine ganze Dimension, die Sinndimension des Lebens, die ihm abhanden kommt, und die in der phänomenologischen Beschreibung des defizitären Verhaltens indirekt hervortritt1. Was die existentielle Bedeutung des Sich-Bewegens, der Erfahrung von Nähe und Ferne, des Hörens und Sehens ausmacht, wird in einer spezifischen Weise dort fassbar, wo sie sich gerade nicht manifestiert und nur als unterdrückte, latente in die Struktur und Dynamik des Lebens eingeht.

2.3 Die Hellhörigkeit psychischen Leidens

In einer noch anderen Form ist die Erschließung aus dem Negativen im psychischen Leiden gegeben. Hier geht es nicht wie bei der lokalen Hirnschädigung um eine generelle Beeinträchtigung der humanen Lebensform, deren unterdrückte Gerichtetheit wie in einer Negativfolie sichtbar wird, sondern um Formen des Leidens, die in bestimmten Ausprägungen zugleich in privilegierter Weise mit Erfahrungen kommunizieren, die in Grundbedingungen des Menschseins wurzeln. Die erlebte Verwirrung, der Schmerz, die Verzweiflung sind nicht nur allgemeine Indizien des Menschlichen, sondern können in pathologischen Verzerrungen des Erlebens auf Probleme verweisen, die der Existenz als solcher innewohnen. Die verstehende Psychopathologie ist dieser Spur gefolgt, so in der sogenannten Daseinsanalyse, die von Ludwig Binswanger und Medard Boss in Anknüpfung an Heidegger entwickelt worden ist und in deren Horizont Alice Holzhey-Kunz die These formuliert, dass der seelisch leidende Mensch sich durch eine besondere Hellhörigkeit für die Grundprobleme des Menschseins auszeichne1. So kann etwa depressives Leiden als „unverhülltes Vernehmen des existentialen Unzuhauseseins“2 erscheinen, können psychische Krankheiten generell als Manifestationen eines „Leidens am Dasein“ 3 erscheinen und ihnen sogar eine besondere Nähe zur Philosophie attestiert werden – wobei allerdings die Differenz entscheidend ist, dass die philosophische Reflexion das besondere Leiden von der umfassenden existenziellen Erschütterung trennt, während der psychisch Kranke durch eine partikulare Bedrohung der allgemeinen Haltlosigkeit der Existenz ausgesetzt sein kann. Dass er diese durchlebt, macht seine Erfahrung in privilegierten Fällen (wie Hölderlin) zum bevorzugten Medium einer existenziellen Hermeneutik, aber auch zum ausweglosen Ort des Leidens, welches verbietet, die Nähe zur Philosophie zu idealisieren oder die pathologische Qualität des Leidens zu verharmlosen4. Das Verhältnis zwischen dem ‚normalen’ und dem pathologischen Erleiden der menschlichen Hinfälligkeit ist Gegenstand kontroverser Beschreibung, zwischen prinzipieller Andersartigkeit und gradueller Differenz, worin die Krankheit als heuristischer Schlüssel und ‚Vergrößerungsglas‘ für die Erfassung der conditio humana fungiert. Mit dieser Metapher umschreibt Michael Theunissen den Zugang, den uns das klinische Seelenleiden, dem er in Phänomenen des pathologisch gestörten Zeiterlebens nachgeht, zur Leidenserfahrung hin öffnet, die das normale Seelenleben als solches grundiert und die nach ihm zuletzt in der Zeitlichkeit des Daseins, der entfremdenden Herrschaft der Zeit über das menschliche Leben wurzelt5.

In solchen Ansätzen verschiebt sich die Perspektive von einem rein methodischen zu einem gleichzeitig inhaltlichen Negativismus. Ging es der negativen Theologie darum, über den Weg des Negierens des Negativen – des Absprechens von Prädikaten, die dem Endlichen, Vielen, Defizienten zukommen – einem eminent Positiven – Unendlichen, Einen, Vollkommenen – sich anzunähern, so zielte die phänomenologische Beschreibung darauf, im Verfehlen und Versagen die Fluchtlinie des Wollens und Gelingens und darin die Umrisse einer sinnhaft ausgerichteten Lebensform erkennbar zu machen. Auch in diesem zweiten Fall gilt die Erkenntnis einem in sich Positiven, das aber über das Medium eines an ihm selbst – nicht nur logisch-epistemisch – Negativen erschlossen wird6. Im dritten Fall wiederum setzt die Erkenntnis ebenfalls im nicht-gelingenden Lebensvollzug an, doch nicht als Negativfolie eines Gelingens, sondern um durch ihn hindurch ein gleichsam tieferes Versagen, ein fundamentales Leiden am Dasein erkennbar zu machen. Gleichwohl haben wir, wenn wir dieser Linie in Richtung eines inhaltlichen Negativismus weiter folgen, zu prüfen, wieweit auch darin nicht nur eine Wahrheit über den Menschen und sein Leben zutage tritt, sondern in gewisser Weise eine Umkehr, eine Transzendierung des Negativen sich andeutet und gerade in der radikalisierten Negativität ein eigenes, affirmatives Wahrheitspotential entbunden wird.