Oberhausen

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Die Stadtgesellschaft wird gut daran tun, ihr Fundament für das 21. Jahrhundert zu verbreitern durch so wichtige Elemente wie eine chancenorientierte Bildungslandschaft, eine noch familiengerechtere Infrastruktur für Soziales, Sport und Betreuung, eine solidarische Stadtgesellschaft mit einer lebendigen Willkommenskultur, eine Kulturlandschaft, die in Arbeitsteilung mit der Region Ruhr unverwechselbar und dennoch bezahlbar bleibt. Schließlich ist es nicht das Kennzeichen einer Zukunftsvision endgültig fertig zu sein, sondern vielmehr die Leitplanken und bestens auch den Mittelstreifen zu legen, an welchen sich Orientierungen in Kreativität und stadtgesellschaftlicher Solidarität entfalten mögen.


Abb. 41: Neue Mitte Oberhausen, Entwicklungskonzept 1992

2014 - 2015 - Von der Kommunalwahl zur Oberbürgermeisterwahl: (Vorläufiges?) Ende einer sozialdemokratischen Epoche

Nachfolgend wird es darum gehen, das einschneidende Ereignis der Oberbürgermeisterwahl vom 13. September 2015 aus stadthistorischer und politikwissenschaftlicher Perspektive zu erklären. Dabei mag unweigerlich der Eindruck entstehen, der Autor habe vieles besser gewusst. Stattdessen erweist es sich für den Historiker immer als leichter, aus der Rückschau die Gründe für eingetretene Ereignisse herauszuarbeiten, als es für die handelnden Zeitgenossen ebenso leicht möglich gewesen wäre, Fehlentwicklungen quasi online zu erkennen und ihnen gegen zu steuern.

Somit sind die nachfolgend angebotenen Erklärungszusammenhänge nicht als Kritik am Handeln von Persönlichkeiten der Kommunalpolitik zu verstehen.

Doch allein die Möglichkeit, dass manche Erklärungsansätze als eine solche Benennung von Unzulänglichkeiten bewertet werden könnten, darf für den Wissenschaftler sicher keinen Grund darstellen, auf ihre Darstellung nachfolgend zu verzichten. – Denn auch hier gilt das, was den Nutzen jeder wissenschaftlichen Analyse kennzeichnet: Sie vermag uns darin zu unterstützen, mittels Erkenntnis von Ursachen und Zusammenhängen vermeintliche oder tatsächliche Fehlentwicklungen nicht unter veränderten Vorzeichen in der Zukunft zu wiederholen!

Annähernd sechs Jahrzehnte währte die unangefochtene Dominanz der Sozialdemokratie in der Oberhausener Kommunalpolitik, bis diese mit dem Verlust des Oberbürgermeister-Amtes durch die Wahl vom 13. September 2015 ihr, längerfristig betrachtet vielleicht vorläufiges, Ende fand. Mit dem Erdrutsch-Sieg von 1956 war die SPD zur beherrschenden Partei des Oberhausener Parteiensystems aufgestiegen. Damals gelang ihr - ausgehend vom Wahlergebnis bei 37,6 % 1952 - ein Zuwachs um fast 12 % auf 49,4 % und damit das Erreichen der absoluten Mehrheit im Rat der Stadt Oberhausen. Die Oberbürgermeisterin Luise Albertz stellten die Sozialdemokraten 1948 und dann wieder seit 1956 ununterbrochen bis zu ihrem Tod 1979. Ihr folgten die Sozialdemokraten Friedhelm van den Mond von 1979 bis 1997, Burkhard Drescher von 1997 bis 2004 und Klaus Wehling von 2004 bis 2015 nach. In den beinahe sechs Jahrzehnten von 1956 bis 2015 hatte es die SPD vermocht, der Oberhausener Wählerschaft in Zeiten starker Veränderungen und großer kommunalpolitischer, insbesondere strukturpolitischer Herausforderungen mehrheitlich überzeugende Antworten zu geben, stimmige Politikangebote zu unterbreiten.

Zuerst die Kohlekrise, später die Stahlkrise prägten die 1960er bis 1980er Jahre. Vor und nach der Jahrtausendwende bildete dann das Strukturwandelprojekt der Neuen Mitte Oberhausen das zentrale Identifikationsangebot für die Menschen der Stadt. Vor diesem Hintergrund verdient die Analyse der mehr äußeren Anlässe wie der viel tieferen Ursachen für den Abschluss einer Epoche in der Stadtgeschichte die Aufmerksamkeit der Stadtgeschichtsschreibung.


Abb. 42: Apostolos Tsalastras


Abb. 43: Daniel Schranz

Der Wahlsieg von CDU-Oberbürgermeister Daniel Schranz am 13. September 2015 stellt einen ebenso gründlichen Erdrutsch-Sieg dar wie derjenige von 1956. Schranz erzwang mit 52,5 % der Stimmen gleich im ersten Wahlgang die Endscheidung; damit hatte kaum einer der zahlreichen Beobachter gerechnet. Schranz erzielte mit beinahe 15% Vorsprung vor Apostolos Tsalastras, der 37,7 % erreichte, einen Abstand, der seinen Konkurrenten deklassierte – zumal dieser als Kandidat der Ampel-Parteien SPD, Grüne und FDP angetreten war. Mit anderen Worten: Weniger als 30 % trugen die Wähler der SPD zum Ergebnis für Tsalastras bei. Das Ausmaß dieser Niederlage nährt die Vermutung, dass die strukturelle Mehrheit der Sozialdemokratie innerhalb der kommunalpolitischen Kultur Oberhausens aus dem vorangegangenen halben Jahrhundert stark gefährdet, wenn nicht gar verloren gegangen ist. Das Ausmaß dieser Niederlage verlangt aus mindestens zwei Gründen, nach den tieferen Ursachen sehr gründlich zu forschen: Zum einen wird uns sonst das Verständnis der Besonderheiten und ggf. der Entwicklungstrends Oberhausener Kommunalpolitik im Jahr 2015 nicht gelingen. Zum anderen wird es insbesondere den beiden großen Volksparteien ohne gründliche Wahlanalyse nicht gelingen können, die Einschätzungen, Bewertungen und Bedürfnisse der Oberhausener Wählerinnen und Wähler realistisch und differenziert zu erfassen. Das aber wird zur Voraussetzung für eine erfolgreiche Kommunalpolitik in der Wahlperiode bis 2020 und erst recht für Erfolg bei der dann folgenden nächsten Kommunalwahl.

Es wurde bereits dargestellt: Während viele Ruhrgebietsstädte bei der Kommunalwahl 1999 einen Mehrheitswechsel erlebten, bewies die Oberhausener SPD regional eine herausgehobene Stabilität, die sogar 2004 mit der Behauptung der absoluten Mehrheit im Rat fortgesetzt werden konnte. Bei den anschließenden beiden Kommunalwahlen fand fortan jedoch ein kontinuierlicher Verlust an Zuspruch bei der Wählerschaft statt: Verluste von 6 % und nochmals 5 % kamen einer dramatischen Erosion der jeweiligen Ausgangslage um jeweils 11 bis 12 %des vorangegangenen Wahlergebnisses gleich. - Und dennoch, nach Bildung der Ampelkoalition im Juni 2014 war in der Stadt nichts von einer Wechselstimmung zu spüren. Ganz im Gegenteil erschien den Menschen die Fortsetzung der Mehrheitsverhältnisse unter modifizierten Vorzeichen als das vielfach erwartete Ergebnis. Doch die Mehrheit der Ampel wies ja bereits bei der Konstituierung des neuen Rates am 30. Juni 2014 einen nicht unbedenklichen Schönheitsfehler auf: Nur mit Hilfe der Stimme von Oberbürgermeister Klaus Wehling verfügte die Koalition über ihre Mehrheit von 31 Stimmen der insgesamt 61 Mitglieder des Rates.

Die Entscheidung des Amtsinhabers Klaus Wehling, seine Wahlzeit bis zum 20. Oktober 2015 zu vollenden, nicht vom Angebot der NRW-Landesregierung Gebrauch zu machen und ohne Nachteile für seine Versorgungsbezüge schon zur Kommunalwahl 2014 in den Ruhestand zu treten, bildet nun eine der bedeutsamen und vielschichtigen Vorstufen der Zeitenwende von 2015. So persönlich legitim die Entscheidung Klaus Wehlings war, so politisch unklug war sie zugleich. Hätte Wehling den Weg für eine Wahl des OB bereits 2014 frei gemacht, so wäre ein SPD-Kandidat unter weitaus günstigeren Bedingungen angetreten als mehr als ein Jahr später. Insbesondere wären der Rückenwind des Amtsbonus der regierenden Mehrheitspartei und die höhere Wahlbeteiligung als bei einer ausschließlichen OB-Wahl der Sozialdemokratie zu Gute gekommen. Hinzu kommt, dass zum Jahresbeginn 2014 keine signifikante Wechselstimmung in der Stadt bestand; ein Jahr später hatte sich dies aufgrund nachfolgend zu schildernder Umstände gravierend geändert. - So weit die strukturelle Betrachtung einer von mehreren tieferen Ursachen.

Juni 2014 bis September 2015 – Die SPD auf der „schiefen Bahn“

Um die Tragweite der Besonderheit einer solitär durchgeführten Oberbürgermeisterwahl für das Wahlergebnis angemessen erfassen zu können, sind zwei Aspekte zentral: die Auswirkungen auf die Wahlbeteiligung und auf die Mobilisierungsquote, insbesondere der großen Parteien, schließlich auch die Wechselwirkungen zwischen beiden Faktoren.

Die Wahlbeteiligung zur Kommunalwahl 2014 betrug in Oberhausen 43,7 %. Damit sank sie bereits um rund 5 % gegenüber der letzten gemeinsamen Wahl von Rat und Oberbürgermeister im Jahr 2009 ab. Für die solitäre Wahl des Oberbürgermeisters 2015 gab es aus NRW keine unmittelbar vergleichbaren Fälle; aus den süddeutschen Bundesländern ist jedoch bekannt, dass solche Wahlen häufig lediglich um 30 % der Wahlberechtigten zur Stimmabgabe mobilisieren. Vor diesem Hintergrund darf die bei der OB-Wahl 2015 tatsächlich erzielte Wahlbeteiligung in Oberhausen in Höhe von 35 % keineswegs als desolat – damit auch nicht als wesentliche originäre Ursache – für den Wahlausgang betrachtet werden.

Allerdings geben die sogenannten Mobilisierungsquoten der Parteien einen Einblick in die Auswirkungen einer niedrigen Wahlbeteiligung. Die Mobilisierungsquote misst den Anteil derjenigen Wähler einer Partei, die an einer Wahl teilnehmen, im Verhältnis zur Wählerschaft der Partei mit der höchsten Wahlbeteiligung. Dies ist traditionell die Bundestagswahl mit bis 80 %. Diese Mobilisierungsquoten für die Oberhausener Parteien fallen in Oberhausen wie andernorts unterschiedlich aus. Sie betrugen bei der Kommunalwahl 2014 – im Verhältnis zur Bundestagswahl 2013 – für die kleinen Parteien (Linke, Grüne, FDP) 85 bis 90 %, für die CDU etwa 75 % und für die SPD etwa 60 %. Diese erheblichen Unterschiede wirken sich folglich stark auf das jeweilige Wahlergebnis aus. Diese Wirkung verstärkte sich bei der noch deutlich geringeren Wahlbeteiligung der OB-Wahl von ca. 35 %. Dabei gaben nur halb so viele Wähler der SPD ihre Stimme wie noch bei der Bundestagswahl im Jahr 2013. Somit hatte die Entscheidung von Oberbürgermeister Wehling, seine Amtszeit bis 2015 zu vollenden, eine Verminderung der Erfolgsaussichten insbesondere des Kandidaten der SPD und der Koalition Tsalastras zur Folge. Es ist plausibel, dass die Wirkung bei einer um 8,5 % verminderten Wahlbeteiligung gegenüber der Kommunalwahl 2014 nennenswert ausgefallen ist. Betrachtet man die damalige Wahlbeteiligung von 43,5 % als Basis, so betrug die Abnahme am 13.09.2015 rund 20 %!

 

Anschließend ist die Mobilisierungsquote der Sozialdemokratie noch unter einem spezifischen Gesichtspunkt zu betrachten. Der SPD-Unterbezirk Oberhausen führte im November 2014 unter seinen rund 1.800 Mitgliedern eine Abstimmung über den Oberbürgermeisterkandidaten durch. Zur Wahl stellte sich neben Stadtkämmerer Apostolos Tsalastras der Geschäftsführer der Arbeiterwohlfahrt und des Zentrums für Ausbildung und Qualifizierung (ZAQ) Jochen Kamps. Beide Bewerber brachten eine Vielzahl von persönlichen Vorzügen, Kompetenzen und markanten Profileigenschaften ein, so dass das Ergebnis der Abstimmung mit 51,3 zu 43,5 % der Stimmen recht knapp ausfiel. Der Vorzug des Wahlausgangs bestand darin, dass beide Personen keineswegs desavouiert wurden, ihr Gesicht wahrten. Der denkbare Nachteil jedoch bestand darin, dass die Anhängerschaft von Jochen Kamps sich nach dem internen Wettbewerb möglicherweise weniger engagiert in den Wahlkampf für Apostolos Tsalastras einbrachte. Ebenso ist denkbar, dass Teile der traditionellen SPD-Wählerschaft vom Vertreter der SPD-nahen Organisation AWO leichter zu mobilisieren gewesen wären. – Umgekehrt gilt als sicher, dass es Tsalastras besser gelang, andere Teile der Wählerschaft anzusprechen, wie insbesondere Jugendliche, Migranten, neue Mittelschichten. Strukturell ist das Dilemma zu beachten, dass ein Mehr an innerparteilicher Demokratie mit einem Weniger an geschlossenem und tatkräftigem Auftritt in der Öffentlichkeit und darüber mit einem Verlust an Mobilisierungsfähigkeit in der Stammbelegschaft und damit an Wahlerfolgsaussicht verbunden sein kann.

Um für die Wahlkampfanalyse direkt bei der Wirkung auf die Oberhausener Öffentlichkeit anzuknüpfen: Schon vor der Kommunalwahl vom 25. Mai 2014 und unmittelbar danach setzte eine stetig öffentlich kommentierte Entwicklung ein, die zahlreiche Bürgerinnen und Bürger als ein „zu wenig“ empfanden. Im Wahlkampf wurden von der Mehrheitspartei SPD weit mehr Errungenschaften bilanziert als neue, gar weitreichende Ziele abgesteckt. Und in Feldern, für die tatsächlich Dynamik beansprucht wurde, wie beim 26-Punkte-Programm zur Stadtentwicklung aus dem Herbst 2013, dokumentierten die Wege der Umsetzung für viele Altbewährtes. Das aber rief bei manchen Bürgern Unwohlsein hervor: Die von der Opposition als schier allmächtig sowie als kaum wirksam kontrolliert kritisierte Stadttochter OGM- Oberhausener Gebäudemanagement GmbH - sollte die wesentlichen Projekte sämtlich finanzieren und durchführen. Über die Breite der Inhalte des Wahlkampfes betrachtet wurde oft Folgendes wahrgenommen: Die SPD beanspruchte ein kraftvolles „gut gemacht - weiter so!“. Doch schon im Mai 2014 wünschten sich viele Menschen mehr - Veränderung.

Diese Wahrnehmung und Bewertung schienen nahtlos ebenfalls zu gelten für die Bildung der Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP als Konsequenz aus dem Wahlergebnis von 2014. Trotz einer recht herben Schlappe in Höhe von minus 5 % - das waren 11 % des Ausgangswertes von 44 % - gelang es der Sozialdemokratie mittels eines weiteren Koalitionspartners, der FDP, ohne für die Öffentlichkeit erkennbare deutliche programmatische Veränderungen die Politik der Vorjahre fortzusetzen. Auf dieser Grundlage wurde der Koalitionsvertrag geschlossen und der Rat nahm am 30. Juni 2014 seine Arbeit auf.

Auf der Ebene der Tagespolitik, der Anlässe und der Stimmungen von Kommunalpolitik in Oberhausen vom Juni 2014 bis zum September 2015 trug die bevorstehende OB-Wahl gerade bei der Gestaltungsmehrheit in der neuen Koalition kontinuierlich dazu bei, sich im Wahlkampf zu fühlen. Daher wurde taktisch-politischen Erwägungen ein so hoher Stellenwert beigemessen, wie dies zu anderen, ruhigeren Zeiten während einer Wahlperiode nicht zu sein pflegt. Taktik und Programmatik gingen jedenfalls eine solche Mischung - zuweilen gar Verbindung - ein, dass daraus Meilensteine an Ereignissen und Entwicklungen erwuchsen, die sich im Laufe von 16 Monaten zum Aufkommen einer manifesten Wechselstimmung in der städtischen Öffentlichkeit verdichteten. Herauszuheben sind diesbezüglich die Nachwahl im Wahlbezirk 21, Sterkrade Heide, am 1. Februar 2015 sowie der Ratsbürgerentscheid über die Verlängerung der Straßenbahnlinie 105 von der Stadtgrenze Essen in die Neue Mitte Oberhausen vom 8. März 2015. Verstärkend hinzu kam die veröffentlichte Meinung zu Unregelmäßigkeiten im Beschaffungswesen und gleichgerichtete Vermutungen bei Auftragsvergaben der OGM, schließlich noch zu den Müllgebühren auf Basis der Verbrennungspreise der GMVA.

In Zeiten ohne Oberbürgermeisterwahl hätte es keine sonderliche Bedeutung erlangt, durch die SPD die Nachwahl im Wahlbezirk 21 zu betreiben. Die CDU hatte den Wahlkreis Sterkrade-Heide gewonnen. Die Chancen der SPD-Kandidatin waren bei deutlich unter 50 % zu veranschlagen. Und selbst ein Wechsel des Wahlkreises hätte auf die Mehrheitsverhältnisse im Rat keinen Einfluss genommen. Somit sprach die politische Vernunft gegen eine Wahlwiederholung, weil eben ein für die SPD negativer Ausgang von der Opposition als Indiz für deren Abstieg gewertet werden konnte - ein psychologisch bedenklicher Anklang in Zeiten des sich vorbereitenden OB-Wahlkampfes. Dass dann doch in Sterkrade-Heide erneut gewählt wurde, darf wohl maßgeblich auf das ehrlich gemeinte Mitwirkungs-Angebot an die Wählerschaft zurück geführt werden, und ein wenig auch noch auf das Insistieren der Kandidatin, die sich ihre Chance nicht nehmen lassen wollte.

Im September 2014 führte die sozialdemokratische Ratsfraktion ihre alljährliche mehrtägige Klausurtagung in Erfurt durch. Vielstündig wurde über die Straßenbahnlinie 105 debattiert. Der anschließenden Presseberichterstattung ließ sich folgender Eindruck entnehmen: Einer Gruppe in der Fraktion aus oft kühlen Befürwortern stand eine zweite Gruppe aus nicht selten populären Argumenten zugeneigten Gegnern gegenüber. Die Situation schien verfahren. Statt einer Abstimmung suchte die Fraktionsführung den Ausweg im Kompromiss: Ein Ratsbürgerentscheid am 8. März 2015 statt eines Ratsbeschlusses sollte die Entscheidung bringen. Das barg den Vorteil der Bürgerbeteiligung in sich, und ebenso denselben der geringeren politischen Verantwortung der Ratsmehrheit für eine Investition, mit der voraussichtlich viele Bürger hadern würden. Dies implizierte zugleich den Nachteil, der in einer häufig geäußerten Bürgermeinung seinen Ausdruck fand: Die SPD scheue die Verantwortung für die Entscheidung im Rat. Das aber schien es zu sein, was viele Menschen in Oberhausen von jener Partei erwarteten, die den Anspruch auf die Rolle der Mehrheits- und Gestaltungspartei erhob. Folglich ließ sich die Öffentlichkeit in weiten Teilen nicht vom Argument der SPD-Fraktion überzeugen: Ohne einen Ratsbürgerentscheid werde es ohnehin einen Bürgerentscheid geben, der über die Leistung von rund 16.500 Unterschriften, das entspräche 10 % der Wahlberechtigten, hätte herbeigeführt werden können.

Im Ergebnis votierten im Ratsbürgerentscheid vom 8. März 2015 57 % der Wähler gegen und 43 % für den Linienbau, und dies trotz eines eindrucksvoll vehement kämpfenden Bündnisses aller namhaften gesellschaftlich-wirtschaftlichen Gruppen der Stadt für die Linie 105. Den Ausgang des Entscheides werteten viele Bürger als persönliches Obsiegen des „kleinen Mannes“ über das Establishment, und ganz nebenbei auch über die drei Koalitionäre.

Nach dem 8. März 2015 kommentierten die Medien erstmals offenkundig, dass die Wahl des Oberbürgermeisters in Oberhausen so offen sei wie seit Jahrzehnten nicht mehr, dass die beiden Kandidaten - Kämmerer Apostolos Tsalastras für die SPD und Fraktionsvorsitzender Daniel Schranz für die CDU - auf Augenhöhe ins Rennen gingen. Dass daran etwas sein müsse, belegten sehr schnell auch die kleineren Parteien, indem Grüne und FDP zu Gunsten des Kämmerers auf einen eigenen Kandidaten schon im ersten Wahlgang verzichteten. BOB stellte ebenfalls keinen eigenen Kandidaten auf, wenngleich auf eine explizite Wahlempfehlung zu Gunsten von Daniel Schranz verzichtet wurde. Und auch in der Bevölkerung machte sich eine Stimmungslage breit, in der nicht allein von CDU-Wählern des Öfteren die Einschätzung zu hören war: Nach so vielen Jahrzehnten, und nach den letzten Jahren ohne sichtbare Dynamik, sei es einmal an der Zeit, dass ein anderer als der SPD-Kandidat zukünftig den Ton angebe. Seit März 2015 lag jene berühmt-berüchtigte Wechselstimmung in der Luft, die Demoskopen als die denkbar gefährlichste Ausgangslage für den Amtsinhaber bzw. für die bisherigen Träger der politischen Mehrheit wähnen.

Die Kampagne der CDU und ihres Kandidaten Daniel Schranz für eine Wechselstimmung in Oberhausen hätte trotz aller journalistischen Professionalität auf nicht annähernd so fruchtbaren Boden fallen können, wenn die Bürgerschaft nicht manche Entwicklungen der Vergangenheit ein wenig als Mangel an spürbaren Fortschritten in der Stadtentwicklung, vor allem aber als Missstände empfunden, bewertet und darüber am Ende mehrheitlich das Vertrauen in die Regierungskompetenz der Mehrheitspartei SPD verloren hätte. – Hier sind die ausschlaggeben Gründe dafür zu finden, warum die Wahl so deutlich ausfiel; nicht in der Anzahl der geleisteten Wahlkampfveranstaltungen oder dem jeweiligen persönlichen Kandidatenauftritt.

„System SPD“ – Der Angriffspunkt

Im Mittelpunkt des Wahlkampfes von Daniel Schranz stand die Kritik am „System SPD“, am über Jahrzehnte gewachsenen „Filz“. Demgegenüber nahm der Hinweis darauf, dass in den zurückliegenden elf Jahren mit Oberbürgermeister Wehling zu wenig in der Stadt geschehen sei, beinahe den Charakter einer Randnotiz an. Die Verbindung einer Negativserie von Misserfolgen – Kommunalwahl, Nachwahl in Sterkrade-Heide, Ratsbürgerentscheid Straßenbahn – mit aktuellen Ereignissen, die der Interpretation als Ausdruck des berüchtigten Filzes leicht zugänglich waren, ergaben für viele Menschen ein stimmiges Gesamtbild: „Handy-Skandal“ bei der OGM um unrechtmäßig erworbene und veräußerte Geräte, Vergabe eines Auftrages über LED-Straßenleuchten an eine Firma der Elektrotechnik, zu deren Geschäftsführung die Erste Bürgermeisterin zählt, fortdauernde rechtliche Auseinandersetzungen mit Bürgern um die Höhe der Müllgebühren auf die Verbrennung von Hausabfall bei der GMVA Niederrhein. - Wenngleich jedes dieser Ereignisse im Tätigkeitsbereich kommunaler Beteiligungsunternehmen bei genauer Analyse nicht den geringsten Anlass zu Vermutungen von Vorteilsnahme gab, zog allein ihre öffentliche Thematisierung, ihre mediale Darstellung in einem Gesamtkontext als bedenkliche Entwicklungen im Konzern Stadt Oberhausen sowie das Handeln prominenter Sozialdemokraten in verantwortlichen Funktionen einen bleibenden Eindruck in der öffentlichen Meinung nach sich: Zahlreiche Bürgerinnen und Bürger begannen zu zweifeln, dass die Stadt Oberhausen gut gemanagt werde und ihr Handeln effiziente Ergebnisse zeitige. Zugleich wurde die psychologische Ineinssetzung von Kommune und Sozialdemokraten bestärkt.

Dabei ist hervorzuheben: Die plausible Ursache für die zündende Schlagkraft der marketingstrategisch gezielt konzipierten und professionell umgesetzten Kampagne der CDU und ihres Kandidaten Daniel Schranz erschließt sich nicht völlig, sofern nur die Entwicklungen der zurückliegenden zwei Jahre vor der Oberbürgermeisterwahl berücksichtigt werden. Bemühen wir ein zweites Mal die historische Perspektive der Stadtgeschichte, wenngleich sich in diesem Fall die Aufarbeitung der zwei Jahrzehnte vor 2015 als hinreichend erweist. Die wachsende Skepsis der Bürgerschaft, gerade auch einer großen Zahl von Sympathisanten der Sozialdemokratie, gegenüber der Ausdifferenzierung des Konzerns Stadt Oberhausen seit Mitte der 1990er Jahre schuf erst allmählich den Nährboden dafür, der SPD nicht mehr das altgewohnte Vertrauen entgegenzubringen.

In den 1980er Jahren, auf dem Höhepunkt der Stahlkrise, erreichte die SPD bei Kommunalwahlen zwischen 55 und 60 % der Stimmen. Ihre prominentesten Repräsentanten Heinz Schleußer und Friedhelm van den Mond galten sowohl als „Männer von uns“ als auch als hochverantwortlich Handelnde, clevere und fähige Manager des Wandels. Symbolisch für die breite Unterstützung und das tiefe Vertrauen der Oberhausenerinnen und Oberhausener zu jener SPD war ein geflügeltes Wort von Heinz Schleußer: Wir Oberhausener Sozialdemokraten behandeln diese Stadt als unsere Verpflichtung, niemals als unsere Beute! Erst die Stadt, dann die Partei! – Ein solch hoher Anspruch bedarf der immerwährenden glaubwürdigen Bestätigung.

 

Durch eine Folge von Ereignissen zwischen 1995 und 2015, die in der Rückschau die Konturen einer Strukturentwicklung annehmen, bewirkte die Oberhausener Sozialdemokratie als gestaltende Mehrheit – ungewollt und unbewusst – eine schleichende Aushöhlung jenes Grundvertrauens der Bevölkerung in ihre Kompetenz ebenso wie in ihre Redlichkeit. Das ist die gravierendste längerfristige Ursache für den Verlust der Mehrheitsfähigkeit am 13. September 2015! Das soll nachfolgend dargelegt werden.

Gegenüber der Ära von Oberstadtdirektor und seit 1997 Oberbürgermeister Burkhard Drescher von 1992 bis 2004, geprägt von der Erfindung und weitgehenden Umsetzung des vielseitigen Stadtentwicklungskonzeptes Neue Mitte Oberhausen, wirkte die Ära von Oberbürgermeister Klaus Wehling von 2004 bis 2015 auf einen Teil der städtischen Öffentlichkeit als Stillstand. Das galt zwar keineswegs hinsichtlich des sozialen Klimas in der Stadt, jedoch in Bezug auf die Erwartung großer, baulich sichtbarer Zeichen der Stadtentwicklung. Maßgeblich dafür wiederum war das Scheitern des Großprojektes „O.VISION Zukunftspark - Marktplatz für Gesundheit“ auf dem Gelände des vormaligen Stahlwerkes Neu-Oberhausen, dann des Elektrostahlwerkes an der Osterfelder Straße im Januar 2006 (siehe auch oben). Zur Tragik für Oberbürgermeister Wehling sollte sich entwickeln, dass die 2005 ins Amt gewählte CDU-FDP-Landesregierung unter Ministerpräsident Jürgen Rüttgers die Bemühungen um eine Förderung von O.VISION aus EU-Mitteln 2006 einstellte, allerdings der Stadt von der Oberhausener Öffentlichkeit die erzwungene Aufgabe des Projektes vielfach als ihr Versagen angelastet wurde. Da nutzte es auch nichts, in 2005 durch die Halbierung der Projektkosten noch tatkräftig die Förderaussichten von O.VISION verbessert zu haben. Da nutzte es insbesondere auch nichts, der Stadt einen zweistelligen Millionenschaden durch den Grundstücksverkauf an die nordirische EAI - Euro Auctions Immobilien - Group zu einem Gesamtpreis von über 30 Mio. Euro erspart zu haben. Die wenigen, und zudem die wenig ansehnlichen Gewerbeansiedlungen auf dem nun SWO - Stahlwerk Oberhausen - genannten Grundstück wurden seitdem zu einem öffentlichen Mahnmal einer Stadtentwicklungspolitik, die quantitativ wie qualitativ hinter dem Gründungsjahrzehnt der Neuen Mitte Oberhausen zurückblieb.

Da wirkte selbst die kontinuierliche und erfolgreiche Entwicklung des Marina-Geländes auf der Fläche des ehemaligen Zementwerkes am Rhein-Herne-Kanal kaum als Gegengewicht. Das lag wohl daran, dass die Fläche zu klein war, um gesamtstädtische Strahlkraft zu entfalten. Es lag aber ebenfalls an der öffentlich-kommunalen Prägung der Projektentwicklung, von der Hafenanlage bis zum Freizeitbad Aquapark in unternehmerischer Verantwortung der Stadttochter OGM. - Die städtische Öffentlichkeit assoziierte erfolgreichen Strukturwandel offenkundig weiterhin mit der Dominanz privatwirtschaftlicher Großinvestments.

Zur Wahrnehmung von Stillstand trug schließlich die erfolglose Bewerbung um eine Fachhochschule für Gesundheitswirtschaft 2008/9 bei. Zeitgleich hatten sich die Nachbarstädte Mülheim und Bottrop erfolgreich um den Standort einer Fachhochschule für MINT-Studiengänge beworben, diese Bewerbung indes nicht für Oberhausen geöffnet. Nachfolgend wurde offensichtlich, dass das Land NRW auf unabsehbare Zeit keine neuen staatlichen Hochschulen mehr gründen würde; eine für die Oberhausener Öffentlichkeit umso schmerzlichere Verlusterfahrung. – Als weiteres Moment trug der bereits oben dargestellte, von Teilen der Stadtgesellschaft als programmatisches Vakuum erfahrene Mangel an einem Leitbild für Oberhausen, an einer umfassenden, vielseitigen und die breite Stadtgesellschaft integrierenden und überzeugenden Stadtentwicklungskonzeption zu der Wahrnehmung bei, in Oberhausen herrschten kommunale Handlungsdefizite.

Der Strukturwandel um die Neue Mitte Oberhausen und die forcierte Krise um den städtischen Haushalt bewirkten seit 1994 die Gründung zahlreicher städtischer Beteiligungsgesellschaften. Ihre Aufgaben bestanden in der Abwicklung von Immobilien- und Wirtschaftsförderungsprojekten, aber ebenso in der Bildung von Partnerschaften mit der Privatwirtschaft in gemischtwirtschaftlichen GmbHs für Aufgaben der Ver- und Entsorgungsinfrastruktur. So entstanden 1995 die Wirtschaftsbetriebe Oberhausen GmbH, zu 51 % eine Beteiligung der Stadt und zu 49 % des Entsorgungsunternehmens Rehtmann, das später in Remondis umfirmierte. 2002 beteiligte sich Remondis ebenfalls zu 49 % an der Gemeinschaftsmüllverbrennungsanlage Niederrhein in Lirich. 2001 beschritt die Stadt Oberhausen einen Weg neuer Qualität und gründete ihre alleinige Tochter OGM, Oberhausener Gebäudemanagement GmbH, um zukünftig vielfältigste Dienstleistungen für die Stadtverwaltung außerhalb der Stadtverwaltung – und damit außerhalb des direkten Zugriffs der Kommunalaufsicht – erbringen lassen zu können. Diese Argumentation wurde in der Öffentlichkeit erkennbar, so dass die Kommunalaufsicht seit 2001 zum äußerst kritischen Begleiter der neuen Stadttochter wurde.

Die Mehrwertsteuerpflicht der Leistungen der OGM ließ Zweifel daran aufkommen, dass die Gesellschaft wirtschaftlicher arbeitete als die städtischen Ämter zuvor. Die Besetzung der Geschäftsführung mit dem Unterbezirksvorsitzenden der SPD sowie in Personalunion mit dem Kämmerer beförderte zudem in Politik und Medien Vermutungen, zwischen Stadt und OGM werde in engem Einvernehmen und nach pragmatischen Bedarf von Stadt und Beteiligungsgesellschaft Geld transferiert. Damit rückte die Bildung des Stadtkonzerns Oberhausen in ein Zwielicht ähnlich demjenigen mancher privater Konzerne zur selben Zeit. Manche Bürger stellten einen Vergleich mit dem Unternehmen Karstadt an, das durch die Ausgliederung von Immobilien zu hohen Mietkosten von sich reden machte. Die OGM hielt das gesamte bewegliche Anlagevermögen der Stadt, das fortan in Jahresbeträgen als „Nutzungsentgelte“ samt Zinsen abgezahlt wurde.

Dem althergebrachten Oberhausener wurden diese modernen Geschäftspraktiken zunehmend suspekt. Es litt der seriöse Ruf des Geschäftsmodells Stadt als Ganzes, ebenso der Ruf mancher Sozialdemokraten in Spitzen- und Doppelfunktionen.

Was waren die Effekte dieser Konzernbildung für die Bürger bzw. aus Sicht der Bürger?

An Stelle einer Stadtverwaltung und sehr weniger Unternehmen, die wie STOAG und EVO seit Jahrzehnten direkte Leistungen für die Menschen anboten, stellte sich die Stadt Oberhausen fortan als ein unübersichtlicher, verschachtelter Konzern dar. Dessen Unternehmen traten für die Bürgerschaft meist nicht direkt in Erscheinung. Mit rund 30 Beteiligungsgesellschaften verfügte dieser Konzern auch nicht mehr nur über wenige markante Leitungsfunktionen – wie rund fünf Dezernenten und bis zu zehn Direktoren vom E-Werk bis zur Stadtsparkasse. Stattdessen waren bald etwa 50 Geschäftsführungspositionen zu besetzen. Manche von diesen wurden in Personalunion von Dezernenten wahrgenommen. Es entstand um die Jahrtausendwende erstmals der Eindruck, die Stadt Oberhausen habe attraktive Gehälter in zahlreichen Führungspositionen zu vergeben – und einige davon entfielen im Sinne attraktiver Zusatzverdienste auf die Leitungskräfte der Verwaltung. Und die OGM entwickelte sich zum Sinnbild eines undurchsichtigen, von politischen Leitungskräften gesteuerten Großunternehmens mit seit 2010 rund 650 Beschäftigten. – Die Filzkampagne von CDU-Oberbürgermeisterkandidat Daniel Schranz aus dem Jahr 2015 traf nunmehr auf den Nährboden, fand das Körnchen Wahrheit, ohne dass sie nicht so viel Erfolg hätte entfalten können.

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