Nationalsozialismus und Holocaust – Materialien, Zeitzeugen und Orte der Erinnerung in der schulischen Bildung

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D. „Was darf ich (nicht)?“

Lehrerinnen und Lehrer begeben sich vor allem in der Berufsschule in vielerlei Hinsicht auf unsicheres Terrain, wenn sie Nationalsozialismus und Holocaust unterrichten – in Bezug auf den Lehrplan, das Interesse der Jugendlichen, deren Vorwissen, Vorbehalte und Vorurteile und in Bezug auf das eigene Wissen über Zeitgeschichte. Vor allem wenn die Lehrperson weniger daten- und faktenorientierten Unterrichtszielen folgt und die Fragen, Interessen und Vergleiche der Lernenden ins Zentrum stellt, wird es oft auch mit viel historischem Wissen und Interesse für Erinnerungskulturen kompliziert und heikel. Wie sollte etwa mit dem Halbwissen und den popkulturell beeinflussten Vorstellungen der Jugendlichen umgegangen werden? Wie mit ihren Vergleichen und Gegenwartsbezügen? Wie mit ihren Provokationen und ihrer Ablehnung dem Thema gegenüber?

Zuerst ist es wichtig, einen verbindlichen Rahmen für eine Unterrichtseinheit zur Zeitgeschichte herzustellen. Im Idealfall sollte das Thema den Lernenden schon einige Zeit vor der Einheit angekündigt werden, damit Erwartungen, Befürchtungen und ablehnende Haltungen schon im Vorfeld Platz bekommen. Zu einem guten Rahmen gehört auch die Sicherheit, dass eigene Gedanken, Vorwissen, Fragen und Überlegungen willkommen sind und nicht sanktioniert werden. Gleichzeitig sollte im Fach Politische Bildung wie grundsätzlich in jeder Unterrichtssituation klar sein, dass eine inhaltliche Auseinandersetzung auf Basis von Wissenschaftlichkeit, Respekt und den Menschenrechten stattfinden muss.

Ist eine grundsätzliche Bereitschaft zur ernsthaften Auseinandersetzung im Vorfeld gemeinsam festgestellt worden, dann sind von Seiten der Lehrenden keine mahnenden Appelle notwendig und von Seiten der Schülerinnen und Schüler weniger abwehrende Provokationen und „unpassende“ Kommentare zu erwarten. Bei der Leitung einer Unterrichtseinheit zum Thema Nationalsozialismus und Holocaust soll der Beutelsbacher Konsens zur Anwendung kommen: das Verbot der Überwältigung, das Gebot der Kontroversität und das Gebot der Interessenorientierung. Die Geschichte des Holocaust ist an sich überwältigend. Es braucht hier kein Heranziehen der Bedeutung des Themas zur Disziplinierung einer Klasse, keine Überwältigung durch grauenhafte Bilder, keinen Zwang zur Trauer und letzten Endes auch keinen Zwang zur Auseinandersetzung. Wenn die Jugendlichen einer Schulklasse z. B. sagen, dass sie keine Exkursion nach Mauthausen machen wollen, dann ist das zu akzeptieren und den Schülerinnen und Schülern kein generelles Desinteresse zu unterstellen. Kontroversität bedeutet, dass kontrovers dargestellt werden soll, was in der Gesellschaft kontrovers ist. Nicht kontrovers diskutieren muss man über historische Fakten oder etwa darüber, ob es nicht auch „gute Seiten“ am Nationalsozialismus gab. Ein solcher Mythos soll zwar besprochen werden, ohne die Person zu beschämen, die ihn vorgebracht hat, doch ist die Lehrperson hier aufgefordert, den Mythos fragend zu dekonstruieren: Für wen hatte das NS-System „gute Seiten“? Wer und was muss ignoriert werden, um diese vermeintlich „guten Seiten“ betonen zu können? Ein solcher historischer Mythos muss diskutierbar sein, sollte aber nicht als „alternative Meinung“ zu diesem Thema gleichberechtigt stehen bleiben. Das Gebot der Interessenorientierung bedeutet in diesem Kontext das Anknüpfen an konkrete Biografien, an Orte, die für die Lernenden Bedeutung haben, an altersspezifische oder berufliche Erfahrungen – und damit auch eine Abkehr von der Vermittlung von Zeitgeschichte ausgehend von Zahlen, Daten und Fakten.

Diese Hinwendung zu den Fragen der Jugendlichen birgt wohl für jede Lehrperson Unsicherheiten – doch es zahlt sich aus, sich diesen gemeinsam mit den Lernenden zu stellen. Hilfreich ist dabei passendes Unterrichtsmaterial für die besonderen Herausforderungen der Berufsschule.

„Wer ist schuld am Tod von Edith Winkler?“ – Ein Beispiel aus der Praxis

Viele Unterrichtsmaterialien von _erinnern.at_ bemühen sich ausgehend von Biografien, eine offene Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seinen Verbrechen zu ermöglichen. Die Unterrichtseinheit „Wer ist schuld am Tod von Edith Winkler“ liegt darüber hinaus auch in einfacher Sprache vor. Die Schülerinnen und Schüler beschäftigen sich im ersten Schritt mit der Geschichte der Familie Winkler, einer aufgeklärt-jüdischen Familie aus Wien mit zwei Kindern. Eines dieser Kinder, Jessy, kann ins britische Mandatsgebiet Palästina flüchten, alle anderen werden von den Nazis ermordet. Die Geschichte der Familie Winkler führt zu vielen Fragen über grundlegendes Wissen zum Nationalsozialismus. Lernende können hier nachfragen oder ihr Vorwissen einbringen, Begriffe klären und erzählen, woher sie bisher über den Nationalsozialismus gehört haben. In einem zweiten Schritt bekommen die Jugendlichen allein oder zu zweit kurze Biografien von Menschen, die Verfolgten geholfen haben; von anderen, die von der nationalsozialistischen Herrschaft profitiert haben; von Menschen, die sich an den Verbrechen führend beteiligt haben oder die einfach mitgemacht haben. Die Schülerinnen und Schüler setzen sich damit auseinander, wie sich eine konkrete Person zu den Verbrechen des Nationalsozialismus, für die der Tod von Edith Winkler steht, verhalten haben. Fast automatisch werden weitere Fragen aufgeworfen: Welche Handlungsmöglichkeiten hatte die Person? Welche Motivationen könnte sie gehabt haben? Hat sie durch ihr Handeln eine Mitschuld am Tod Edith Winklers? Der Prozess der Auseinandersetzung wird hier stets von den Fragen, Meinungen und Überlegungen der Jugendlichen geleitet. Die Lehrperson, die im ersten Teil eine gemeinsame Wissensbasis hergestellt hat, moderiert hier vor allem und fragt nach. So führt diese zwei oder drei Schulstunden umfassende Unterrichtseinheit am Ende meist zu einer Debatte über die persönliche Verantwortung für gesellschaftliche Entwicklungen, Handlungsspielräume und das Verhalten konkreter Personen. Viele Fragen zu Voraussetzungen des Völkermordes, historischen Entwicklungen und geschichtspolitischen Debatten bleiben in der kurzen Zeit natürlich offen, aber im besten Fall wurde Interesse für weitere Auseinandersetzung geweckt.

Fazit

Zusammenfassend möchte ich festhalten, dass sich historisch-politischer Unterricht mit Lehrlingen vor allem dadurch von Geschichtsunterricht am Gymnasium unterscheidet, dass die Rahmenbedingungen andere sind. Die Haltungen der Lernenden, ihr Interesse und ihre Fragen sind bei Lehrlingen, Gymnasiastinnen und Gymnasiasten ebenso ähnlich wie die Herausforderungen für ihre Lehrende. Ich selbst konnte in den letzten zehn Jahren langsam und unter Beachtung der besonderen Voraussetzungen wieder zu meiner ursprünglichen Motivation zurückfinden, mit Lehrlingen über Nationalsozialismus und Holocaust, über Geschichtsbilder, Geschichtspolitik, Erinnerungskultur, aber auch über aktuellen Antisemitismus, Rassismus, Homophobie zu sprechen. Und das nicht nur im Fach Politische Bildung – das in Österreich verankerte Unterrichtsprinzip politische Bildung ist eine Aufforderung an uns Lehrende, auf diese Themen auch in anderen Fächern einzugehen, wenn sie aufkommen. Und das geschieht regelmäßig durch die Schülerinnen und Schüler, wenn man als Lehrperson eine gewisse Sensibilität und die Bereitschaft, sich offen mit Welt- und Menschenbildern zu beschäftigen, in den Unterricht mitbringt.

Die unterschiedlichen Rahmenbedingungen für historisch-politische Bildung führen wohl oft dazu, dass Lernenden an Gymnasien eher zugetraut wird, sich mit dem Thema Nationalsozialismus und Holocaust sinnvoll auseinandersetzen zu können, und dass Lehrlinge meist nur als Problem, als „Objekte mit vermuteten und zu behebenden Wissens-, Einstellungs- und Verhaltensdefiziten“ (Scheurich, 2010, S. 38) wahrgenommen werden. Doch haben Gymnasiastinnen und Gymnasiasten vielleicht nur besser gelernt, welche Fragen bei diesem Thema richtig und welches Verhalten angemessen ist. Lehrlinge interessieren sich genau wie andere Jugendliche für Geschichte, wenn es um eigene Haltungen, eigene Weltsichten und die eigenen Fragen an Geschichte geht und sie als Subjekte im Prozess der Deutung von Geschichte ernstgenommen werden.

Literaturverzeichnis

International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA): Empfehlungen für das Lehren und Lernen über den Holocaust (o. O. 2019), https://www.holocaustremembrance.com/de/resources/educational-materials/empfehlungen-zumlehren-und-lernen-ueber-den-holocaust (29.11.2020).

Borries, Bodo von: Fallstricke interkulturellen Geschichtslernens. Opas Schulbuchunterricht ist tot, in: Georgi, Viola B. / Rainer Ohlinger (Hrsg.): Crossover Geschichte. Historisches Bewusstsein Jugendlicher in der Einwanderungsgesellschaft (Bonn 2009) S. 25–45.

Dornmayr, Helmut / Sabine Nowak: Lehrlingsausbildung im Überblick 2020. Strukturdaten, Trends und Perspektiven (Wien 2020).

Georgi, Viola B.: „Ich kann mich für Dinge interessieren, für die sich Jugendliche Deutsche auch interessieren.“ Zur Bedeutung der NS-Geschichte und des Holocaust für Jugendliche aus Einwandererfamilien, in: Georgi, Viola B. / Rainer Ohlinger(Hrsg.): Crossover Geschichte. Historisches Bewusstsein Jugendlicher in der Einwanderungsgesellschaft (Bonn 2009) S. 90–108.

Kapeller, Lukas: „Berufsschüler sind eine vergessene Mehrheit“, in: Der Standard, 24.11.2010, https://www.derstandard.at/story/1289608020535/berufsschuelersind-eine-vergessene-mehrheit (29.11.2020).

 

Lauss, Georg; Stefan Schmid-Heher: Zum Umgang mit Antisemitismus und anderen Formen Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in der Berufsschule, in: Hagen, Nikolaus; Tobias Neuburger (Hrsg.): Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft. Theoretische Überlegungen, Empirische Fallbeispiele, Pädagogische Praxis (Innsbruck 2020) S. 161–183.

Mittnik, Philipp u. a.: Generation des Vergessens? Deklaratives Wissen von Schüler*innen über Nationalsozialismus, Holocaust und den Zweiten Weltkrieg (Frankfurt 2021).

Peham, Andreas / Elke Rajal: Rechtsextremismusprävention in der Schule: Ein ambitioniertes Programm, in: FIPU (Hrsg.): Rechtsextremismus. Band 2: Prävention und politische Bildung (Wien 2016) S. 85–136.

Rosa, Lisa: „Was hat das mit mir zu tun?“ Persönlicher Sinn und historisch-politisches Lernen, in: Giest, Hartmut / Georg Rückriem (Hrsg.): Tätigkeitstheorie und (Wissens-)Gesellschaft. Fragen und Antworten tätigkeitstheoretischer Forschung und Praxis (Berlin 2010) S. 149–174.

Schmid-Heher, Stefan: Populismus als Herausforderung für die Politische Bildung an Berufsschulen. Demokratie- und Politikvorstellungen von BerufsschullehrerInnen im Brennpunkt, in: Buchberger, Wolfgang / Philipp Mittnik (Hrsg.): Herausforderung Populismus. Multidisziplinäre Zugänge für die Politische Bildung (Frankfurt/M. 2019) S. 93–120.

Scheurich, Imke: NS-Gedenkstätten als Orte kritischer historisch-politischer Bildung, in: Thimm, Barbara / Gottfried Kößler / Susanne Ulrich (Hrsg.): Verunsichernde Orte. Selbstverständnis und Weiterbildung in der Gedenkstättenpädagogik (Frankfurt/M. 2010) S. 38–45.

Falk Pingel
Im Spiegel des Schulbuchs: Die Darstellung des Nationalsozialismus im deutschen Schulgeschichtsbuch und Ergebnisse der deutsch-israelischen Schulbuchgespräche

Schulbuchanalysen haben fast ein Jahrhundert lang als ein probates Mittel gegolten, Einblick in Unterrichtsinhalte und -methoden zu erhalten, ohne aufwändige Unterrichtsbeobachtungen vorzunehmen. Dahinter stand die Annahme, dass das Schulbuch die ministeriellen Unterrichtsvorgaben abbilden und für den Unterricht eine Leitfunktion einnehmen würde. Obwohl sich Unterrichtsvorgaben und Unterrichtspraxis nie genau entsprochen haben, ist die Beziehung zwischen Schulbuch und Lehrpraxis heute offener als in den Nachkriegsjahrzehnten, jedenfalls in Österreich und Deutschland. Hier hat in den letzten Jahrzehnten die Freiheit der Lehrpersonen sowie auch der Schülerinnen und Schüler zugenommen, sich Unterrichtsinhalte auszuwählen, neue Methoden und vor allem Medien jenseits des traditionellen Leitmediums „Schulbuch“ heranzuziehen. Auch hat die Unterrichtsforschung bedeutende Fortschritte gemacht und kann dank videografierter Unterrichtsbeobachtung genauere Ergebnisse erzielen (Gautschi, 2009; allgemein: Rauin, 2016). Wenn wir aber versuchen, einen Überblick über eine größere Zeitspanne zu gewinnen, die – wie in diesem Beitrag – ca. 70 Jahre umfasst und einem speziellen Thema des Geschichtsunterrichts gewidmet ist, so würden uns die vorliegenden empirischen Daten zur Unterrichtspraxis nicht genügend Informationen liefern und daher bleiben wir auf das Mittel der Schulbuchanalyse angewiesen. Zudem gilt nach wie vor, dass ein Sample häufig von den Schulen georderter Schulgeschichtsbücher einen repräsentativen Einblick in die Möglichkeiten eines curricular eingefassten Unterrichts bietet. Sicherlich gehen Lehrende in vielen Fällen über das im jeweiligen Buch angebotene Material und die dort vorgesehenen Methoden hinaus, doch blicken wir auf das gesamte Sample, so wird dies weitgehend auch die jeweilige Unterrichtspraxis abdecken. Es dürfte dann sogar gelten, dass die Schulbücher des Sample mehr Inhaltsbereiche und methodische Zugänge anbieten, als im jeweiligen Unterricht konkret eingesetzt werden. Allenfalls Projektunterricht dürfte in Tiefe und Detail über das Schulbuchsample hinausgehen. Unter diesen Kautelen ist die folgende diachrone Analyse zu lesen.1

Schulbuchanalyse war zwar in der unmittelbaren Nachkriegszeit noch kein etablierter Forschungszweig, doch gab es Historiker und Geschichtsdidaktiker bzw. -lehrer, die mit ihren Inhalten und Methoden bereits aus Auseinandersetzungen um die Inhalte von Geschichtsbüchern aus der Weimarer Republik (Kawerau, 1927) und aus dem Feld der internationalen Schulbuchrevision vertraut waren (Pingel, 2010). Diese Tradition erhielt angesichts des drängenden Revisionsbedarfes nach der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland neue Aktualität und führte hier zu Gründung eines ersten, noch kleinen „Internationalen Schulbuchinstituts“ an der damaligen Pädagogischen Hochschule in Braunschweig, das sich im Laufe der Jahrzehnte zu einer einzigartigen Forschungsinstitution entwickelt hat, dem „Georg-Eckert-Institut – Leibniz Institut für internationale Schulbuchforschung“ (gei.de). In vielen der vom Institut organisierten internationalen Schulbuchkonferenzen und -kommissionen spielte die Analyse der Darstellung des Nationalsozialismus (im Folgenden NS) in deutschen Schulgeschichtsbüchern seit den 1950er-Jahren eine wichtige Rolle. Eigenständige Schulbuchanalysen zur Darstellung des NS erschienen aber erst ab den 1960er-Jahren, beginnend mit einer Kritik von linker, um nicht zu sagen marxistischer Seite (Andresen, 1960). Vielleicht wirkte diese Kritik wie eine Provokation, die in den folgenden Jahren weitere Analysen nach sich zog.

Jahre der Stabilisierung: Neutralisierende Anerkennung von Verbrechen und Minimierung der (Mit-)Täterschaft

Zwei Erzählstränge haben die Schulbuchdarstellung des Nationalsozialismus in den 1950er- und 1960er-Jahren im Wesentlichen geprägt:

– die Herrschaftsentfaltung und -sicherung nach innen in den Jahren von der „Machtergreifung“ bis zum Kriegsbeginn

– der Krieg als Versuch, die Herrschaft gewaltsam nach außen auszuweiten („Lebensraum“-Konzept).

Die 1950er-Jahre gelten gemeinhin als die Phase der Verharmlosung von NS-Verbrechen oder ihrer Verdrängung aus dem zeithistorischen Bewusstsein der bundesdeutschen Gesellschaft (Frei, 2012). Diesen Trend spiegelten die Geschichtsbücher wider. Die Träger von und die Schuldigen für Terror und Verfolgung, die sich fernab vom Volk vollziehen würden, wurden vor allem in der fanatischen NS-Führungsschicht gesehen. So bezeichnet einer der erfolgreichsten Geschichtsbuchautoren dieser Zeit die „Ausrottung der östlichen millionenköpfigen Judenschaft“ als „beispiellos in der Menschheitsgeschichte“ – wiewohl er den Eindruck hervorruft, dass hiervon die Juden im „Reich“ und in den westlichen besetzten Ländern nicht betroffen waren –, doch fügt er einschränkend und entschuldigend und entgegen der Kenntnisse, die dazu seit den Nürnberger Prozessen vorlagen, hinzu: „Hitler wusste, daß er der deutschen Armee und seinem Offizierskorps derartige Menschenvernichtungsbefehle nicht zumuten durfte. Deshalb ließ er Sondertruppen aufstellen …“ (Geschichtliches Unterrichtswerk, 1957, S. 153). Gerade bei der Schilderung von Massenverbrechen bedienten sich die Autoreninnen und Autoren der Sprache der Täter, Opfer kommen zu dieser Zeit kaum zu Wort. Der Ermordung der Juden wird in der Regel weder ein eigenes Kapitel noch ein eigener Abschnitt gewidmet. Sie wird als Teil des Zweiten Weltkrieges abgehandelt. Aber schon damit gingen die Schulbücher oft über das hinaus, was tatsächlich im Unterricht besprochen wurde. Ohne hierzu über quantitative Daten zu verfügen, lässt sich aufgrund von Erfahrungswissen sagen, dass in vielen Klassen, zumal in der Volks- und Mittelschule, die mit der neunten oder zehnten Klasse endeten, der Geschichtsunterricht kaum über den Ersten Weltkrieg hinausreichte.

Die skizzierte Art der Schulbuchdarstellung des NS war weder selbstverständlich noch alternativlos, sondern bedeutete eine bewusste Abkehr von Neuansätzen, die sich während der Besatzungszeit geboten hatten. Dafür steht das bis zur Mitte der 1950er-Jahre häufig benutzte Schulbuch „Wege der Völker“, das auf Massenverbrechen und Judenmord ohne entschuldigenden Unterton deutlich eingegangen war. Es hatte bereits die Frage nach der Mitverantwortung der vielen Mitläufer gestellt und moralisch-politisch eine eindeutige Position bezogen, indem die Autorinnen und Autoren den Mord an den Juden „das grausigste und beschämendste Kapitel in der Geschichte des Dritten Reiches“ nannten (Wege der Völker, 1948–49).

Seit Mitte der 1960er-Jahre änderte sich die Kriegserzählung. Die bisher vorherrschende militärgeschichtliche Perspektive trat zurück und die Opfer der NSHerrschaft sowohl im Reich als auch in den besetzten Gebieten rückten in den Blickpunkt. Man darf letzteren Ausdruck durchaus wörtlich nehmen, denn bisher hatte die Erzählung aus relativ nüchternem, beschreibendem und Fakten-orientiertem Text bestanden; nun illustrierten die Erzählung Bilder, zumeist Fotografien, die das Leiden von Verfolgten zeigten und damit auch Emotionen ansprachen. Diese Zunahme der „Opferperspektive“ hat sich bis ins vergangene Jahrzehnt fortgesetzt.

Der Wandel in der Geschichtsbuchdarstellung ab Mitte der 1960er-Jahre spielte sich auf dem Hintergrund eines zunehmenden Bewusstseins vom Ausmaß der Verbrechen ab, u. a. ausgelöst durch deren verstärkte juristische Verfolgung mit den Höhepunkten des Auschwitz-Prozesses im Jahre 1967 und der Gesellschaftskritik der 1968er-Studentenbewegung. Aufsehen erregten – zumindest in der pädagogischen Fachwelt – erste empirische Untersuchungen, die feststellten, dass die Geschichtsdeutung Jugendlicher von stark personalisierten Ordnungsvorstellungen geprägt war, die Hitler als mehr oder weniger Alleinverantwortlichen ansahen; die Schulbücher waren eher geeignet, eine solche Geschichtssicht zu unterstützen als aufzulösen. Soweit die Massenverbrechen – insbesondere bei den Gymnasiastinnen und Gymnasiasten – bekannt waren, wurden sie damit entschuldigt, dass die Bevölkerung davon nichts gewusst habe (Jaide, 1963; Friedeburg, 1964). Die Kultusminister nahmen diese Ergebnisse mit Besorgnis wahr und erinnerten durch schärfere Richtlinien daran, dass der Unterricht über den NS Teil des Pflichtcurriculums sei und hierfür in der Unterrichtspraxis mehr Zeit eingeräumt werden müsse. Insbesondere der Mord an den Juden wurde nun ausführlicher und mit mehr Empathie für die Opfer dargestellt. Im Zentrum stand der von den Nazis propagierte Antisemitismus. Dennoch spiegelten die vermehrt eingesetzten Quellen überwiegend noch die Sprache der Täter wider. Immerhin erschienen in den 1970er- und 1980er-Jahren neu erschienene Werke mit zum Teil deutlich emphatischer und nicht mehr distanzierender Sprache. „Ihr Leben war die Hölle. Ursachen und Ausmaß der Judenvernichtung“ betitelte eines dieser neuen Werke das entsprechende Kapitel, in dem erstmals, wenn auch nur kurz, theoretische Ansätze wie die Sündenbocktheorie zur Erklärung des Antisemitismus herangezogen wurden (Zeitaufnahme, 1981). Seit den 1980er-Jahren werden Abschnitte zum „Holocaust“2 aus dem unmittelbar textlichen Zusammenhang des Zweiten Weltkrieges herausgelöst und in einem eigenständigen Kapitel behandelt. Mit der nunmehr herausgehobenen Behandlung der Vernichtung rückten auch deren Vorstadien von Diskriminierung, Isolierung und Verfolgung der Juden in der Vorkriegszeit mehr in die Aufmerksamkeit der Autoreninnen und Autoren. Insbesondere der alle zwei Jahre ausgeschriebene „Schülerwettbewerb Geschichte um den Preis des Bundespräsidenten“ der Hamburger Körber-Stiftung initiierte eigene Schülerforschungen in lokalen Archiven zum alltäglichen Leben im NS und dessen Nähe zu NS-Ideologie und Verfolgungsmaßnahmen (Galinski, 1982; Galinski, 1985; Hopf, 1985; Remembering, 1995) und wirkte auf die Schulbücher zurück, die Alltagsthemen stärker aufnahmen, zum Teil das „Wegschauen“ der Bevölkerung gegenüber der Judendiskriminierung und -verfolgung sowie persönliche Bereicherung durch die Arisierungen thematisierten (Schinkel, 2018, S. 200ff.). Auch die Massentötungen in den besetzten Ostgebieten kamen nun zur Sprache, zum Teil veranschaulicht durch Quellen und Bilder.

Damit haben wir die Zeit erreicht, in der erstmals eine deutsch-israelische Schulbuchkommission zusammentrat und im Jahre 1985 die in gemeinsamer Arbeit erstellten Empfehlungen vorlegte (Deutsch-israelische Schulbuchempfehlungen, 1985). Die mit dem NS zusammenhängenden Empfehlungen für die deutschen Schulbücher zeigten sowohl Erreichtes als auch weiter bestehende Defizite auf.

 

Zwar würden die Verfolgungsmaßnahmen in ihrer Abfolge sowie auch der Antisemitismus vor dem NS dargestellt, doch fehlten Vergleichs- und Anknüpfungspunkte zur Judenfeindschaft vor der Moderne – eine Kritik, die für aktuelle Geschichtsbücher in der Regel nicht mehr zutrifft.

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