Milieusensible Pastoral

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3 Auf dem Weg zu einer milieusensiblen Kommunikation des Evangeliums – Konsequenzen

Wer die sozialwissenschaftlichen Befunde ernst nimmt, für den kann eigentlich nicht mehr die Frage sein, ob Kirche auf die Fragmentierung und Segmentierung in der Gesellschaft und in ihren Reihen reagiert, sondern nur noch, wie sie reagieren soll. In dieser Hinsicht stehen wir noch ganz am Anfang. Ich kann abschließend im Folgenden nur einige Stichworte geben und Leitlinien nennen.21 Ich nenne kategorial unterschiedliche, nicht religionsphilosophische, sondern auch theologische sowie institutionelle Gesichtspunkte. Ich möchte aber beginnen mit dem, was mir in den vergangenen Jahren in vielen Begegnungen und Auseinandersetzungen als entscheidende Einsicht zugewachsen ist.

a) Die geistliche Dimension der
anstehenden VeränderungsProzesse

(1) „und hätte der Liebe nicht …“

Alle theologischen Erwägungen und institutionellen Anstrengungen werden letztlich ins Leere laufen, wenn unsere Kirche(n) nicht wirklich missionarisch wird/werden. „Das Missionarische“ kann man nicht machen. Es ist zuerst und zuletzt keine Methode, auch keine Anstrengung, kein zwanghaftes Muss – es ist in erster Linie ein Blick der Zuwendung, eine Offenheit für die Wahrnehmung derer, die das Evangelium nicht kennen, aber brauchen, ein Haltung der Liebe, die allein die Kraft für die notwendigen VeränderungsProzesse geben kann. Um diese Zuwendung müssen wir ringen, mit anderen, aber doch zunächst mit uns selbst. „Die Kirche“ muss sich öffnen für die, die sie erreichen möchte, aber nicht erreicht. Die konkreten Menschen, die „die Kirche“ ausmachen, sind Verantwortungsträger auf unterschiedlichen Ebenen, die sehr konkrete Fragen, Einwände, auch Ängste haben. Vielfach spüren sie instinktiv, wie groß die Herausforderung ist, die auf die Kirche(n) zukommt, wenn man die Milieusensibilität als Perspektive wirklich verankern will, und dass es eben mit ein paar Orga-Maßnahmen nicht getan ist. Der VeränderungsProzess hat nur eine Chance, wenn wir anhaltend mit Entscheidern und Kommunikatoren um ihn ringen und sie von den überwältigenden Chancen überzeugen, die in diesem ekklesiologischen Hebel liegen. Es geht ja um nicht weniger als darum, dass wir mit der Milieubrille eine „Sehhilfe“ (Cl. Schulz)22 bekommen, die nicht ein totes Augenglas darstellt, sondern uns Beine macht, wenn wir wahr nehmen, was wir wahrnehmen.

Es geht darum, dass die Milieusensibilisierung das Zeug hat, dass Volkskirche das Volk neu entdeckt; dass missionarische Volkskirche dadurch endlich und wirklich und wieder missionarisch wird; dass sie sich zunächst in einem sozialwissenschaftlich gestützten Wahrnehmungsakt und dann in einer resultierenden, konkreten, präzise fokussierten Bewegung Menschen zuwendet, von denen sich viele engagierte Christen, auch kirchenleitende Persönlichkeiten, bis heute gar nicht vorstellen können, dass es sie gibt, auch in der Kirche gibt.23

Notwendig ist also eine geistliche Achtsamkeit, zunächst unter uns, die wir für den Prozess hin zu einer milieusensiblen Pastoral werben, und dann in unserer Kirche, wenn sie denn wirklich an ihrem Anspruch festhalten will, nicht nur Kirche für Menschen mit einer bestimmten kulturellen und mentalen Prägung zu sein, sondern das Evangelium an alle zu kommunizieren.

(2) Milieufragen als Machtfragen: die Herausforderung – nicht begriffener – Milieudominanz

Es kann eine Hilfe sein, die Machtfragen anzusprechen, die sich mehr oder minder verdeckt mit der Milieuthematik verbinden:

– Die verschiedenen real existierenden kirchlichen Einrichtungen sind jeweils bestimmt durch dominante Milieus. Diese können sich unterscheiden. In einer kleinen Universitätsstadt kann es eine postmaterielle Prägung sein, in einem Stadtviertel wohlhabender Alteingesessener kann es ein konservativ-etabliertes Milieu sein, das die Lebensäußerungen einer Kirchengemeinde prägt. In jedem Fall ist es dominant, d.h., es versucht, zu bestehen, sich selbst zu behaupten; es folgt der Gesetzmäßigkeit des Selbstrekrutierungsmechanismus, der für alle – zunächst einmal auch kirchliche – Gruppen von Menschen gilt: Wir wollen eigentlich so bleiben, wie wir sind, weil und wenn wir uns so, wie wir sind, wohl fühlen. Wir haben diese Lebenswelt ja so geschaffen, wie sie ist. Sie passt jetzt zu uns. Zu uns kann kommen, wer sich uns anpasst. Wer anders ist und sich nicht anpassen kann bzw. will, wird über kurz oder lang merken, dass er nicht (zu uns) passt und nicht dazugehört. – Bei einem Kaninchenzüchterverein oder noch bei einer politischen Gruppierung sind solche Mechanismen womöglich verschmerzbar; schwierig wird es, wenn sich Gruppen in der Kirche so verhalten und geradezu dazu tendieren, ihre eigene Prägung mit der christlichen zu identifizieren, die Prägung der Kirchengemeinde mit dem Wesen von Kirche zu verwechseln.

– Ressourcenverteilung und -gerechtigkeit sind weitere Themen, ggf. auch Hebel, mit denen in Kirche als System die Notwendigkeit der Milieuausdifferenzierung zur Geltung gebracht werden kann. Wenn Kirche wirklich nur zweieinhalb Milieus erreicht, wiederholte Sinus-Studien aber zeigen, dass – erstaunlicherweise – der Prozentsatz von (katholischen) Kirchenmitgliedern in den „kirchenfernen“ modernen und postmodernen Milieus nahezu auf der Höhe des Prozentsatzes der Katholiken an der Gesamtbevölkerung liegt, dann scheint es hier doch ein massives Verteilungsproblem zu geben. Die Kirchensteuermittel, die von allen Milieus aufgebracht werden, kommen vor allem einigen wenigen zu Gute. Speziell das ortsgemeindliche Leben, das vor allem den Bedürfnissen traditionsorientierter Christen dient, erhält den Löwenanteil der Kirchensteuermittel. Das bislang oft zu hörende Argument, jeder könne sich ja zur Kirchengemeinde halten, diese stehe ja allen offen, lässt sich im Licht der Lebensweltforschung nicht mehr aufrechterhalten. Eine solche Argumentation ist eben nicht milieusensibel. Sie übersieht die ebenso inkludierende wie exkludierende Wirkung bestimmter Milieus außerhalb und eben auch innerhalb der Kirche. Zum Kapitel Ressourcengerechtigkeit gehört auch die Frage: Für welche Zielgruppen wird kirchliches Personal angestellt? Wie steht es mit Zielgruppen außerhalb der Alten und Jungen? Was ist mit den Singles? Es gibt doch nicht nur die Familien, im Gegenteil, es gibt immer weniger. Wo kommen Arbeitslose und Akademiker, wo Arbeiter und leitende Angestellte in Regelangeboten von Kirchengemeinden vor? Warum sollen Menschen in der Kirche bleiben, wenn sie von ihren sich im Laufe der Zeit enorm summierenden Beiträgen keinen persönlichen Profit haben, abgesehen von punktuellen Berührungen an einigen Schnittpunkten des Lebens?

Das sind ziemlich radikale Fragen. Es fällt nun noch einmal anderes Licht auf die Frage: Wer verhält sich hier letztlich unchristlich: Alteingesessene Christen, die anderen den Zugang zur Kirche versperren, oder Menschen, die den Weg in die Kirche nicht finden, weil es nicht ihre Kirche ist?

b) Theologische Konsequenzen

(1) Kirche neu und anders denken: neue Formate von Kirche in einer sich verändernden Gesellschaft

Wir müssen darüber nachdenken, welche Gestalt Kirche in einer sich radikal verändernden Gesellschaft braucht, wenn sie bei den Menschen sein will. Die Ortskirchengemeinde hat sich über mehrere Jahrhunderte sehr bewährt. Sie hat sehr viele Menschen erreicht und ein flächendeckendes Netz über die Menschen gespannt. Heute müssen wir wahrnehmen: die Lebensweisen der Menschen haben sich nicht nur sehr ausdifferenziert. Die Biographien sind bruchstückhafter, zeigen weit weniger Konstanz als früher, sind durch hohe Erwartungen an Flexibilität und Dynamik gekennzeichnet. Wir nehmen wahr, dass zu der dem Selbstverständnis der Kirchen nach wichtigsten Regelveranstaltung, dem Gottesdienst, im evangelischen Bereich nur noch 3–10%, im Durchschnitt 4% Kirchenmitglieder finden. Die Ortskirchengemeinde hat sich sehr bewährt, und sie muss ein Regelangebot von Kirche bleiben. Aber sie erreicht nur noch einen kleinen, eher älteren, eher traditionsorientierten Teil der Bevölkerung. Wenn sich unsere Gesellschaft in Lebenswelten mit sehr unterschiedlichen Prägungen ausdifferenziert, dann liegt es nahe, dass Kirche diese Ausdifferenzierung nachvollzieht. Das bedeutet: Neben der parochialen Gestalt von Kirche brauchen wir ergänzende alternative Gestalten, mit denen wir Menschen in ihrer Lebenswelt erreichen – etwa da und dann, wenn die gegebene Ortskirchengemeinde vor Ort ihre Lebenswelt nicht ist, für sie nicht anschlussfähig ist. Die anglikanische Kirche, die vor ähnlichen Herausforderungen steht wie die Volkskirchen in Deutschland, aber noch einem sehr viel härteren Säkularisierungsdruck ausgesetzt ist, spricht von der Notwendigkeit von fresh expressions of church.24 Sie strebt programmatisch eine mixed economy von herkömmlichen, ortskirchengemeindlich organisierten Gemeindeformen und alternativen Gestalten von „Kirche“ an, die sich dort ergeben, wo sich Christen – im Auftrag ihrer Kirche und mit ihrer Unterstützung – auf die Lebenswelten der Menschen in ihrer Gesellschaft einlassen.

(2) Mentale Umorientierung: von der Komm-Struktur zur Geh-Struktur

Neben die traditionelle und bewährte Komm-Struktur von Kirche muss die Geh-Struktur treten. Wir dürfen und müssen Menschen weiterhin einladen, zu unseren Gottesdiensten, in unsere Räumlichkeiten, zu unseren kirchlichen Veranstaltungen. Wir müssen aber realisieren, dass wir mit dieser Struktur nur einen Bruchteil der Menschen erreichen und interessieren, auch wenn sie sich zum gegebenen kirchlichen Leben vor Ort halten. Milieusensibilisierung heißt in diesem Zusammenhang: verstehen, dass auch das gegebene kirchliche Leben immer eine bestimmte Prägung ist, die – hoffentlich – Menschen erreicht, aber eben dadurch, dass sie für bestimmte Menschen interessant ist, die sich in ihr wohl fühlen und zu ihr passen, andere ebenso sicher abschreckt, abstößt und ausschließt. Die Pluralisierung der Lebensumstände zieht es nach sich, dass es nicht nur ästhetische und mentale Barrieren sind, die Menschen abhalten, sich dem kirchlichen Leben vor Ort anzuschließen. Sehr viele sind am Wochenende beschäftigt; sehr viele sind unterwegs; viele haben am Sonntagmorgen oder Samstagabend die einzige Möglichkeit, als Familie zusammen zu sein. Viele empfinden freilich auch kirchliche Gebäude, kirchliche Umgangsformen und Redeweisen, Rituale und Einstellungen als Teil einer Lebenswelt, die nicht zu ihnen passt und – das spüren sie instinktiv – zu der sie nicht passen. Wer das bewerten will, muss sich vergegenwärtigen, dass ebendas kirchengemeindliche Leben vor Ort nicht die christliche Lebensweise an sich repräsentiert, auch wenn dieser Kurzschluss je eher naheliegt, je weniger man sich öffnet – sondern eben nur eine mögliche Prägung darstellt. Wer Menschen erreichen will, die sich durch unsere Regelangebote einer Komm-Kirche nicht ansprechen lassen (von Kasualien einmal abgesehen), der muss die Komm-Struktur durch eine Geh-Struktur ergänzen. Wer Menschen in ihre Lebenswelten folgt und in ihnen Gemeinde baut, folgt damit dem Vorbild des lebendigen Gottes, der seine himmlische Herrlichkeit verlässt, auf die offenbar nicht sehr erfolgreiche Komm-Struktur verzichtet, sich in Jesus selbst auf den Weg macht und in unsere Lebenswelt(en) eintaucht, Mensch wird wie wir, in allem versucht wird wie wir und in der Begegnung mit den Abgründen und Untiefen menschlicher Lebenswelten Barmherzigkeit lernt.25 Diese Kommunikationsweise des lebendigen Gottes ist beispielhaft für Kirche und Christen, die Menschen erreichen wollen, die sich interessieren, indem sie zwischen, bei den Menschen sind.

 

Was bedeuten diese Überlegungen für Kirche als Institution? Was können wir „einrichten“, um Kirche den Prozess mentaler und spiritueller Umorientierung zu erleichtern?

(3) Kommunikation des Evangeliums im Kontext der Postmoderne

Wenigstens ansatzweise möchte ich auf vier Gesichtspunkte hinweisen, die sich ergeben, wenn wir Postmoderne als eine der Basismentalitäten begreifen und uns um milieu- bzw. mentalitätssensible Glaubenskommunikation in postmodernen Kontexten bemühen:

– (1) Postmoderne – nicht unchristliche, sondern achristliche Lebenswelt: die spezifisch missionstheologische Herausforderung

Wir müssen als Kirche einen theologischen bzw. religionsphilosophischen Schwerpunkt unserer missionstheologischen Reflexion auf die milieusensible Glaubenskommunikation in postmodernen Lebenszusammenhängen legen. Deutschland ist Missionsland geworden, aber doch nicht nur in dem Sinne, dass es weite Bereiche v.a. im Osten und Norden und in den Großstädten gäbe, die weitgehend säkularisiert wären. Ich sehe noch eine weitere Bedeutung dieses inzwischen viel zitierten Satzes. Es geht nicht nur um den Sachverhalt, dass wir es in weiten Teilen Deutschlands mit einer Kultur zu tun haben, die sich von Kirchen und Glaube abgewandt hat und Christentum nun kritisch gegenübersteht. Es ist vielmehr eine Kultur entstanden, oder besser eine unüberschaubare Vielfalt von Subkulturen und Lebenswelten, die als Ergebnis des Säkularisierungsprozesses weitgehend ohne Bezug, auch ohne kritischen, zum christlichen Glauben entstanden ist. Postmoderne Mentalität und postmoderne Milieus sind nicht unchristlich, sie sind achristlich. Sie stellen ein kulturelles Setting dar, das vom Evangelium noch gar nicht erreicht wurde. Das stellt vor Herausforderungen, die spezifisch missionstheologischer Natur sind. Es geht exakt um die Aufgaben, vor denen auch Missionare stehen bzw. standen, wenn sie in der Dritten Welt das Evangelium in eine Kultur hinein kommuniziert haben, die diesem komplett fremd war.

– (2) Kontextualisierung des Evangeliums in postmodernen (Sub-) Kulturen

Dementsprechend besteht die ebenfalls missionstheologische Aufgabe darin, das Evangelium in postmodernen Kulturen zu kontextualisieren. Dies bedeutet nicht, einer an sich gegebenen Größe noch einmal eine andere Gestalt zu geben. Vielmehr konstituiert sich das, was das Evangelium ist, indem es in eine bestimmte Kultur eingeht, sich in ihr inkarniert. Sehr schön lässt sich der sprachphilosophische Sachverhalt am hebräischen dawar exemplifizieren. dawar ist kein Wort, das einen theoretischen, abstrakt fassbaren Geltungsanspruch bedeutet, sondern eine Mit-Teilung, die immer sofort eine soziale Gestalt in dem Zusammenhang hat, in den sie (hin-)eingeht. Evangelium in postmodernem Kontext ist von daher nicht „dasselbe“ wie in modernen oder prämodernen Lebenszusammenhängen. Eine solche Vorstellung unterstellt ja die Möglichkeit, eine solche Mentalitäten übergreifende Identität abstrakt zu erfassen. Evangelium ist kein Container, der von einer Kultur in die andere umgesetzt werden könnte, vielleicht noch einmal einen anderen Anstrich bekommt. Um in einer Kultur zu wirken, muss es Teil dieser Kultur werden. Um die Kultur zu verändern, muss es so weit in sie eingehen, dass Kommunikation möglich ist, „auf Augenhöhe“, in den gegebenen Relationen. Ein wunderschönes, nicht zu überbietendes Beispiel finden wir in der Kommunikation des dreieinigen Gottes mit uns Menschen, wie sie in Phil 2,5 f beschrieben wird. Wir sollen dieselbe missionarische Gesinnung und Kommunikationseinstellung haben wie der lebendige Gott, der, um mit Menschen zu kommunizieren, selber Mensch wird; der seine Lebenswelt verlässt und in unsere eingeht, unsere Lebensbedingungen teilt. Die theologische Reflexionsaufgabe ist eine doppelte: Wir müssen demütig und selbstkritisch einsehen, dass das Konzept von Theologie und Evangelium, das in knapp 1700 Jahren im Westen entstanden ist, hoch valide ist, aber eben nicht das Evangelium und die allein mögliche Form von Theologie repräsentiert, sondern eine Gestalt des Evangeliums und eine spezifisch westliche Theologie. Wir dürfen und müssen daneben eine andere Gestalt von Evangelium gewinnen und eine alternative Form von Theologie für die Postmoderne entwerfen. Ihr Spezifikum besteht darin, dass sie – anders als eine herkömmliche Theologie vermöchte – unserer postmodernen Mentalität nicht nur kritisch gegenübersteht, sondern diese dadurch bereichert und verändert, dass sie in ihr Gestalt gewinnt. Die Ängste, Essentielles zu verlieren, sind begreiflicherweise groß, und sie sind nicht unberechtigt. Das Essentielle darf nur nicht mit dem verwechselt werden, was das Spezifische einer bestimmten Kulturwerdung ausmacht. So müssen wir sehr konkret darum ringen, ob ein bestimmtes philosophisches Setting, etwa ein metaphysisches Denken über Wahrheit und Vernunft, das diese nur im Singular denken kann, zur Kommunikationssituation des Evangeliums unbedingt dazugehört; ob wir das Evangelium nur in Form einer propositionalen Wahrheitsbehauptung weitergeben können – oder nicht. Falls Ersteres der Fall wäre, wären wir freilich in bestimmten mentalen und philosophischen Szenarien zur Sprachlosigkeit verurteilt und könnten diese nur noch bekämpfen. Hier gibt es einen immensen Klärungsbedarf.

Mentalitätssensible Kommunikation des Evangeliums und Kontextualisierung desselben in postmodernen Zusammenhängen vollzieht sich dabei in Aufnahme und Widerspruch, im Andocken und Verändern. Das möchte ich an drei Beispielen andeuten:

– (3) Postmoderner Horizontverlust

Postmodernem Denken sind die metaphysischen Singularitäten, wie sie vor allem die griechisch-philosophische Tradition hervorgebracht hat, zerbrochen. Noch mehr, sie sind entlarvt als Versuche, sich selbst durchzusetzen und zur Macht zu bringen. Wir können die Wahrheit als einen alle verbindenden, allen vorgegebenen Horizont nicht mehr denken, und nicht nur das: Wir haben ideologiekritisch zu oft sehen müssen, wie sich hinter Wahrheitsbehauptungen in der Sache Selbstbehauptungen verbergen; wie das, was als die Vernunft oder das Vernünftige proklamiert wird, in der Sache eine sehr individuelle Bildung darstellt, mit dem ein Individuum sich und sein Denken durchzusetzen versucht. In diesem Kontext erscheint jede Proklamation der Wahrheit von vornherein als nur neuer Versuch, sich auf dem weltanschaulichen und religiösen Markt möglichst günstig zu platzieren. Wahrheitsbehauptungen können nur missverstanden werden als Selbstbehauptungen und Versuche, andere zu dominieren.26

Darauf gilt es Rücksicht zu nehmen. Eine unmittelbare Kommunikation des Evangeliums in Form propositionaler Geltungsansprüche verbietet sich in diesem Umfeld, auch deshalb, weil sie notwendigerweise missverstanden wird. Wohl aber gibt es alternative Kommunikationsmöglichkeiten, die an das Neue Testament selbst anknüpfen können. Wer etwa Geschichten erzählt, verzichtet auf (zu) starke Kommunikation, lädt sein Gegenüber aber in eine Wirklichkeit ein, die durch die Erzählung selbst konstituiert wird, lässt ihn frei, sich zu identifizieren, und gibt dem Heiligen Geist die Chance, sich im Akt des Hörens im Bewusstsein des Hörenden zu imponieren. Auf diesem philosophisch nicht zwingenden und rhetorisch nicht aufdringlichen Weg kann sich das Evangelium eine ihm entsprechende, verbindliche Wirklichkeit schaffen, über deren Wahrnehmung dann auch wieder die soteriologischen Exklusivaussagen des Neuen Testamentes vom Individuum eingeholt werden können und plausibel werden. Postmoderner Wahrheitspluralismus verändert sich von innen heraus.

– (4) Wahrheit und Toleranz

Die Pluralisierung der Wahrheit und der Verzicht auf die Proklamation der einen Wahrheit begründet auf der einen Seite eine universale Toleranzforderung – ebenweil niemand beanspruchen kann, im Besitz der einen Wahrheit zu sein. Auf der anderen Seite ist darauf zu achten, dass genau dieser Wahrheitspluralismus so gedacht wird, dass er sich nicht selber in Widersprüche verwickelt und selbst aufhebt.27 Der Wahrheitspluralismus darf ja nicht selbst wieder zur exklusiven Wahrheit werden, nach dem Motto: „Die Wahrheit ist, dass es nicht nur eine Wahrheit gibt, sondern viele.“ Oder, noch deutlicher: „Es gibt nicht nur eine, sondern viele Wahrheiten. Dass das so ist, das ist die eine Wahrheit, die für alle verbindlich ist.“ Und dann werden – vgl. das beliebte Fundamentalismus-Bashing – alle gejagt, die es überhaupt noch wagen, Wahrheitsansprüche zu formulieren. Solche Selbstwidersprüche heben den Begriff des Wahrheitspluralismus auf, und sie desavouieren die Forderung nach Toleranz, die auf ihm beruht. Toleranz gäbe es dann ja nur gegenüber denen, die nichts mehr (inhaltlich aus-)sagen oder genau das, was alle sagen. Das freilich wäre das Ende von echter Toleranz gegenüber dem, was wirklich anders, wirklich fremd ist.

Philosophische und theologische Klärung wird darum im postmodernen Kontext darauf achten, dass genau die entscheidende Wahrheitsfrage nicht ausgerechnet postmodern positionell dichtgemacht und dass genau die so relevante Toleranzfrage nicht ausgerechnet in postmodernen Zusammenhängen restriktiv beantwortet wird.

Positiv formuliert: Es ist eben offen, ob es die eine Wahrheit gibt oder nur eine Pluralität von Wahrheiten. Genau mit dieser philosophisch durch Argumentation erreichbaren Einsicht sind wir in der Mitte der Frage, in der postmodern das Evangelium Relevanz gewinnen kann. Inmitten eines nihilistischen, weil wahrheitspluralistischen Horizontes bestünde es in seiner postmodernen Gestalt gerade nicht primär in einer Wahrheitsproposition, sondern in der Proklamation, dass es überhaupt Hoffnung auf Wahrheit gibt und dass es Gründe und Anlässe dafür gibt, das zu glauben. Der postmoderne Horizont verschärft dann die Wahrheitsfrage entscheidend: Warum sollen wir überhaupt glauben, dass es Wahrheit gibt? Was macht uns Hoffnung auf Wahrheit? Warum gibt es eine Wahrheit und nicht vielmehr viele? Warum soll es überhaupt Grund geben, von der einen Wahrheit zu reden? Christlicher Glaube ist dann nicht ein Geltungsanspruch neben anderen (moderne Formatierung). Er ist „eine Wahrheit“ neben anderen, aber keine Wahrheit wie alle anderen – und das zeigt sich, hoffentlich.

Wichtig ist, dass postmoderne Philosophie im Anschluss an Nietzsche nicht in den „Irrtum“ verfällt, Nihilismus als Position zu vertreten. Diesen Fehler, wieder positionell zu werden, dann eben doch für etwas „Wahrheit“ zu beanspruchen und damit selbstwidersprüchlich zu werden, macht zumindest Nietzsche nicht. Nietzsche als Vordenker und Prophet der Postmoderne (G. Vattimo28) behauptet nicht, dass es keine Wahrheit gebe. Er behauptet die Fraglichkeit der Wahrheit. Es ist fraglich geworden, ob und wenn ja warum wir von der Wahrheit im Singular reden dürfen; was uns dazu das Recht gibt, oder ob nicht alle Katzen grau sind. In einer solchen nihilistischen Szenerie spricht das Evangelium noch einmal ganz anders; hier gewinnt es noch einmal eine ganz andere, ggf. radikalere und profiliertere Gestalt. Hier steht nicht mehr der allwissende und allmächtige, omnipotente und omnipräsente unbewegte Beweger im Mittelpunkt, sondern der gekreuzigte Gott, im Blick auf den Paulus sagen konnte: Die Strukturen dieser Welt vergehen (1 Kor 7,31). M. a.W., im postmodern-nihilistischen Kontext wird das Evangelium ganz anders konstituiert und wird das Evangelium selbst ganz anders erschlossen, wenn die Kreuzestheologie ökumenisch als Mitte und als Kristallisations- wie Ausgangspunkt christlicher Theologie begriffen werden darf.29 Das Kreuz des Sohnes Gottes, in diesen Erdboden gerammt, Teil dieser unserer Geschichte, wäre dann Teil und Inbegriff der Leiden und Ungerechtigkeiten, ja auch Ausdruck der Sinnlosigkeit einer Welt, die wir theoretisch eben nicht mehr umfassen und auf einen Begriff bringen können.

 

Vielleicht konnte wenigstens ansatzweise plausibilisiert werden: Postmoderne Philosophie, Mentalität und Lebenswelt sind nicht einfach unchristlich, sie zeigt heute vielfach – noch – eine a-christliche Gestalt – sie ist aber schon in ihren Ursprüngen Resultat einer tiefgehenden Reflexionsleistung, mit der sich ihr Vordenker mit der Frage auseinandergesetzt hat, inwiefern der christliche Glaube und was an ihm einer nihilistischen Szenerie gewachsen ist, in ihr sogar Hoffnung zu geben vermöchte. Nietzsche ist bemerkenswerterweise in dieser Frage nicht ohne Antwort geblieben.30