Menschen, die Geschichte schrieben

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Z serii: marixwissen
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DAS GEDÄCHTNIS

Taten sind Wirklichkeit, schaffen Wirklichkeit und wirken in der Wirklichkeit fort. Wirklichkeit aber fassen wir nur durch Erinnerung. Jede Wahrnehmung speist sich aus den vorwiegend unbewussten Zuordnungen von Sinneseindrücken zu dem bereits vorhandenen Wissen durch das Gedächtnis. Auch die Vorstellungswelten, von denen dieses Buch handelt, sind Wirklichkeit und wirken in Wirklichkeit weiter. Wer sich ihnen zuwendet, hat es ebenfalls mit dem Gedächtnis zu tun. Mythos und Legende sind Formen des kulturellen Gedächtnisses. Einige knappe Bemerkungen zu Erinnerung und Gedächtnis erscheinen deshalb an dieser Stelle unabdingbar. Die Geschichtswissenschaft nimmt sich ja gewöhnlich bloß des Wortlauts ihrer Quellentexte an, den sie geradezu für sakrosankt hält, und übersieht die gestaltenden Kräfte der Erinnerung, die ihn geschaffen haben und nicht aufhören, auf ihn einzuwirken. Sie lassen keinen Sachverhalt unberührt. Gleichwohl sind auch verformte Erinnerungen Wirklichkeit, die neue Wirklichkeiten erzeugt. Erinnerung zielt überhaupt auf Wirklichkeit. Unsere gesamte leibliche und geistige Existenz verdankt sich dem Gedächtnis. Wir sind unser Gedächtnis.

Wirklichkeit also fassen wir nur durch Erinnerung. Wir vermögen es, weil eingehende Sinnessignale in der Sprache des Gehirns aus elektrischen Impulsen und chemischen Prozessen semantisch besetzt und eingespeichert werden, und weil dieses Wissen, soweit es dem deklaratorischen Gedächtnis anvertraut ist, etwa durch die gesprochene Sprache symbolisch Wirklichkeit zu repräsentieren vermag. Aus diesem Grund können wir einem Fremden, der den Weg zu unserer Wohnung nicht kennt, denselben so beschreiben, dass er tatsächlich hinfindet. Auf diesen Effekt setzt auch der Historiker, der die Sprachen seiner Quellen beherrscht und die symbolische Repräsentation zu entziffern vermag.

Doch, wie gesagt, wir erfassen Wirklichkeit nicht unmittelbar. Sie wird uns stets nur durch Erinnerung, und das heißt gebrochen und ausschnitthaft vermittelt. Daran tragen die körperlichen Bedingungen unseres ‚Weltbildapparates‘ Schuld, mit dem wir ausgestattet sind und auskommen müssen. Alle eingehenden Sinnessignale müssen vom Hirn über das ihm verfügbare – nämlich schon eingespeicherte – Wissen bearbeitet, ausgewählt und gedeutet werden, bevor sie zu Bewusstsein gelangen können. Derartige Bearbeitung und Deutung geht jedem Bewusstwerden voraus. Das hat Konsequenzen für jede Wahrnehmung, die ein nur teilbewusster, höchst selektiv operierender Konstruktionsprozess ist – und somit für alle Vergangenheitskonstrukte. Denn Deutung und anschließende Konstruktion, das gesamte Erinnern geschehen, was die Historiker, an den Wortlaut ihrer Quellen gebunden, nicht gerne zur Kenntnis nehmen, niemals identisch; sie sind stets kontextuell und situativ moduliert und befinden sich ununterbrochen im Fluss, manche langsamer – wie in der Regel die Leistungen des semantischen Gedächtnisses, manche schneller – wie gewöhnlich die des episodischen Gedächtnisses. Keine Erinnerung gleicht einer anderen; keine bleibt unverändert stehen. Das gilt für das individuelle wie für das kollektive oder das kulturelle Gedächtnis, sei dieses mündlich tradiert oder schriftlich fixiert. Und selbst der forschende Historiker bleibt von gleichartigem Fließen nicht verschont; auch seine Erinnerungen formen sich kontinuierlich um.

Das Gedächtnis verfügt über zahlreiche Konstruktions-, Techniken‘ – Teleskopie etwa, Überschreibung, Inversion und andere mehr – und gestattet, von traumatischen Erfahrungen abgesehen, keine Identität der Erinnerungen selbst an dasselbe Geschehen; in der Regel rafft es zusammen, was ursprünglich nicht zusammengehörte, und produziert irreale, aber bedeutungsträchtige Mixturen von Scheinwirklichkeiten. Kein Moment kehrt wieder, auch im Gedächtnis gibt es keine Rückkunft. Erinnerte Wirklichkeit ändert sich somit unablässig; nichts kann sie vor diesem Fließen bewahren.

Unverändert bleibt allein die vergangene Wirklichkeit. Beide Wirklichkeiten, die einstige und die erinnerte, sind streng auseinanderzuhalten. Doch beider Wirkungen wirken fort und dieses Fortwirken lässt sich erkennen. Der Historiker aber, der wissen will, was einst geschehen, muss diesen Fluss zu seinem Ursprung zurückverfolgen. Wie weit es möglich ist, sei hier nicht erörtert.

Erinnerung transformiert das Erinnerte somit kontinuierlich; nichts verharrt in ihr unverformt. Jedes einzelne dieser divergierenden Erinnerungsbilder kann Handlungsimpuls werden und damit nachwirken und tatsächlich, soweit es Intentionen und Handeln durchsetzt, soziale Wirklichkeit gestalten. Keines aber verändert die einstige Wirklichkeit, doch ein jedes schafft in seiner Gegenwart und für die Zukunft Neues, das fortan als eigene Realität neben alles Ältere tritt und weiterwirkt. So entfaltet sich ein breiter Fächer von mehr und mehr einander überlagernden und zugleich auseinandertretenden Wirkungen, ein ungebändigter und unzähmbarer, sich in zahlreiche Arme und Seitenkanäle zerteilender, hier und da sich auch wieder vereinender Fluss.

Nichts bleibt von diesem Fließen, Zerteilen und gelegentlichem Wiedervereinen ausgenommen. Der Historiker hat es zu erfassen und die Folgen zu beschreiben. Alles einstige Geschehen, geht es nur in das Gedächtnis ein, unterliegt derartiger Auffächerung in einstige und erinnerte Realitäten und deren jeweilige Wirkungen. Beide decken sich nicht; sie driften vielmehr, je länger sie wirken und je mehr Erinnerungsträger sich – gleichgültig, ob in schriftlicher Form oder in mündlicher Kolportage – beteiligen, umso unaufhaltsamer auseinander. Der Fächer an Realitäten entfaltet sich mit der Zeit immer breiter und reicher. Das Fließen, Zerfließen, erneute Zusammenfließen endet nimmer, es sei denn, alles versickert und mündet in den spurlosen Untergang ewigen Vergessens. Dann ist der Rest ein Schweigen, das kein Historiker mehr durchdringt.

MYTHOS KARL

Heroisierung und Mythisierung sind davon unmittelbar betroffen; sie zeugen von jener Auffächerung der Erinnerungen an Geschehens- und Gedächtnisrealitäten. Sie sind nicht zuletzt deren Ergebnis. Am Beispiel Karls des Großen lässt es sich geradezu mit archetypischer Deutlichkeit aufzeigen. Seine vielfältige Gegenwart im kulturellen Gedächtnis spiegelt mannigfache Formen der Erinnerung und ihrer Wirkungen; ihnen sei im Weiteren nachgegangen. Doch gebietet der verfügbare Raum, mich auf wenige Beispiele zu beschränken: den Herrscher, den Sünder und Heiligen sowie den Heros der Dichter.

DER HERRSCHER

Zumal Frankreich und Deutschland hielten durch historiografische oder anekdotische Texte, in der Schule und in mündlicher Erzählung die Erinnerung an den großen König und Kaiser wach. Man gedachte dabei durchaus eines realen Herrschers und legitimierenden Vorbildes, keines metaphysischen Wesens, keines Wundertäters und sagenfernen Schemens. Gleichwohl zeichneten sich von früh an gravierende Unterschiede ab.

Während Karl im Westen vor allem sachlich-historisch gesehen wurde, Einhards Vita, mit einer Lebensbeschreibung seines Nachfolgers Ludwig, den sogenannten „Reichsannalen“, und weiteren Werken zur Geschichte der Franken zu einem respektablen Geschichtsbuch vereint, dem König Karl II., einem Enkel des Großen, zur Instruktion dargereicht wurde, während alsbald auch dieses zweiten Karls gleichnamiger Enkel Karl („der Einfältige“, wie er mit distinguierendem Beinamen heißt) in legitimierender Absicht die Erinnerung an seinen großen Ahnherrn – wenn auch nicht nur an diesen – pflegte und damit eine Geschichtstradition begründete, die später, nach einem karlsabstinenten Zwischenspiel, in die Grandes Chroniques de France münden sollte, während dergestalt also die westfränkisch-französische Geschichte begründet wurde, verharrte der Osten mit Notkers Gesta Karoli Magni zunächst ganz im Personalen, Episodischen und Anekdotischen. Hier rissen immer wieder mühsam geschaffene Traditionslinien ab. Das Gedenken an Karl blieb davon nicht unberührt. Kein durchlaufendes literarisches Programm scheint das Erhaltene gestaltet und ihm als Ganzem einen über die einzelne Anekdote hinausweisenden Sinn vermittelt zu haben.

Zwar kursierte Einhards Vita auch im Osten; aber das Rezeptionsmilieu unterschied sich deutlich von jenem des Westens. Hier im Osten waren die Franken nur eines von mehreren Völkern: den Friesen, Sachsen, Thüringern, Alemannen und Bayern, die kaum eine eigene, geschweige denn eine gemeinsame historische Tradition besaßen. Fränkische Herrschaft wurde von den Nichtfranken durchaus als eine fremde empfunden. Ihre Erinnerung an Karl war von unvergessenen Demütigungen durchsetzt und wird im 9. Jahrhundert eher zwiespältig gewesen sein. Zudem teilten die Königssöhne das Reich ihrer Väter in immer kleinere Teile. Doch an welchen sollte sich in besonderer Weise Karls Gedenken heften? Karl III., für den Notker seine Gesta niederschrieb, war für wenige Jahre der letzte Gesamtherrscher über das einstige, längst unaufhaltsam auseinanderdriftende Großreich. Erst nachdem im 10. Jahrhundert Einheit und Unteilbarkeit des Ostreiches gesichert waren, konnte das Karlsgedächtnis dort eine neue Qualität annehmen. Einhards ‚Karlsleben‘ blieb in solcher Umgebung ein isoliertes literarisches Phänomen – dann und wann gelesen, aber ohne eine an die Schöpfermacht der Vorstellungen appellierende Resonanz. Zudem schob sich schon bei Notker statt des historischen Sinns der allegorisch-mystische in den Vordergrund. Er entrückte Karl mehr und mehr dieser Welt.

Der St. Galler Mönch scheute sich nicht, seine munteren Geschichtchen mit großer, doch ins Leere laufender Geste in einen heilsgeschichtlichen Kontext zu rücken. „Der allmächtige Lenker der Dinge und Ordner der Reiche und Zeiten hat“, so beginnt mit Anspielung auf die Geschichtsvision des biblischen Danielbuches (Dan. 2,31) das erhaltene Fragment der Gesta Karoli magni, „nachdem er die eisernen oder tönernen Füße jener wunderbaren Bildstatue in den Römern zermalmt hatte, das goldene Haupt einer zweiten nicht minder wunderbaren Statue durch den erlauchten Karl in den Franken errichtet.“ Dieser eigenwillige Ausflug in die biblische Apokalyptik diente allein dem Kaiserlob, keiner Beschreibung der Endzeit; sie floss mit einem antik-heidnischen Topos in eins: Mit Karl habe ein neues goldenes Zeitalter begonnen.

 

Das Lob war in keiner Weise theologisch oder geschichtstheoretisch durchdacht, obgleich dazu Anlass bestanden hätte. Konsequenzen für seine eigene Darstellung zog Notker ebenso wenig. Derartige ‚Scheintranszen dierung‘ entkleidete gleichwohl Karl seiner diesseitigen Historizität und entrückte ihn in die Gefilde der Mythen und Exempel. Zumal unter den Sachsen schritt die Entweltlichung kräftig voran. Karl wandelte sich dort zum Heiligen. Die Metamorphose half diesem adelsstolzen Volk, das Trauma der Unterwerfung unter fränkische Herrschaft zu verdrängen und sich seiner eigenen Größe zu besinnen.

Im Westen aber, genauer: in der Ile de France, dem Herzen des künftigen Frankreich, blieb der Kaiser der irdische Herrscher, das reale Vorbild an Herrschertugend. Stets wurde betont, wie er das Recht pflegte, Frieden und Schutz spendete, die Kirchen forderte und in Übereinstimmung mit dem Papsttum handelte. Diese Sicht wirkte, wie angedeutet, zuerst auf Karl II. den Kahlen. Er bekam von Kind an durch seine Mutter Judith Geschichtsbücher zu lesen. Als König handelte er entsprechend: Zumal sein Großvater, dessen Namen er trug, wurde sein Vorbild. Seine Urkunden imitierten des Großen Monogramm, in Compiegne erbaute er sich eine Pfalz, die ein zweites Aachen sein sollte; die berühmte Karlsstatuette des Louvre dürfte er in Auftrag gegeben haben. Der Erzbischof Hinkmar von Reims redigierte für Karls II. Sohn Karlmann die überlieferte Hofordnung Karls des Großen.

„Wegen meines Vorrangs an Lebensalter und im geistlichen Amt“, so ergriff der betagte Prälat darin selbstbewusst das Wort, „wendet ihr Nachgeborenen […] euch ratsuchend an meine Wenigkeit. Ich war ja schon in der Verwaltung von Kirche und Hof beteiligt, als sie zur Zeit der Größe und Einheit des Reiches noch glücklich geführt wurden, und ich habe den Ratschlag und die Lehren jener vernommen, die die heilige Kirche in Lauterkeit und Gerechtigkeit lenkten, wie auch derjenigen, die das gefestigte Reich in der Vergangenheit mit mehr Erfolg regierten.“6 Jahrzehnte zurückreichende Erinnerung gestaltete Hinkmars Hofordnung. Der Blick zurück, die Beschwörung der Toten legitimierte – wie solches bisweilen heute noch geschieht. Karl trat dabei keineswegs in einzigartiger Weise in Erscheinung, obgleich er „der Große“ oder „der große Kaiser“ hieß. Die Erinnerung an ihn isolierte ihn nicht; sie vereinte ihn noch mit den wirklichen oder vermeintlichen Taten von Vater und Sohn, und nur im Verbund mit diesen lenkte sie das westfränkische Königtum. So stiftete sie eine Geschichtstradition, die das reale Geschehen der Gegenwart in ungebrochener Kontinuität auch an Karls einstiges und erinnertes Wirken anzuknüpfen erlaubte.

Gleichwohl entkam auch Hinkmars Gedächtnis den Verformungskräften der Erinnerung nicht. Der Erzbischof machte aus dem Verwaltungstext einen Fürstenspiegel und vermengte, wie zu erwarten, eigene Erfahrungen mit dem Überlieferten, was hier im Einzelnen nicht dargestellt werden soll, was aber dem Text mit dem anderen Charakter auch eine andere Wirkung verlieh. Eine genaue Abgrenzung des früheren von seinem Text, der einstigen von der nun gewünschten Hofordnung ist indessen unmöglich.

Der Süden des Landes folgte freilich den im Norden vom Königtum in der Ile de France gewiesenen Perspektiven nicht. Zwar bescherten auch Aquitanien und Gothien, wie jene Landstriche damals hießen, dem toten Karl eine hervorragende, wenn auch keineswegs gleichförmige Karriere; doch sie entfernte ihn mehr und mehr von seinen einstigen Handlungen und den Erinnerungskonstrukten des Nordens. Einhards Vita beispielsweise blieb hier weithin unbekannt. Karl verwandelte sich vielmehr in einen bald geliebten und geachteten, bald auch missachteten und gehassten Feudalherrn.

Sein Bild spiegelte zum Teil das Verhältnis des Südens zum Norden und zum zentralen Königtum, bevor dieses ihn sich wieder unterwarf, zum Teil auch die eigene, konfliktreiche Welt dieses Südens. Zahlreiche Klöster wollten von Karl, einige auch von Chlodwig oder Karls Vater Pippin gegründet sein; Urkunden wurden zumal von Klöstern auf Karls Namen gefälscht, allerlei Legenden und heroische Geschichten in Umlauf gebracht, die weithin die Taten seines Großvaters Karl Martell mit seinen eigenen kontaminierten und dem Enkel zuschrieben, was jener getan; dubiose Karlsreliquien tauchten auf, die nicht aus Aachen, wo sich das Grab befand, wohl aber aus dem Umfeld der Mythen und Sagen stammten, die zunehmend Geschichtsbild und Handeln bestimmten. Die Fiktionen dienten zumeist dem Überlebenskampf der Gemeinschaften gegen benachbarte Klöster, Bischöfe und Laien. Die Erinnerung zielte somit auf reale politische Wirkung. Doch auch Missachtung, Spott und Hohn blieben nicht aus. Auch hinter ihnen stand soziale Wirklichkeit. Rebellen durften nun – anders als im einstigen Leben, doch der tatsächlichen Königsferne des Südens gemäß – über den unbesieglichen Karl triumphieren. Gerade die im Süden weit verbreiteten „Chanson de geste“ bildeten ein beliebtes Genus sowohl der Heroisierung als auch der Destruktion dieses Königs.

Selbst Juden konnten sich im Hochmittelalter auf diesen Frankenkönig berufen.7 Einem Lichtstrahl gleich spiegelten ihre Geschichten sein Gedenken. Sie schrieben ihm ihre Ansiedlung im Süden Galliens zu. Die Chronik des Abraham ben David (Sefer Ha-kabalah, Buch der Überlieferung) etwa wusste zu berichten, dass Karl seinerzeit bei Harun al-Rashid einen Rabbi aus dem Hause Davids erbeten habe, der tatsächlich nach dem Westen gezogen sei und, nachdem Karl die Stadt Narbonne von den Sarazenen erobert hatte, dort ein Drittel der Stadt erhalten und die Schule von Narbonne gegründet habe. Ein Privileg des Königs habe alles bestätigt und unter königlichen Schutz gestellt.

Die Geschichte wird in ein wenig anderer Gestalt, gleichwohl noch im 12. oder frühen 13. Jahrhundert auch von den Gesta Karoli Magni ad Carcassonam et Narbonam erzählt, die sowohl auf Lateinisch als auch auf Provençalisch verbreitet waren. Danach hätten die Juden der Stadt Narbonne, als Karl sie belagerte, 70 000 Mark Silber geschickt und ihm angeboten, er könne die Stadt an dem Mauerteil erstürmen, den sie zu schützen hätten. Als Gegenleistung wünschten sie allein, dass ihr „König aus dem Geschlechte Davids“ immer in der Stadt bleiben dürfe. Karl versprach es; und nachdem er die Stadt erobert hatte, bestieg er, das Zepter in der Hand und von einem großen Gefolge umgeben, den königlichen Thron, rief Aimeric von Narbonne vor sich und sprach: „Aimeric, ein Drittel der Stadt gebe ich dem Erzbischof, ein Drittel den Juden, der Rest ist euer.“ Auch jetzt sicherte er alles mit einem Privileg. Noch andernorts wurde diese Geschichte, abermals ein wenig anders, erzählt.

Alle diese Erzählungen verdeutlichen, wie die Not des Augenblicks in schutzheischender Absicht die Erinnerung an Karl den Großen heraufbeschwor, wie sie ihn zur Wirklichkeit des Symbols erhob, des Imaginationen und Hoffnungen weckenden, gestaltenden, lenkenden Heros. Hinter der Legende stand mancherlei an einstiger Realität: schutzbedürftige jüdische Gemeinden im Süden, der Jude Isaac, der tatsächlich an Karls Hof in Aachen lebte, der Gesandtenaustausch mit Harun al-Rashid, bei welcher Gelegenheit Karl den Aufsehen erregenden Elefanten Abul Abas zum Geschenk erhalten hatte, die echten Schutzprivilegien für die spanischen Flüchtlinge, Karls fehlgeschlagener Kriegszug nach Spanien, die tatsächliche Eroberung Barcelonas und natürlich auch die Eroberung Narbonnes durch den anderen Karl, den Martell. Nichts davon hatte sich in die Geschichten des hohen Mittelalters gerettet. Gleichwohl wirkte eine zur Unkenntlichkeit verformte Erinnerung fort und gestaltete die Realität ihrer Zeit. Der erinnerte Karl gab das Muster ab, an dem man sich handelnd orientierte oder orientieren sollte.

Der Osten, wie gesagt, brauchte einige Zeit, um an die historische Herrschergestalt anzuknüpfen. Das geschah erst durch Otto den Großen, einen Sachsen, der, um das auf Selbstständigkeit drängende Lotharingien, zu dem Aachen damals gleich Köln und Trier gehörte, zu gewinnen, sich ein zweites Mal in Aachen salben und krönen ließ und demonstrativ den Thron Karls des Großen bestieg, der tatsächlich noch heute im Aachener Münster steht. Dort zeigte er sich dem Volk. Seitdem beschworen auch die Könige des sächsisch-fränkischen, ostfränkisch-deutschen Reiches in legitimierendem Rückgriff die Erinnerung an den großen Karolinger. Ein Vierteljahrhundert später ließ Otto dort auch seinen gleichnamigen Sohn zum König salben und krönen; seitdem war das Königtum fest mit Aachen und Karl dem Großen verbunden. Dieses „Aachener Königtum“ gab dem frühdeutschen Reich geradezu seine ideelle Mitte.

Der dritte Otto auf dem Thron, Sohn und Enkel der beiden vorangegangenen, schloss sich noch enger an Karl den Großen an. Ihn machte er zu einem Muster seiner Kaiseridee; an ihm orientierte er sein Kaisertum. „Unser Thron“ stehe in Aachen, „wo ihn unser Vorgänger Karl, der hochberühmte erhabene Kaiser“ errichtet habe, ließ Otto als sein Sprachrohr den Erzbischof Heribert von Köln verkünden.8 Aachen sollte neben Rom ein Brennpunkt seines Reiches sein. Der Sohn eines sächsischen Vaters und einer byzantinischen Mutter eignete sich das Siegelbild des Franken Karl an, um das Römische Reich zu erneuern. Karls Gedenken ließ er in Aachen wie das der eigenen Eltern feiern.9 Und mehr als das alles: Otto dürfte nämlich bereits die Kanonisation des fränkischen Kaisers betrieben haben.

Sein Nachfolger Heinrich II., einstiger Herzog der Bayern, musste, ob er wollte oder nicht, daran anknüpfen und erklärte sich zu einem Nachkommen des großen Karl. Es geschah zur Legitimation seiner umstrittenen Thronbesteigung. Zudem griff auch er auf ein Karlsbild zurück, um seine Erhöhung zu imaginieren. Es war freilich ein Bild Karls II. Auch Heinrichs Nachfolger, der König und Kaiser Konrad II. und seine Gemahlin Gisela, zwei Franken, deren Familien sich tatsächlich auf Karl zurückführen konnten, erinnerten an Karl. An Konrads Sattel hingen Karls Steigbügel, wurde damals propagiert.10 So floss das Karlsgedächtnis, von Otto I. und Otto III. so sichtbar erneuert, als immer wieder benutzter, aber nie für immer gefasster Legitimationsquell durch die Jahrhunderte.

Insgesamt freilich erschöpften sich auch diese Evokationen der Vorbildlichkeit Karls in eher episodischen, additiven Aspekten. Sie fanden die längste Zeit zu keinen kontinuierlichen und systematischen, über das Personale hinausweisenden Geschichtskonzepten. Karl spielte die mögliche Rolle des Gründungsheros nicht. Das Reich der Sachsen war eben doch – trotz der erinnernden Karlsbeschwörung – kein Reich der Franken. Die fränkischen Salier, die Nachfolger der Ottonen auf dem Kaiserthron, sollten es bitter zu spüren bekommen. Es bescherte ihnen Bürgerkrieg und Gegenkönigtum, durchmischte den Papst-Kaiser-Konflikt des hohen Mittelalters mit dem uralten sächsisch-fränkischen Konflikt und brachte das Reich an den Rand des Abgrunds.

Das 12. Jahrhundert verdeutlicht abermals den Vorsprung Frankreichs in der Karlsverehrung, obgleich mit der Thronbesteigung der Kapetinger im Jahr 987 zunächst die Kontinuität zu Karl dem Großen abriss und keine königliche Erinnerungspflege sie gewährleistete. Der Makel der Illegitimität haftete als dunkler Fleck an den frühen Kapetingern, die seinerzeit, um den Thron zu besteigen, einen legitimen Karolinger von demselben hatten verdrängen müssen. Das erneuerte Karlsgedenken ging nicht von ihnen aus, lastete vielmehr lange Zeit als ‚Wiedergutmachungsdruck‘ auf ihnen und hielt spät, nämlich erst gegen Ende des 12. und zu Beginn des 13. Jahrhunderts, dann aber umso nachhaltiger seinen Einzug bei ihnen. Doch blieb es in nichtköniglichem Milieu während des 11. und 12. Jahrhunderts präsent. Frankreich war schlechthin „Karlsland“, Kerlingen. Die „Chansons de geste“, ihrerseits Zeugnisse einer lebendigen, sich der Schrift und der Mündlichkeit bedienenden Erinnerungskontinuität unter den Sängern, trugen sein Gedächtnis auch in illiterate Kreise. Das Königtum griff dasselbe dann bei der ersten sich bietenden Gelegenheit auf.

 

Die berühmteste aller Chansons, die anonyme „Chanson de Roland“, bewahrte, von biblischen und neutestamentlichen Mustern überformt, mehrstufige, erstmals vielleicht durch den Erzbischof Hinkmar von Reims gefilterte Erinnerungsspuren des 8. und 9. Jahrhunderts bis zu ihrer ältesten erhaltenen schriftlichen Fixierung um 1100. Sie sang dann das Loblied der dulce France, der France dulce, la bele (Vers 1695), der France l’asolue, des süßen, des schönen, des freien Frankreich, dessen Herr Li empereres Carles de France dulce (Vers 16) war, Carles li reis, nostre emperere magne (Vers 1), den, als er schlief, auf Gottes Geheiß der Engel Gabriel beschützte (Vers 2525–7). Diese „Chanson“ spiegelte die Zeit und den Geist der Kreuzzüge, der durch Frankreich wehte. Bernhard von Clairvaux predigte ihn später und verkündete weithin vernehmbar das „Lob der neuen Ritterschaft“, der religiösen Ritterorden nämlich, die sich zum Kampf gegen die Ungläubigen bereiteten. Der Heros Karl aber, der Heidenkämpfer und Gottgeliebte, der schon fast heilige, eilte ihnen allen voran.

Bestimmte religiöse Zentren wie Saint-Denis, die Grablege der französischen Könige, betrieben aus diversen Gründen – etwa, um den Kult des eigenen Heiligen zu stärken – seine Gedächtnispflege. Sie begannen nun ihrerseits und ohne Nachhilfe aus dem Osten Karl wie einen Heiligen zu betrachten. In Saint-Denis entstand, wohl Anregungen aus Italien aufgreifend, wie sie etwa bei Benedikt von Sant’ Andrea zu finden sind, spätestens in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts die Legende Karls des Großen, die fiktive Geschichte nämlich von Karls Pilgerfahrt nach Jerusalem, von wo er kostbarste Reliquien, darunter die Dornenkrone und die Windeln Jesu, mitgebracht habe, eine Legende, die sich bald als ein Erinnerungsimplantat, als ein scheinreales Konstrukt, im kulturellen Gedächtnis des Abendlandes einnisten sollte.

Es machte sich zunächst literarisch, sodann kultisch und nicht zuletzt politisch bemerkbar. Die Aachener „Beschreibung, wie Karl der Große Nagel und Dornenkrone von Konstantinopel nach Aachen brachte und wie Karl der Kahle sie nach Saint-Denis überführte“, entlieh ihr Wissen von dort, aus importierten, nicht aus einheimischen Quellen. In der Ile de France entstand ferner, etwa in der Mitte des 12. Jahrhunderts, der sogenannte Pseudo-Turpin, der den Rolandsstoff fortdichtete, und dem mit über 130 mittelalterlichen Handschriften ein ungewöhnlicher Erfolg beschieden war. Der Liber Sancti Iacobi, eine Sammelschrift zu Ehren des Apostels und seines Grabes in Compostella, vereinte den Rolandsstoff mit dem Jakobskult zur Propagation des Kreuzzuges nach Spanien, an dem tatsächlich zahlreiche Franzosen teilnahmen, und der Pilgerfahrt nach Compostella; als sein angeblicher Autor firmierte der Erzbischof Tilpin von Reims, ein wirklicher Zeitgenosse Karls des Großen. Abermals erschien der Frankenkönig, ohne es schon zu sein, gleich einem Heiligen.

In „Charlemagne“ entfaltete sich mit der Zeit der Typus des französischen Königs schlechthin. Herrschaftliche Implikationen fehlten nicht. Abt Suger von Saint-Denis etwa erinnerte um 1140 an einen Karl, der den Osten erobert habe, weshalb die Deutschen „von Rechts wegen“ (iure regio) zu Frankreich gehörten.11 Und schon die Chanson de Roland hatte Aachen zu Frankreich gezogen (Vers 726). Die hier gesäte Saat trug Jahrhunderte später reiche Frucht. Bald verbreitete sich die Theorie der „Rückkehr Frankreichs zum Geschlecht Karls des Großen“, wonach die Königsfamilie der Kapetinger über die Mutter König Philipps II. August, die henne-gauische Grafentochter Elisabeth, wieder an das gesegnete Geschlecht Karls des Großen angesippt war. Das genealogische Argument, das Andreas von Marchiennes im Jahr 1196 vortrug, heilte den Bruch von 987, restaurierte die immer wieder angezweifelte Legitimität der Kapetinger und überhöhte das Ansehen des Königshauses; es implizierte aber nicht zuletzt weitgreifende Herrschaftsansprüche und künftige politische Handlungsmotive.

Solche wurden in der Tat vom Königtum alsbald realisiert, was die ‚Rückkehr‘-Theorie gleichsam als die Summe der französischen Karlsverehrung des 12. Jahrhunderts zu erkennen gibt. Bereits Philipp selbst soll darüber nachgesonnen haben, „ob Gott mir oder einem der anderen Könige der Franzosen die Gnade gewähre, Frankreich in den früheren Stand zu versetzen und es zu derselben Größe und Ausdehnung zurückzuführen, die es zur Zeit Karls (des Großen) einst besaß“.12 Philipps noch jungem Sohn Ludwig VIII. wurde ein Tatenbericht des großen Königs in lateinischen Hexametern zur Lektüre und zum Vorbild empfohlen, der den Titel Karolinus trug und als eine Art Fürstenspiegel konzipiert worden war.13 Das Gedächtnis an den heldenhaften, glaubensstarken, bald heiligen Kaiser, an den großen König der Franken = Franzosen leistete Hilfe bei der Entstehung der französischen Nation. Der spätere Sonnenkönig wusste darum und verhielt sich entsprechend.

Der Osten reagierte frühzeitig und voll Zorn. „Nicht wir [Franzosen] gehören zum Imperium“, so ließ man zur Zeit Kaiser Friedrichs I. den König Frankreichs tönen, „vielmehr gehört dieses uns; denn die alten Gallier haben es besessen und uns, ihren Nachfahren, hinterlassen.“14 Es galt somit schleunigst zu handeln. Unseliger freilich konnte der Augenblick nicht sein. Doch fremde Erinnerung provoziert eigene und zeitigt eine situationsbedingte Gestalt, deren Wirken den Händen aller Beteiligten entgleitet. Noch Otto von Freising, der große Geschichtsschreiber um die Mitte des 12. Jahrhunderts, hatte in Karl lediglich den machtvollen König erkannt und keinen mythischen Heros, keinen spezifischen Legitimitätsquell für ein gegenwärtiges Herrschertum, sei es im Osten oder im Westen, keinen neu konzipierten Inbegriff des eigenen Reiches, schon gar keinen Heiligen. Mit Friedrich Barbarossa und Heinrich dem Löwen aber sollte sich das ändern.

Beide beriefen sich – wenn auch in unterschiedlicher Weise und aus unterschiedlichen Gründen – auf Karl den Großen. Der Sachsenherzog aus Schwaben betrachtete sich als einen Erben des Franken und streckte die Hand nach einer Königskrone. Der Schwabe auf dem römischen Königsthron aber betrieb die Heiligsprechung seines Vorgängers aus Franken. Ansätze zu einer übergentilen Integrationsfigur sind weder hier noch dort zu übersehen. Doch waren sie eingebunden in das tagespolitische Geschehen.

Der Löwe erhob königliche Ansprüche; und der Rotbart betrieb für den Augenblick, worauf gleich zurückzukommen ist, eine Kampfansage an Frankreich. Dem englischen König Heinrich II. ließ er, als er ihn für seine Politik zu gewinnen hoffte, mitteilen – jedenfalls kolportierte man es so am englischen Hof –: Er, Friedrich, betrachte den französischen König nicht als einen Erben Karls des Großen, sondern nur des Kapetingers Hugo von Franzien, der die wahren Erben, die letzten Karolinger nämlich, vom Thron gestoßen habe; er aber, der Kaiser, sei jetzt Karls Erbe und als solcher werde er Heinrichs Sohn den französischen Thron übergeben.15 Das griff die innerfranzösischen Zweifel an der Legitimität der Königsfamilie auf16 und schürte den englisch-französischen Konflikt oder sollte es tun. Wie dem aber sei, die konfliktsteigernde Gedächtnisfigur ‚Karl der Große‘ sah sich in der Folge jeder Chance beraubt, über die ersten, sehr bescheidenen Ansätze zu einer reichsintegrativen Wirkung in Deutschland hinauszugelangen. Der erinnerte Karl einte die Deutschen nicht.