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1. Frühromantische Kunstmärchen bei Tieck und Fouqué: Rahmung und Selbstreferentialität

Zu den Kunstmärchendichtern der ersten und zweiten Stunde zählen heute zwei Autoren, deren Bekanntheit hinter denen ihrer Werke zurückbleibt: Ludwig Tieck (1773–1853) und Friedrich de la Motte Fouqué (1777–1843). Mit dem Novellenmärchen Der blonde Eckbert und den als Dramen verfassten »Kinder-« bzw. »Ammenmärchen« Der gestiefelte Kater und Ritter Blaubart setzte Tieck »phantastische« Erzählungen in Szene, die zum Teil noch spätaufklärerischen Traditionen folgten, sie aber mit den Mitteln der Ironie und der kunstvollen erzählerischen Rahmung wesentlich weiterentwickelten. Nach ihm belebte de la Motte Fouqué das Genre mit seiner Undine (1811) erneut, indem er seinerseits auf ein bekanntes Motiv der Sagendichtung zurückgriff, das Goethe bereits in der Ballade Der Fischer (1779) verdichtet hatte.

1.1 Der blonde Eckbert (Ludwig Tieck, 1797)

Im Unterschied zu den von den Gebrüdern Grimm überlieferten »Volksmärchen«, deren Kern in einem mündlich und anonym tradierten Legenden- oder Sagenstoff bestand, erhält das Kunstmärchen bei Tieck und de la Motte Fouqué eine beziehungsweise mehrere Rahmungen, innerhalb derer die Erzählsituation durch den Text selbst hergestellt wird. Eine solche tritt beispielsweise in Der blonde Eckbert infolge eines Besuchs am Abend ein, als Eckberts Frau Berta der Bitte nachkommt, dem befreundeten Gast ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Markiert wird diese Intradiegese durch einen Absatz, eingeleitet von Bertas Warnung an den Besucher wie die Leserschaft, die Erzählung »für kein Märchen« zu halten, »so sonderbar sie auch klingen mag« (Tieck 1979, S. 633). Selbstreferentialität wird so über die Perspektive der sekundären Erzählerin erzeugt, zugleich werden die Grenzen zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen unterlaufen. Dabei bleibt die Geschichte Berthas nicht ohne Folgen für die extradiegetische Handlung: Die »seltsame« Begebenheit ihrer Jugend, die für die Wendung ihres Schicksals gesorgt hatte und ein bislang zwischen ihr und Eckbert geteiltes Geheimnis gewesen war, schlägt am Ende auf die Psyche (vgl. Rippere 1970) Eckberts durch, »der tötet, um sich von Mitwissern einer verborgenen Schuld zu befreien« (Mayer/Tismar 2003, S. 60). Die märchenhafte Erzählung Bertas setzt auf diese Weise erst ein Wissen frei,4 das auf einen Inzest der Ehepartner hindeutet und die beiden einzigen Freunde Eckberts als Doppelgänger der alten Frau erscheinen lässt, an der sich Berta einst schuldig gemacht hat. Mayer und Tisman haben diesem Kunstmärchen einen »Repräsentationscharakter« attestiert, der den Ängsten und der Unsicherheit einer frühkapitalistischen, bürgerlichen Klasse gelte, »was sie zum eigenen Vorteil gegenüber den undurchschaubaren Mächten sich wünschen dürfte« (ebd.).

1.2 Der gestiefelte Kater (Ludwig Tieck, 1797)

In Der gestiefelte Kater spielt die Gattung mit ihrer eigenen Erscheinungsform, indem sie als dramatischer Stoff inszeniert wird, der die Möglichkeiten seiner Produktion und Rezeption bereits im Prolog reflektiert. So treffen im Publikum Zuschauer aus sowohl handwerklichen als auch bildungsbürgerlichen Kreisen zusammen und tauschen sich neugierig über das zu erwartende Schauspiel aus:

Fischer: […] Herr Müller, was sagen Sie zu dem heutigen Stücke?

Müller: […] Ein wunderlicher Titel ist es: »der gestiefelte Kater«. – Ich hoffe doch nimmermehr, dass man die Kinderpossen wird aufs Theater bringen.

Schlosser: Ist es denn eine Oper?

Fischer: Nichts weniger, auf dem Komödienzettel steht: »ein Kindermärchen«. (Tieck 2019, S. 5)

Tatsächlich gelangt mit dem Gestiefelten Kater ein humoriges Schauspiel zur Aufführung, das jedoch entgegen den Konventionen keinerlei Identifikation mit dem Inhalt oder dem Protagonisten zulässt, sondern auf ironisierende Weise ein Panorama der literarischen Topoi entwickelt, die das Märchen gemeinhin prägen: Ein schrulliger, alternder König, der seine Tochter zu verheiraten gedenkt, gehört ebenso dazu wie ein exotischer Prinz, ein Hofgelehrter und Hofnarr sowie der arme Bauernsohn namens Gottlieb, der einen sprechenden Kater erbt. Dieser soll ihm zum Glück verhelfen und erbittet sich darum jene Stiefel, die ihn bei seiner abenteuerlichen Reise begleiten – diese sind im Übrigen nichts anderes als der allumspannende Katalysator einer Nicht-Handlung von gebrochenen Szenen, in die Kater Hinze, »das Publikum« sowie die LeserInnen geworfen werden. Allein, das Publikum wie die autofiktionale Figur des Dichters stellen dabei selbst weite Teile des Dramentextes und sind in ihm ständig präsent; auf diese Weise wird die vierte Wand bereits hier, innerhalb der Frühromantik und vor aller moderner Dramaturgie à la Brecht, durchbrochen. In seinem Nachwort zur Textausgabe hat Helmut Kreuzer daher zutreffend formuliert, das Theaterstück sei als »eine zu seiner Zeit hochaktuelle Satire« konzipiert, deren »einziger Inhalt ein missglückter Theaterabend ist, der halb scheiternde Versuch einer fiktiven Theatertruppe, das Märchenstück eines fiktiven Autors vor einem fiktiven Publikum aufzuführen« (Kreuzer 2019, S. 75). Das Scheitern des Dichters, die Erwartungen von Zuschauern und Kritikern zu erfüllen, wird denn auch als grundsätzliches Problem und Vorbedingung der dramatischen Gattung veranschaulicht. Illustriert werden diese Realitätseffekte u. a. wiederholt in der Person des Fischers, der bereits mit der Sprachfertigkeit des Katers hadert und einfach nicht in das Stück hineinfinden will:

Die Kunstrichter (im Parterre): Der Kater spricht? – Was ist denn das?

Fischer: Unmöglich kann ich da in eine vernünftige Illusion hineinkommen. (Tieck 2019, S. 11)

Dabei lässt sich der sprechende Kater (mehr noch als die Figur des Dichters) als ironische Metapher für den vermeintlich schöpferischen Prozess von Literatur verstehen. So gerät der Broterwerb zu einer eigentlichen Odyssee, in der Kater Hinze mal in die Szene zweier Liebenden geworfen wird, die sich schwülstig ewige Treue schwören, mal am königlichen Gastmahl teilhat, nachdem er ein Kaninchen gefangen hat und schließlich doch noch alle Umstände – die Reise des Königs mit seiner Tochter, das Auftreten Gottliebs als »Graf von Carabas« und die Entthronung des mächtigen »Popanz« – so einzurichten weiß, dass Gottlieb den tyrannischen Herrscher ablösen kann und die Prinzessin zur Braut zugesprochen bekommt. Dass das Publikum dabei zeittypische, in den Theaterkritiken bezeugte Reaktionsmuster spiegelt, zeigt sich am Ende sowohl an der Rolle »Böttichers«, der als Karikatur auf den Weimarer Literaten Böttiger verfasst ist (Kreuzer 2019, S. 80), ebenso wie am Schlosser, der die Zensur wittert. Deshalb will er um keinen Preis an der lautstarken Zustimmung des Publikums teilhaben:

Schlosser: Doch also ein Revolutionsstück? – So sollte man doch um des Himmels willen nicht pochen. (Das Pochen dauert fort, Wiesener und manche andre klatschen, Hinze verkriecht sich in einen Winkel und geht endlich gar ab. – Der Dichter zankt sich hinter der Szene und tritt dann hervor.) (Tieck 2019, S.58)

Dass das Illusionstheater gar nicht gelingen will und auch nicht soll, ist in der Textstruktur angelegt: Diese setzt vielfach auf Distanzierung durch die subversive Reflexion des literarischen Mediums. Derlei Passagen lassen sich im Drama viele finden. Sie betreffen aber auch die Konventionen des Märchens selbst, insbesondere dessen Integration des »Wunderbaren« und – wie Zeller festgehalten hat, die »ständige[] Konfrontation von realer und wunderbarer Welt« (Zeller 1993, S. 72). Beispielsweise bezweifelt Gottlieb im Dritten Akt, dass sich sein Glück noch rechtzeitig vor dem Ende der Komödie einstellen werde (»Bald, sehr bald muss es kommen, sonst ist es zu spät, es ist schon halb acht und um acht ist die Komödie aus«; Tieck 2019, S.45). Auch fällt er aus der Rolle, wenn er den »verdammte[n] Souffleur« kritisiert, dieser spreche »so undeutlich, und wenn man dann manchmal extemporieren will, geht’s immer schief« (ebd.).

Dass der »wunderbare« Gehalt schließlich von Kater Hinze selbst bekräftigt und veranschaulicht werden muss, rückt die Gattung selbst in den Fokus, wenn er die gelaufene Strecke als unwahrscheinliche zu bedenken gibt:

Hinze: Wer etwas Wunderbares hören will, der höre mir jetzt zu. – Wie ich gelaufen bin! – Erstlich von dem königlichen Palast zu Gottlieb, zweitens mit Gottlieb nach dem Palast des Popanzes, wo ich ihn gelassen habe, drittens von da wieder zum König, viertens lauf ich nun vor dem Wagen des Königs wie ein Laufer her und zeige ihm den Weg. (Tieck 2019, S. 51)

Noch ein anderer Aspekt des unterschätzten »Kindermärchens« rückt mit dem ständigen Standortwechsel von intradiegetischer zu extra- bzw. metadiegetischer Handlung – sofern man die Ironie und Selbstreferentialität als weitere Rahmung begreift – in den Blick: das Nichtvorhandensein einer stringenten Positionierung Tiecks. »[D]ass Tieck keinen festen Standort im Stück bezieht, sondern ihn von Punkt zu Punkt wechselt, punktuell den ›Dichter‹ oder das ›Publikum‹ (oder Hanswurst, König usw.) für sich sprechen« lasse, wurde Kreuzer zufolge von der Forschun g zeitweise gar zum »Vorwurf der politischen ›Affirmation‹ zugespitzt« (Kreuzer 2019, S. 85). Tieck erschien in dieser Deutung als einer der von ihm selbst parodierten Zuschauer, der in der kleingeistigen Idylle seiner bürgerlichen Verhältnisse verharrt. Tatsächlich aber fördert die vielschichtige Anlage des Dramas die Erkenntnis zutage, dass dieses Kunstmärchen, gerade weil es im Modus der beständigen Selbst-Bezugnahme verfasst ist, höchst kritisch und auf unterhaltsame Weise seine Entstehungs- als auch Rezeptionsbedingungen stets mitreflektiert. Es muss LeserInnen und ZuschauerInnen der Gegenwart daher überraschend modern erscheinen.

 

1.3 Ritter Blaubart (Ludwig Tieck, 1797)

Wie schon beim Gestiefelten Kater entlehnt Ludwig Tieck auch den Stoff des Ritter Blaubart den Contes de ma mère lOye (1697), einer Märchensammlung von Charles Perrault. Die verbreitete Sage vom hässlichen Blaubart, der seine Ehefrauen zu töten und deren Leichen in einer von Blut getränkten Kammer zu verbergen pflegte, findet auch Eingang in Tiecks dramatisches Kunstmärchen, das er mit dem Untertitel: »Ein Ammenmärchen in vier Akten«, versieht. Damit verweist er bereits im Paratext auf die Tradition mündlicher Überlieferung und Rezeption der Märchen gerade durch Frauen (vgl. Zeller 1993, S. 57)5. In ihrer traditionellen Funktion als Erzieherinnen und primäre Bezugsperson von Kindern schlüpften sie gelegentlich in die Rolle der Erzählerinnen, um ihre Schützlinge zu besänftigen, aber eben auch: um sie vor drohenden Gefahren, seien es wahrscheinliche Gefahren oder eben auch vor mystischen Einbrüchen in die reale Welt zu warnen (qua Mangel besseren Wissens, befördert aber auch von einer an Eigenlogik gewinnenden, von mystifizierenden Elementen getragenen Erzähltradition).

Eingeführt wird das Schauspiel durch einen Prolog, der bereits das Leitmotiv des Schlüssels und des Aufschließens enthält. Dies »eröffnet« aus hermeneutischer Perspektive zudem eine weitere Dimension literarischer Texte: die des Verstehens als das Erschließen eines in ihnen verborgenen Sinns. Dabei richtet der Prolog die Aufmerksamkeit auf »[d]ie fernsten, wundervollsten Welten« (Tieck 2015, S.4), die vom »Zauberstab des Dichters« (ebd.) erschlossen würden; freilich mit der Anti-these, dass es eine »heimlich im Gebüsch versteckt[e] … Tür« (ebd.) noch zu entdecken gäbe, die zu öffnen dem Dichter vorbehalten sei.

Kern der Handlung ist denn auch ein Schlüsselbund, den Blaubart seiner Verlobten anvertraut, offenbar in der Absicht, sie auf eine Probe zu stellen. Von den Kammern, zu denen ihr die Schlüssel Zutritt verschaffen, stehen ihr sechs offen. Nur das siebte Zimmer, »das dieser goldene Schlüssel öffnet« (ebd.), soll ihr verboten sein. Dass Agnes schließlich ihrer Neugier nachgibt und die verbotene Kammer dennoch betritt, kann im Sinne Detlef Kremers zu Tiecks »Interesse für komplexe psychologische Konstellationen« gerechnet werden, »in denen einerseits eine differenzierte literarische Phänomenologie bürgerlicher Alltagswelt entsteht, andererseits eine wachsende Aufmerksamkeit für abweichende Verhaltensweisen und deren Psychogenese in individuellen Lebensgeschichten artikuliert wird« (Kremer 2011, S.498).

Im Unterschied zu den beiden bereits nach ihren protoromantischen Merkmalen untersuchten Kunstmärchen erscheint Ritter Blaubart jedoch mehr noch dem Modus spätaufklärerischen Erzählens verpflichtet, als sich in ihm keine eindeutigen Markierungen selbstreferentieller Bezugnahme erkennen lassen. Zwar ist auch anhand einiger parodistisch eingestreuter Dialogfetzen, die auf berühmte Philosophen verfasst sind, der Versuch der ironischen Rückkopplung an zeitgenössische Diskurse bemerkbar, beispielsweise an jenen der »Erfahrungsseelenkunde« (à la Karl Philipp Moritz)6 oder auch den der Frühromantik. So könnte man im sentimentalischen Grundton, den Bruder Simon anschlägt, sowohl das Reflexionsbedürfnis der Gebrüder Schlegel als auch Positionen des philosophischen Idealismus karikiert sehen, als er über die mangelnde Fähigkeit seiner Geschwister klagt, (selbst-)reflexiv zu denken:

Simon: Siehst du, jetzt versteht du mich gar nicht, weil du auf die Gedanken noch gar nicht gekommen bist. – Siehst du, ich denke, und mit dem Zeuge, womit ich denke, soll ich denken, wie dieses Zeug selbst beschaffen sei. Es ist pur unmöglich. Denn das, was denkt, kann nicht durch sich selbst gedacht werden. (Tieck 2015, S. 15)

Das Textverfahren dominiert jedoch im Blaubart, ähnlich wie im Gestiefelten Kater (abzüglich dessen vielschichtigen Panoramas) die Polyphonie der Figuren, in denen vielfach Gesellschaftstypen »gespiegelt« werden. Ob dieser »Spiegelung« eine ebensolche Brechung des konventionellen Märchens zukommt, wie sie die beiden anderen Kunstmärchen Tiecks demonstrieren, oder ob hier »lediglich« ein bekannter Stoff neu aufgelegt wird, muss an dieser Stelle offenbleiben. In der Thematisierung von innerweltlicher Kontingenz und der Unergründbarkeit menschlichen Daseins treten jedoch offensichtlich Aspekte auf, die Kremer als für die Spätaufklärung »charakteristisch« begreift. Allerdings könnte die Beobachtung, dass dem Drama eine hintergründige Ironie zu eigen ist, zumal es phantastische, schauerromantische Episoden in die Handlung integriert, Kremers Argument modifizieren. Ohnehin schloss dessen Behauptung, »daß der Großteil der Prosaarbeiten Tiecks bis etwa 1796/1797 formal wie thematisch der Spätaufklärung zuzuordnen und im Kern keineswegs als prä- oder protoromantisch zu verstehen« (Kremer 2011, S.496) sei, ja nicht im engeren Sinne auch die dramatischen Arbeiten mit ein (wenngleich Tieck das »Märchenspiel« Ritter Blaubart im Jahr seiner Entstehung auch noch in die Form einer Erzählung gießen sollte mit dem Titel Die sieben Weiber des Blaubart 7).

Dagegen herrscht weitgehend Einigkeit in der Einschätzung, dass Der blonde Eckbert einen »Bruch« mit der Spätaufklärung markiere, ja sogar als »zentrales Archiv der späteren romantischen Literatur« (Kremer 2011, S. 504) bezeichnet werden könne:

»Der blonde Eckbert« spielt die generischen Möglichkeiten des romantischen Kunstmärchens beinahe vollständig aus. […] Der epochale Bruch mit der Literatur der Spätaufklärung läuft über die Behauptung und Begründung ästhetischer Autonomie, deren Rückseite eine Abgrenzung von der rationalen Zweckbestimmung der Wissenschaft und der moralischen Funktionalität der Literatur der Aufklärung bezeichnet. Die beanspruchte Autonomie des romantischen Textes besteht u. a. in einer weitgehenden Selbstreflexion, in atmosphärischer Ambiguität und allegorischer Verdichtung, aber auch in einer auffälligen psychologischen Differenzierung. (Kremer 2011, S. 504)

Alle diese Kriterien finden in Tiecks Kunstmärchen Der blonde Eckbert ihre Konkretion: die Behauptung ästhetischer Autonomie qua erzählerischer Rahmung und selbstreferentieller Rückkopplung, die Verkettung von Wunderbarem und Wahrscheinlichem, die kunstvolle Ausgestaltung von (Leit-)Motiven wie auch die psychologisch höchst ausdifferenzierte Ambivalenz des Protagonisten.

1.4 Undine (Friedrich de la Motte Fouqué, 1811)

Mit Friedrich de la Motte Fouqués Undine (1811) rückt ein etwa zehn Jahre später entstandenes, in diesem Fall unbestrittenes »Kunstmärchen« in das Blickfeld. Fouqué adaptierte darin Motive aus einer Schrift von Paracelsus über die Elementargeister (Liber de Nymphis, Sylphis, Pygmaeis et Salamandris, et de caeteris spiritibus) von 1591. Im Zentrum der Handlung steht die titelgebende Protagonistin, die dem Wasserreich entstammt und zunächst als launisch-eigensinniges Mädchen eingeführt wird, das einem Fischerpaar als Kind zugelaufen war. Ähnlich wie in Tiecks Der blonde Eckbert entsteht auch zu Beginn dieses Novellenmärchens eine Erzählsituation, die durch den späten Besuch eines Gastes – in diesem Fall ein dem »magischen« Wald entflohener Ritter namens Huldbrand – hervorgerufen wird. Um den nächtlichen Gast zu unterhalten und von der Exzentrik Undines genervt, erzählt der Fischer davon, wie das Mädchen zu ihm gekommen war (Zweites Kapitel). Die Intradiegese erklärt Undines Herkunft zwar nicht gänzlich, enthält aber erste Hinweise auf deren enge Verbundenheit mit dem Wasser. Zudem erzeugt der offenbar unmittelbar aufeinanderfolgende Tod der Fischertochter und das Zulaufen des Mädchens vom Wasser her eine Spannung, die bereits auf den »Kardinalpunkt im problematischen Verhältnis zwischen Mensch und Elementargeist« (Mayer/Tismar 2003, S. 74) hindeutet: die Seele. Dass Undine nur durch die geschlechtliche Verbindung mit einem Mann zum Menschen werden kann, dieses Dasein aber zudem an die eheliche Treue des Gatten gebunden bleibt, markiert den tragischen Knoten der Handlung.

Mit weiteren erzählerischen Einschüben, die zunächst vom Ritter selbst, dann von Undines Perspektive aus erfolgen, wird die Verflochtenheit der Erzählebenen noch gesteigert. Hinzu tritt eine Person, welche die literarisch typische Konstellation eines zwischen zwei Frauen stehenden Mannes noch verschärft. Huldbrands Verhalten entspricht denn auch der erwartbaren, aber den Entwicklungsprozess Undines unterminierenden Reaktion. Hatte sich diese auf der Burg des Ritters zu einer »liebende[n], leidende[n] Frau« entwickelt, versichert sich Huldbrand im Stillen wiederholt seines Selbstmitleids: »Das kommt davon, wenn gleich sich nicht zu gleich gesellt, wenn Mensch und Meerfräulein ein wunderliches Bündnis schließen.« (Fouqué 1979, S. 619) Dass sich diese Beteuerung zu einer Art self- fulfilling prophecy entwickelt, täuscht nicht darüber hinweg, dass die Sphärentrennung von Erden- und Wassermenschen letztlich fiktional transzendiert wird durch den schicksalhaften Einbruch des Wunderbaren in die Handlungswirklichkeit. Ob der Sieg, den die metaphysische Nemesis dabei davonträgt, als romantisches Aufbäumen vor dem (poetischen) Realismus interpretiert werden kann oder ihm vielmehr eine eigene literarische Tiefendimension zugesprochen werden muss, hängt nicht zuletzt davon ab, welcher Perspektive – der literaturgeschichtlichen oder der rezeptionsästhetischen – man den Vorzug geben möchte. Von Tiecks Kunstmärchen hebt sich Fouqués Undine durch das hochkomplexe Hintereinanderschalten von mehreren Binnenerzählungen ab, die alle Hauptcharaktere (Fischer, Ritter Huldbrand, Undine) zu Wort kommen lassen und ihre jeweiligen Perspektiven und Erfahrungen mit metaphysischen, »verwunderlichen Schatten« (Fouqué 1979, S.566) und Mächten wiedergeben. Die Lektüre dieses virtuosen Textes bei hochgradiger, allegorischer Verdichtung bleibt dennoch spannungsreich, da ihn Fouqué in insgesamt neunzehn Kapitel gliedert, die jeweils einen Zwischentitel enthalten – und den LeserInnen sowohl Orientierung verschaffen als auch das Interesse am Fortgang der Handlung erhalten.

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