Märchen

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Welche fatalen Folgen eine solche kulturpolitische »Saat« außerdem noch haben sollte, konnten die Brüder Grimm natürlich nicht wissen. Es wäre falsch, die Entwicklung, in der die KHM prominent stehen, als Vorbereitung der konservativen Gegenrevolutionen bis hin zum Nationalsozialismus misszuverstehen. Aber ebenso falsch wäre es, nicht die Tendenzen zu sehen, die solche Gegenrevolutionen später begünstig ten.

2. E.T.A. Hoffmanns Der goldne Topf als Paradigma des Kunst- und Wirklichkeitsmärchens

Mit der Kritik der Grimms am »Verschönern und poetischer Ausstatten« (vgl. ebd.) ist wohl vor allem das Erzählen im höfischen Kontext gemeint, wie es beispielsweise noch Perrault pflegte. Seit den Märchen und Erzählungen von Christoph Martin Wieland, der Sammlung Volksmärchen der Deutschen von Johann Karl August Musäus (1782–86) und den Märchen Ludwig Tiecks bahnte sich aber ein anderes, nicht-höfisches Märchenerzählen an (vgl. Neuhaus 2017c, S. 83 ff.), das nicht weniger einflussreich werden sollte. Die gültige Form gab dem sogenannten Kunst- oder Wirklichkeitsmärchen E.T.A. Hoffmann mit Der goldne Topf. Ein Märchen aus der neuen Zeit von 1814 in seiner Sammlung Fantasiestücke in Callot’s Manier (1814/15).1 Weitere berühmte Märchen aus seiner Feder folgten, etwa Nußknacker und Mausekönig (1816), das beispielsweise, über den Umweg einer Bearbeitung von Alexandre Dumas, 1892 von Pjotr Iljitsch Tschaikowski als Ballett-Version unter dem Titel Der Nußknacker auf die Bühne gebracht wurde.

Hoffmann verwendet in Der goldne Topf zum ersten Mal konsequent einen Dualismus von auf die zeitgenössische Realität bezogener fiktionaler Realität und Wunderwelt, also einer anderen fiktionalen Realität innerhalb der Fiktion, die wahrnehmungsabhängig ist. Der Archivarius Lindhorst und seine Tochter Serpentina sind die prominentesten Figuren aus der Wunderwelt Atlantis, deren Schöpfungsmythos analog zur Bibel in der dritten Vigilie (lat. »Nachtwache«), also im dritten Kapitel erzählt wird. Dies geschieht mit einer gehörigen Portion (keineswegs nur romantischer) Ironie, die besonders auffällig wird, wenn die beiden »Welten « miteinander kollidieren, etwa nachdem der Archivarius von der Erschaffung von Atlantis erzählt hat:

Erlauben Sie, das ist orientalischer Schwulst, werter Hr. Archivarius! sagte der Registrator Heerbrand, und wir baten denn doch, Sie sollten, wie Sie sonst wohl zu tun pflegen, uns etwas aus Ihrem höchstmerkwürdigen Leben, etwa von Ihren Reise-Abenteuern und zwar etwas wahrhaftiges erzählen.« Nun was denn, erwiderte der Archivarius Lindhorst: das, was ich so eben erzählt, ist das wahrhaftigste was ich Euch auftischen kann ihr Leute und gehört in gewisser Art auch zu meinem Leben. Denn ich stamme eben aus jenem Tale her und die Feuerlilie die zuletzt als Königin herrschte, ist meine Ur-ur-ur-urgroßmutter, weshalb ich denn auch eigentlich ein Prinz bin. Alle brachen in ein schallendes Gelächter aus. (Hoffmann 2006, S. 246 f.)

Schon der Untertitel »Märchen aus der neuen Zeit« hat einen Dualismus etabliert, werden Märchen doch üblicherweise in einer (damals immer häufiger dem Mittelalter nachgebildeten) undatierbaren Vorzeit angesiedelt. Die Evozierung und Vereinigung des Gegensätzlichen, die paradoxale Struktur des Kunst- und Wirklichkeitsmärchens betrifft die beiden Ebenen Zeit und Raum. Dies wird auch in den Unterüberschriften der Vigilien deutlich, die realitätsbezogene und realitäts -erweiternde Wahrnehmung mischen: »Vierte Vigilie. Melancholie des Studenten Anselmus. – Der smaragdene Spiegel. – Wie der Archivarius Lindhorst als Stoßgeier davon flog und der Student Anselmus niemandem begegnete.« (Hoffmann 2006, S.250)

Realitätsbezogen entworfene Figuren pflegen nicht davonzufliegen, erst recht nicht als Stoßgeier, und auch aus der Nachricht, die keine ist – dass Anselmus niemandem begegnete –, spricht die Ironie deutlich, denn sie ist es, die das vereinigende Prinzip darstellt. Nur im Modus der Ironie kann zusammenkommen, was im Text zusammengehört. Die hier bezeichnete Stelle des Davonfliegens gehört zu den Stellen, die meisterhaft den Übergang zwischen den Naturgesetzen folgenden und sie verlassenden Regeln gestalten, hier noch auf der Schwelle der Unsicherheit, ob Anselmus sich den Flug und die Verwandlung des Archivarius nur einbildet:

Der Archivarius hatte dem Studenten Anselmus ein kleines Fläschchen mit einem goldgelben Liquor gegeben, und nun schritt er rasch von dannen, so, daß er in der tiefen Dämmerung, die unterdessen eingebrochen, mehr in das Tal hinabzuschweben als zu gehen schien. Schon war er in der Nähe des Koselschen Gartens, da setzte sich der Wind in den weiten Überrock und trieb die Schöße auseinander, daß sie wie ein Paar große Flügel in den Lüften flatterten und es dem Studenten Anselmus, der verwundrungsvoll dem Archivarius nachsah, vorkam, als breite ein großer Vogel die Fittige aus zum raschen Fluge. – Wie der Student nun so in die Dämmerung hineinstarrte, da erhob sich mit krächzendem Geschrei ein weißgrauer Geier hoch in die Lüfte, und er merkte nun wohl, daß das weiße Geflatter, was er noch immer für den davonschreitenden Archivarius gehalten, schon eben der Geier gewesen sein müsse, unerachtet er nicht begreifen konnte, wo denn der Archivarius mit einemmal hingeschwunden. (Hoffmann 2006, S. 257)

Auch der Schluss, als sich der Erzähler selbst mit der Mitteilung in seine Erzählung einschaltet, er kenne den Schluss nicht, spricht Bände:

Ich härmte mich recht ab, wenn ich die eilf Vigilien, die ich glücklich zu Stande gebracht, durchlief und nun dachte, daß es mir wohl niemals vergönnt sein werde die zwölfte als Schlußstein hinzuzufügen, denn so oft ich mich zur Nachtzeit hinsetzte, um das Werk zu vollenden, war es, als hielten mir recht tückische Geister (es mochten wohl Verwandte – vielleicht Cousins germains der getöteten Hexe sein) ein glänzend poliertes Metall vor, in dem ich mein Ich erblickte, blaß, übernächtig und melancholisch wie der Registrator Heerbrand nach dem Punsch-Rausch und nach allerlei Phrasen haschend um ein nie geschautes Eldorado zu malen. – Da warf ich denn die Feder hin und eilte ins Bette um wenigstens von dem glücklichen Anselmus und der holden Serpentina zu träumen. (Ebd., S. 316)

Der Schluss bietet neben dem Traum und dem »angezündeten Arrak« (einem hochprozentigen Schnaps), den der nun autodiegetisch gewordene Erzähler beim Archivarius unter Umständen genießt, die ebenfalls nicht mit den Naturgesetzen vereinbar sind (vgl. Hoffmann 2006, S. 318), noch eine dritte, die Ironie übersteigende und alles transzendierende Deutung an, wenn der Archivarius den sich über sein eigenes, im Vergleich mit Anselmus trübes Schicksal beklagenden Erzähler wie folgt tröstet:

»Still still Verehrter! klagen Sie nicht so! – Waren Sie nicht so eben selbst in Atlantis und haben Sie denn nicht auch dort wenigstens einen artigen Meierhof als poetisches Besitztum Ihres innern Sinns? – Ist denn überhaupt des Anselmus Seligkeit etwas anderes als das Leben in der Poesie, der sich der heilige Einklang aller Wesen als tiefstes Geheimnis der Natur offenbaret?« (Hoffmann 2006, S. 321)

Es geht um das »Leben in der Poesie«, also um den Prozess der Lektüre selbst. Spätestens jedes erneute Lesen nach der Erstlektüre dürfte den goldnen Topf nun als metafiktionalen Text erscheinen lassen, als einen Text also, der nicht nur ein Märchen ist, sondern im Modus des Erzählens märchenhafter Begebenheiten auch den Konstruktionscharakter und den Sinn des Märchens wie aller Literatur – die Möglichkeiten der Alltagswahrnehmung durch die Kunst zu erweitern – zugleich im Erzählen vorführt.

Diese Doppelcodierung hat Hoffmann im Titel dieser Sammlung als Fantasiestücke in Callot’s Manier und später, einer nicht weniger bekannten Sammlung ebenso einen (ent-)sprechenden Titel gebend, als »serapiontisches Prinzip« bezeichnet (vgl. Neuhaus 2017b, S. 146–153). Die Spuren dieses Konzepts werden in zahlreichen weiteren Kunst- und Wirklichkeitsmärchen zu finden sein, bis hin zu J.K. Rowlings Romanserie über den Zauberlehrling Harry Potter (ab 1997) und Walter Moers’ Zamonien-Romanen (ab 1999; vgl. Neuhaus 2017c, S. 391 ff. und 409 ff.). Selbstreflexivität und ihre Spielart Metafiktionalität (vgl. Mader 2017) werden mit und nach Hoffmann konstitutiv für die Literatur der Moderne und Postmoderne.

3. Schlussfolgerungen

Die Märchen der Brüder Grimm funktionieren auch heute noch, weil der kulturgeschichtliche Kontext ihrer Entstehung in der populären Rezeption konsequent ausgeblendet wird. Die Märchen E.T.A. Hoffmanns funktionieren auch heute noch, weil Hoffmann den kulturgeschichtlichen Kontext ihrer Entstehung weitgehend ausblendet. Zwar sind die Einflüsse der »Theorie der Romantik« (Uerlings 2000) evident, etwa in der Adaption des Konzepts des Goldenen Zeitalters. Doch entwickelt der vielseitige Künstler Hoffmann sein eigenes »autonomieästhetisches« (Heydebrand/Winko 1996, z. B. S. 33) Konzept, dessen Folgen kaum zu überblicken sind.

Das scheinbar naive »Volksmärchen« mit seiner starken Schematisierung und deutlichen Mehrfachadressierung (an Leser*innen aller Altersgruppen und sozialer Herkünfte) hat wenig von seiner Attraktivität verloren, auch wenn manche Schemata in der Trivialkultur zum gängigen Muster geworden sind, etwa das Aschenputtel-Motiv: Junge und attraktive, sich ihrer erotischen Anziehungskraft nicht bewusste Frau wird von gutaussehendem und sozial deutlich höhergestelltem Mann (»Prinz«) geheiratet – und sie lebten glücklich bis an ihr gemeinsames Ende. Welchen Schaden dieses Muster in der Realität junger Frauen angerichtet hat und anrichtet, scheint angesichts fehlender Studien immer noch zu den großen Tabus unserer Kultur zu gehören. Andererseits kann die Beschäftigung gerade mit solchen scheinbar einfachen Texten wie den »Volksmärchen« dazu beitragen, die Faszination und Funktionsweise solcher Schemata besser zu verstehen.

 

Die sich selbst als Literatur thematisierende und gestaltende Literatur, die im Modus der Ironie die Grenze von Fiktionsrealität und Fiktion transzendiert und damit auch die Grenze zur Realität perforiert, scheint hingegen imprägniert zu sein gegen äußere Einflüsse. Doch weil sie deutlich voraussetzungsreicher ist, wird sie immer eher ein elitäres Publikum anziehen. Es ist Aufgabe von Literaturvermittler*innen, die (im Falle Hoffmanns auch historische) Schwelle zu senken. Dann könnten gerade die Märchen E.T.A. Hoffmanns dazu dienen, die produktiven Möglichkeiten der Fiktion deutlicher wahrnehmbar zu machen und so die Produktivität der Fantasie der Leser*innen anzuregen. Nichts anderes hat beispielsweise Michael Ende in seinem metafiktionalen Märchenroman Die unendliche Geschichte (1979) versucht, zweifellos auch unter dem Eindruck seiner Lektürekenntnis der Texte Hoffmanns (und anderer Texte der Romantik, etwa Novalis’ Heinrich von Ofterdingen von 1802).

An den Märchen der Grimms wie Hoffmanns – und anderer – ließe sich, wie ansatzweise deutlich geworden sein sollte, ein ganzes Spektrum der Literaturbetrachtung abstecken und in unterschiedlicher Weise die Relevanz bestimmter Aspekte von Literatur zeigen, von der Entstehung über die Rezeption bis zur Wirkung, vom Text zum sozialgeschichtlichen Kontext, zu dem auch die Autor*innen gehören, und wieder zurück zum Text. Welcher Aspekt realisiert wird, hängt von der Fragestellung und dem Blickwinkel, vor allem aber – sofern man es sich bewusst macht – vom eigenen Erkenntnisinteresse ab.

Literatur

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STEFAN NEUHAUS ist seit 2012 Professor für Neuere deutsche Literatur am Campus Koblenz der Universitä t Koblenz-Landau. Studium der Germanistik in Bamberg und Leeds. 1996 Promotion, 2001 Habilitation, 2005 Ehrendoktorwürde der Universität Göteborg. Professuren an den Universitäten Oldenbur g und Innsbruck. E-Mail: neuhaus@uni-koblenz.de

1 Die Ausgabe im Deutschen Klassiker-Verlag verwendet nach dem Erstdruck die in der weiteren Textüberlieferung unübliche Schreibweise Der goldene Topf.

Viktoria Walter
Das Kunstmärchen um 1800
Beispiele, Ausprägungen, Entwicklungstendenzen

Der Aufsatz vertritt die These, dass die »Kunstmärchen« im Gefolge Ludwig Tiecks ein Produktder Frühromantik sind. Auf Abgrenzungsmerkmale hinsichtlich der Grimm’schen Sammlung von »Volksmärchen« wird ebenso eingegangen wie auch auf erste Beispiele im Ausgang der Spätaufklärung. Im Zentrum der Analyse stehen vier prominente Texte, die unterschiedlichen Gattungen entstammen: Tiecks »Novellenmärchen« Der blonde Eckbert, das sogenannte »Kindermärchen« Der gestiefelte Kater, das mit dem Untertitel versehene »Ammenmärchen« Ritter Blaubart sowie de la Motte Fouqués bekanntes Märchen Undine. Als wesentliches Merkmal von »Kunstmärchen« lassen sie neben der allegorischen Motivbildung wesentliche romantische Gestaltungsprinzipien wie perspektivische Rahmung, die Subversion von faktualem und fiktionalem Erzählen und – ganz wichtig – ironische Stilisierung erkennen. Das abschließende Beispiel vom »Antimärchen« in Büchners Woyzeck zeigt, dass die Subgattung mit der Hochromantik zwar ihren Zenit erreicht, aber noch nicht ausgedient hat.

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1797 war nicht nur Goethes und Schillers »Balladenjahr«, sondern auch das »Märchenjahr« der Frühromantik. Neben Goethes Zauberlehrling und Schillers Der Taucher sowie Der Handschuh werden im selben Zeitraum das »Kindermärchen« Der gestiefelte Kater, das »Ammenmärchen« Ritter Blaubart und das »Novellenmärchen« Der blonde Eckbert verfasst. So können die Kunstmärchen in ihrer deutschsprachigen Ausprägung als eine Erfindung der Frühromantik betrachtet werden, allen voran des Dichters Ludwig Tieck. Zwar hatte Goethe mit Schiller bereits 1795 im Rahmen des gemeinsamen »Horen«-Projekts über die Integration seines Märchens in die »Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten« verhandelt. Auch nimmt das Kunstmärchen als »eine Gattung von Märchenerzählungen« nach heutigem Forschungsstand – trotz aller definitorischen Abgrenzungsprobleme, wie u. a. Mathias Mayer und Jens Tismar (Mayer/Tismar 2003, S. 1) befinden1 – streng genommen bereits in der Spätaufklärung seinen Anfang, als Christoph Martin Wieland die europäische Tradition der contes de fées (Feenmärchen) in Don Sylvio (1764) adaptierte – ein Roman, der in seiner Anlage »offen das Muster »Don Quijote« nach[ahmte]« (ebd., S. 35): »Schwärmerei als fehlender Wirklichkeitssinn wird exemplifiziert an der unvernünftigen Weltansicht des Helden, insofern er literarische Fiktionen schlicht für wahr hält.« (Ebd.)2 Im Deutschen Wörterbuch der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm wird das Märchen denn auch als eine »fabula«, eine »kleine Erzählung« bezeichnet, die »im gegensatz zur wahren geschichte« stehe und als bloße »kunde, nachricht, die der genauen beglaubigung entbehrt, ein bloszes weiter getragenes gerücht« (DWB, Bd. 12, Sp. 1619) angenommen werden könne. Trotz der darin anklingenden Abwertung sollte jenes »Wunderbare«, das sich in der schillernden Wirklichkeit der Fiktion als etwas »Sagenhaftes« ereignete, gerade das imaginäre Potential einer Literatur steigern, die sich mit dem romantischen Kunstideal wesentlich vorwagte in eine durch Ironie und Witz gebrochene, sich selbst reflektierende Poesie.

In diesem Beitrag möchte ich ein paar der markantesten Kunstmärchen um 1800 in ihrer Anlage und Ausformung einander gegenüberstellen. Eine Analyse der die Subgattung prägenden Konventionen muss sich dabei grundlegend von jener der Volksmärchen unterscheiden, insofern die Kunstmärchen als originelle, »individuelle Erfindung eines bestimmten, namentlich bekannten Autors« (Hasselblatt 1956, S. 134 f.) schriftlich fixiert und veröffentlicht wurden, bevor sie weitere Verbreitung fanden. In der neueren Märchenforschung wird denn auch vor einer »Fixierung auf die Volksmärchentradition« (Zeller 1993, S. 56) gewarnt.3 Manfred Grätz kritisierte schon in den 1980er Jahren, dass gemeinhin die »Angaben über die mündliche Vermittlung der Erzählungen so spärlich und zugleich so klischeehaft« seien, »daß sie nur mit größter Vorsicht übernommen werden sollten« (Grätz 1988, S. 29). Dennoch gestaltet sich der Versuch einer kontrastiven Abgrenzung von den Volksmärchen auch deshalb als schwierig, da die Kunstmärchen nicht zuletzt aus einem ähnlichen Fundus an Topoi und Stoffen schöpften – bzw. sich ihrer Motive bedienten. Insofern wird die Grimm’sche Märchen-Definition im Deutschen Wörterbuch sinnvollerweise um jene der Volksmärchen ergänzt, die in Anlehnung an Joachim Heinrich Campes Wörterbuch der deutschen Sprache gefasst wurden als »1) »ein mährchen fürs volk, für die menge zur unterhaltung und auch wohl zur belehrung«« und »2) »mährchen, welche einem volke eigenthümlich sind, welche unter demselben erzählt werden«« (DWB, Bd. 26, Sp. 492).