Manfred Maurers Reise in den Süden

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da blickt onkel karl vom dritten koffer, den er gerade vollstopft, auf und faucht alfred an: jetzt setz dich endlich einmal nieder und hör mit dem blöden herumtanzen auf.

alfred schießt das blut in den kopf. er setzt sich beschämt nieder und ist dem weinen nah, kann es nur mühsam unterdrücken. und dabei hat alles so schön angefangen, er hat so eine freude gehabt, und jetzt ist wieder alles aus.

ich fahr nicht mit, denkt er, ich fahr nicht mit mit denen, ich bleib daheim bei der mutti.

jetzt sitzt er wieder im fauteuil und starrt vor sich hin. onkel karl wagt er nicht anzublicken und auch nicht seinen entschluß bekanntzugeben und zu gehen. er bleibt sitzen und läßt onkel karl in seiner phantasie die schrecklichsten qualen erleiden.

diese hunde werden schon sehen, denkt er, daß ich nicht mitfahr, wenn ich heut nacht nicht komm.

erst jetzt merkt er, daß tante mitzi und franz gar nicht hier sind. er hat keine ahnung, wo sie sein könnten, macht sich aber auch keine gedanken darüber. jetzt ist ihm ohnehin wieder alles egal und kann ihm gestohlen bleiben.

als es läutet, sind sie plötzlich wieder da. franz sperrt die tür auf und kommt mit der pflegemutter ins zimmer zurück.

sie ist eine einfache, sehr christliche frau. sie geht jeden tag zur frühmesse und besucht auch alle anderen kirchlichen veranstaltungen. sie glaubt, dadurch einen platz im himmel ergattern zu können.

ihre haare sind schon recht grau. sie hält ihre alte, abgegriffene geldtasche in der hand und bespricht sich mit alfreds verwandtschaft, von der sie sehr viel hält. schließlich fischt sie mit fingern, die von harter arbeit gezeichnet sind, sieben hundertschillingscheine heraus und will sie tante mitzi geben. doch diese lehnt entschieden ab. wenn sie das geld nicht sofort wieder einstecken, sagt sie, nehmen wir ihn gar nicht mit, dann muß er zu hause bleiben.

die pflegemutter macht, hilflos gegen solche entschiedenheit, keinen weiteren versuch mehr, das geld loszuwerden. sie steckt es in die geldbörse zurück und verschränkt die hände hinter dem rücken.

alfred ist froh, daß sie es nicht genommen haben. er hatte ohnehin schon ein schlechtes gewissen, weil die pflegemutter so viel geld für ihn ausgegeben hat. so viel kann sie vom jugendamt gar nicht bekommen haben.

ich werde doch mitfahren, denkt er.

onkel karl ist nun wieder die freundlichkeit in person. er spricht sehr nett über alfred zur pflegemutter und lächelt ihn von zeit zu zeit an.

er ist ja gar nicht so bös, wie ich dachte, denkt alfred, zuerst sind ihm halt die nerven durchgegangen, und ich hab ja auch meine schuld gehabt, warum bin ich nicht sitzen geblieben und hab eine ruh gegeben.

alfred versöhnt sich wieder mit onkel karl, obwohl dieser gar nichts weiß vom haß, den alfred auf ihn hatte, und von der wut und seinem entschluß, nicht mitzufahren.

gehst du gleich mit mir? fragt die pflegemutter.

ja, sagt alfred und steht auf.

die beiden verabschieden sich, die pflegemutter sagt noch etwas von einem recht schönen dank. sie gehen. alfred ist nun wieder zufrieden mit sich und seiner welt, und die angst von vornhin ist verflogen. onkel karl und franz tragen die koffer und die kisten mit den lebensmitteln ins auto hinaus.

da wäre es halt gut, wenn wir einen anhänger hätten, sagt franz.

zu hause angekommen, geht alfred gleich ins bett. jetzt ist es achtzehn uhr, um ein uhr heißt es: heraus aus den warmen federn, dann muß er ausgeschlafen sein.

obwohl die vorhänge zugezogen sind, ist es sehr hell im raum. alfred kann nicht einschlafen. er ist nervös und wird immer nervöser. er kriecht unter die steppdecke, doch dort ist es unerträglich heiß. er kriecht wieder hervor und legt sich daneben. vom wohnzimmer hört er die stimme des radiosprechers, der von studentenunruhen in der bundesrepublik deutschland berichtet. bilder aus fernen südlichen ländern gehen durch alfreds kopf. er erlebt zahlreiche wilde abenteuer.

als ihn die pflegemutter um dreivierteleins weckt, reißt sie ihn aus einem tiefen, festen schlaf. er steht auf, geht ins badezimmer, wäscht sich hände und gesicht, putzt die zähne, dann trinkt er eine tasse russischen tee, mehr bringt er nicht hinunter. er hat ein großartiges, verschlafenes gefühl.

endlich, denkt er, endlich ist es soweit.

er schlüpft in seine halbschuhe und zieht einen pullover über das leibchen. dann gibt er der pflegemutter die hand, und sie gibt ihm einen kuß auf die wange, zeichnet ihm mit weihwasser das kreuz auf die stirn und ermahnt ihn noch einmal, vorsichtig zu sein, aufzupassen.

ja ja, sagt alfred und huscht bei der tür hinaus.

die pflegemutter kehrt ins bett zurück. vor diesem augenblick des abschiednehmens hatte sich alfred gefürchtet. nun ist auch das vorbei.

es geht eh alles vorbei, denkt er, alles kommt und geht, man muß nur geduld haben und warten können.

er läutet einmal kurz und wird von franz eingelassen. alle drei sind hellwach und gleich fertig. sie ziehen ihre schuhe an, onkel karl dreht das licht ab und versperrt die tür zweimal hinter sich. sie gehen zum auto, das vor der haustür steht. es ist saukalt und regnet. onkel karl öffnet die wagentüren, sie steigen ein, onkel karl startet und fährt los. es ist viertel nach eins, jetzt kann sie nichts mehr aufhalten. sie decken sich, bis auf onkel karl, der fährt, mit den buntgemusterten decken zu, die tante mitzi mitgenommen hat, und versuchen zu schlafen. wasser rinnt die scheiben hinunter: ein richtiges sauwetter. onkel karl schaltet die heizung ein. alfred döst vor sich hin. später, als sie nicht mehr schlafen wollen, gibt es wurstsemmeln, die im backrohr resch gemacht wurden und beim hineinbeißen kräftig knacken. als sie klagenfurt passieren, hört es zu regnen auf, onkel karl kann die heizung ausschalten. die ersten menschen wagen sich auf die straßen an diesem julimorgen. sie gehen, wie es scheint, im sonntagsgewand zur frühmesse.

heut wird ein schöner tag, sagt onkel karl.

irgendwann kommen sie über die grenze. die beamten machen sich nicht einmal die mühe, die reisepässe zu kontrollieren. alfred ist enttäuscht. wozu hat mir denn die mutti extra einen paß ausstellen lassen, denkt er, wenn sie ihn dann nicht einmal anschauen.

kurz darauf gelangen sie an einen berg. alfred kriegt angst, als sie immer höher die serpentinen hinaufkriechen. er traut sich gar nicht hinauszuschauen. franz macht es spaß. er lacht und malt sich aus, wie es wäre, wenn sie abstürzen würden. und dann plötzlich ein lauter knall, ein rumpeln, ein rattern. sie schrecken zusammen, franz hört zu lachen auf. sie sind über einen felsbrocken gefahren, der sich irgendwo da oben gelockert hat und auf die straße gerollt ist. onkel karl hält an und steigt mit franz aus. sie legen sich auf die straße und schauen nach, was passiert ist. der auspuff hat sich beim aufprall gelockert, aber es ist nicht so schlimm, wie sie befürchtet hatten, sie können die fahrt fortsetzen.

onkel karl sagt, er werde den auspuff in den nächsten tagen herrichten lassen.

tante mitzi sagt: gottseidank, daß nicht mehr passiert ist.

auf der anderen seite geht es den berg wieder hinunter. sie sind in jugoslawien. die landschaft, die draußen vorbeizieht, gefällt alfred. nichts als stein, ganz selten etwas grün. die menschen haben steinwälle errichtet, um ihr bißchen erde vor dem räuberischen wind, der pausenlos weht, zu schützen. zwischen den felsen versteckt, sind bunker zu sehen.

die stammen aus dem zweiten weitkrieg, sagt onkel karl, hier wurde erbittert gekämpft, viel zerstört, auch die karl-may-filme werden hier gedreht.

alfred schaut zu den felsen hinauf und stellt sich vor, daß er winnetou ist und auf seinem schwarzen pferd mit einer bunten decke anstelle des sattels durch die wildnis reitet, um seinen blutsbruder old shatterhand zu treffen.

zu mittag halten sie an und gehen mitten in der steinwüste in ein wirtshaus essen. alfred ißt ein schweinskotelett ohne salat, trinkt coca-cola und bezahlt zum ersten mal mit dem fremden geld, das ihm die pflegemutter und die mutter mitgegeben haben. franz trinkt apfelsaft, weil coca-cola schädlich ist.

du mußt aufpassen, daß man dir immer richtig herausgibt, sagt tante mitzi zu alfred, als sie das wirtshaus verlassen.

es geht weiter. bald darauf kündigt tante mitzi das nahende meer an. alfred hat es noch nie in wirklichkeit gesehen, er ist schon sehr gespannt. und da ist es auch schon: am horizont ist unter dem blauweißen himmel ein blauer streifen zu sehen. das meer, endlich.

die heimat der fische und anderer meerestiere, denkt alfred. ziel von millionen erholungssuchenden aus allen teilen europas, wie er in der schule gehört hat.

in der letzten zeit immer mehr abwasserkloake, sagt onkel karl. als es immer näher rückt, steigen sie aus und gönnen sich den anblick. dann geht es weiter. im wagen ist es unerträglich heiß. alfred benutzt das erfrischungstuch, das ihm die pflegemutter mitgegeben hat. ein erfrischender gestank verbreitet sich im wageninneren.

in drei stunden müßten wir da sein, sagt tante mitzi.

hoffentlich, denkt alfred.

er kann schon gar nicht mehr sitzen, jeder knochen tut ihm weh. die drei stunden ziehen sich noch unendlich hin, doch schließlich sind sie da. sie sind in zadar angekommen, auf einem der beiden campingplätze der stadt, wo sie die nächsten zwei wochen verbringen werden. onkel karl bezahlt im verwaltungshäuschen für das zelt, das auto und vier personen. dann fahren sie hinein und suchen einen freien platz. das meer: schmutziggrau, zum greifen nah. nur wenige vergnügen sich in den hohen wellen. ein anlegesteg für boote, weiter draußen eine boje und ein motorboot mit einem wasserschifahrer hinten dran. alfred ist enttäuscht.

 

am nachmittag ist es meistens schmutzig, sagt tante mitzi, ihr müßt halt am vormittag baden gehen.

sie gehen über den gelben sandstrand zum wäldchen zurück, wo die vielen bunten zelte mit den dazugehörigen autos stehen. onkel karl hat den wagen auf einem freien platz zwischen zwei kiefern abgestellt. sie beginnen das zelt aufzustellen. alfred hilft kräftig mit, er schlägt die heringe in den weichen waldboden. nachdem das orangegelbe zelt steht, graben sie mit ästen einen graben rundherum, damit, falls es doch mal regnen sollte, kein wasser ins zeltinnere dringen kann. dann verstauen sie das mitgebrachte, schließlich gehen franz und alfred sich ein wenig umschauen. franz zeigt alfred die waschanlagen und die toiletten. er war schon einmal hier. dann werfen sie steine gegen baumstämme. zu mehr reicht es heute nicht mehr. sie sind zu müde von der anstrengenden fahrt.

um acht gehen sie schlafen. sie liegen in einem der beiden räume auf campingbetten und luftmatratzen. die erste nacht in einer fremden umgebung, in einem eigenartigen raum. alfred schläft nicht gut. er sehnt sich nach der pflegemutter und würde am liebsten neben ihr liegen und ihr schnarchen hören. er friert. die beiden decken sind nicht warm genug, auch nicht hier im süden.

am morgen beklagen sich auch die anderen über schlechten schlaf. da muß man sich erst daran gewöhnen, sagt tante mitzi.

alfred und franz stürzen sich gleich ins meer. ein herrliches gefühl, obwohl das salz auf den zungen, lippen, nasen und augen brennt.

später liegen sie im weichen sand unter der sonne, gehen dann hungrig zum frühstückstisch. es gibt frischen kaffee, frisches weißbrot, das tante mitzi irgendwo aufgetrieben hat, butter und wurst. alfred fühlt sich wohl.

sie verbringen, wie beabsichtigt, zwei wochen dort. einige male weint alfred heimlich, einmal bekommt er von onkel karl eine ohrfeige. das schöne, das er erlebt hat, wird er, wieder zu hause, erzählen, das häßliche nicht, das wird er verschweigen und vergessen. denn dafür schämt er sich.

Quelle: »Land der Hämmer«, Prosa, Europaverlag 1985

Moira Frank – Reise mit Armand rückwärts

Moira Frank

Reise mit Armand rückwärts

Es ist spät, nach vier, Armand macht an diesem Mädchen mit dem Hipsterhaarschnitt rum, ihre Lippen sind dünn und über ihrem Mund hängt statischer Rauch. Sie trägt Omastrümpfe und hochgeschnürte Stiefel und ein ausgeleitertes camelbraunes Hemd und Armand zupft ihr Flusen und kleine Knötchen von der Innenseite der Ärmel und wiegt die rotlackierten Hände. Ich lecke mir Krümel von hinter den Zähnen, drücke mit einem Finger mein linkes Nasenloch zu und ziehe durch das rechte hoch, es ist wegen irgendwas zugeschwollen. Ich sage: Lass uns nach Hause, Armand, und Armand wirft die Hände hoch und sagt: Das ist doch lächerlich. Ich sage: Du kannst mich mal, Armand. Ich sage: Ich hasse es hier, ich hasse es. Armand sagt: Schön! In diesem Ton, und zündet sich noch eine an. Er sagt: Schön, nur eine Nacht, Mo, du hasst es, okay, okay, nur noch die Nacht. Ich sage: Armand. Er sagt: Mo. Aber er sieht mich nicht an. Als wäre ich es, die undankbar ist. Fuck you, Armand, sage ich, aber ich glaube nicht, dass er mich hört. Fuck you very much.

Das Hipstermädchen lehnt jetzt an Armands Brust, winkelt ein Bein an, lässt den Fuß kreisen, bestimmt knackt er in den Schnürschuhschäften, am Knie peelen sich die Strickstrumpfhosen, sie zieht die Oberlippe hoch und zeigt glatte Zähne, die ganzen Jahre scheiß Zahnspange haben sich gelohnt, sie steckt die Zunge in die kleine Lücke zwischen den Vorderzähnen, knapp vorbei an lasziv. Als Armand ihr das Haar zurechtlegt und ihren dünnen rauchbehangenen Mund berührt, stehe ich auf, spucke alles, was ich an Krümeln und Speichel und Rotz im Mund habe, in ihr scheiß spanisches Hipsterbier und gehe nach draußen. Die Nacht ist kalt, ein paar Typen rauchen vor der Tür, ihre Gesichter verstecken sich, ich lege mich zwischen sie auf die kalten Clubstufen. Ihre Füße machen mir Platz.

Wir haben uns zwei Tage vor Studienbeginn auf dieser Party getroffen, Armand wohnt über dem Mädel, mit dem meine Mitbewohnerin zusammen ist, zumindest war sie das da, das ist ein bisschen kompliziert. Sie sind mal Ex und mal nicht, und am Freitag spielen sie Lesbenfußball und Halo. Armand hat noch keinen Bart getragen und die Augen zusammengekniffen, weil er seit Beginn der Party bekifft gewesen ist, und ich habe gesagt: Ich studiere katholische Theologie auf Grundschullehramt. Ich heiße Mo. Meine Mitbewohnerin ist eine Scheißlesbe, ich bete jede Nacht für sie.

In Armands Zimmer sind die Laken auf die Vorhänge abgestimmt. Er verreist fünfmal im Jahr und macht archäologische Ausgrabungen ohne Erlaubnis. Ich war neulich im Supermarkt und habe Käse gekauft. Über den Abenteuergehalt meines Lebens gibt es nur Supermarktanalogien.

Während ich im Bad mein Haar mache, raucht Armand seine Filterpackung auf. Du siehst aus wie eine Scheißlesbe, sagt er, als ich aus dem Bad komme. Und ein Holzfällerhemd, sagt Armand, ja klar. Hast du nichts drunter?

Hättest du auch nicht, wenn du quasi keine Brüste hättest, sage ich. Armand lacht, er trägt enge Jeans und seinen dünnen grünen Pullover. Er ist grau meliert und in den Achseln knotig vom vielen Tragen.

Ich habe mir gedacht, wir couchsurfen noch die Nacht, ein oder zwei, sagt Armand nach einer Weile, er lässt die leere Zigarettenpackung in seiner Hosentasche verschwinden. Ist doch schön. Hier bleiben, Mo. Nicht lange. Nur mal gucken. Die Stadt.

Eine Weile schweigen wir.

Das ist doch prima, sagt Armand dann, du bist asexuell und ich nicht.

Ach was, sage ich, ach was, Armand. Ich sage: Scheiße.

Sei doch nicht so empfindlich, sagt er, du bist albern, so ist es doch, oder nicht? Du rennst eben nicht rum und fickst mit Leuten.

Ich knöpfe mein Hemd neu zu, am Kragen stimmt es nicht, den zweiten Knopf von oben schließe ich mit einer Sicherheitsnadel, einer kleinen goldenen, weil ich mein Nähzeug verlegt habe und den Ersatzknopf verloren und sonst sieht man beim Vorbeugen meine Brüste.

Mach dein Haar auf, sagt Armand, nie machst du dein Haar auf. Meinst du, ich sollte eine Jacke drüberziehen? Wir bleiben sicher lang, was meinst du, soll ich lieber die Jacke mitnehmen?

Ich bin nicht deine scheiß Mutter, Armand, sage ich, bin ich nicht, Armand. Bin ich nicht.

Um acht gibt es Frühstück, sagt Armand.

Das mit Hausarbeit und so ist schwer mit Armand, der sonst Metalldetektoren in andere Länder schmuggelt und undercover irgendwelche Hipsterreportagen fürs Zeitmagazin macht. Manchmal rufe ich ihn an und frage ihn, ob er den Müll schon rausgebracht hat. Neulich habe ich ihm gezeigt, wie das mit dem Bettbeziehen einfacher ist, dabei wohnt er jetzt schon zwei Jahre allein und muss das mal so hinkriegen. Die Hostelbettlaken haben keinen Gummizug, das muss ich also für ihn machen, und die Decken, die er bezogen hat, klumpen unten drin. Armand hat sich auf den Teppich gelegt, um mir im Weg zu sein. Ich klopfe die Kissen auf, steige dreimal über Armand weg, um die Decken aufzulegen, meine Sachen auszupacken und im Zimmer zu verteilen und mir im Bad die Hände zu waschen. Wir benutzen Armands Shampoo, weil sie hier keine Seife haben, nur welche für fünfzig Cent und das gibt es aus Prinzip nicht.

Stell dir vor, wir würden an der Decke leben, sagt Armand, als ich mich zu ihm lege.

Ich ordne die Füße auf dem Teppich, bis sie exakt parallel liegen. Unsere Köpfe berühren sich, wir schwitzen beide. Draußen rauscht der Verkehr, Armand hat die Hände auf dem Bauch gefaltet. Wir würden an der Decke schlafen und um die Lampe da herumlaufen und da hinten eine Stufe ins Bad steigen.

Was machen wir, Armand, frage ich. Was machen wir noch hier.

Wir sehen uns die Decke an, sagt Armand und zieht eine zerdrückte Packung Filterzigaretten aus seiner Brusttasche. Er schlägt mit dem Kopf an meinen, als er sich ein wenig vom Teppich hochdrückt, den Rücken ins Hohlkreuz, um an ein Feuerzeug in seiner Hosentasche zu gelangen. Es knackt in seinen Nackenwirbeln, ich sage: Armand. Das knackt. Drehst du nicht mehr selbst?

Morgen, sagt Armand zwischen den Lippen, mit dem Feuerzeug hantierend. Es dauert eine Weile, er flucht, dann steigt mir der Geruch von Rauch in die Nase. Ich atme ein und aus und stelle mir vor, zu rauchen. Über uns blinkt ein Feuermelder. An der Decke bröckelt überall der Putz. Armand bläst Rauch durch Mund und Nase und legt die Hand mit der Zigarette vorsichtig wieder auf seinem Bauch ab. Sein Kopf reibt an meinen, als er die Beine übereinander schlägt und Rauchkringel über mein Gesicht zu blasen versucht. Ist schon okay, sagt er zum Feuermelder und zu meinem Kopf. Ich halte ganz still.

Ich bin mal im Zug eingeschlafen. Ich bin ganz plötzlich aufgewacht und habe dann einen Panikanfall gekriegt, dabei war es noch vor meiner Station. Wenn wir an der Straße stehen, halte ich immer hinten Armands Kapuze oder sein Hemd oder seinen Rucksack fest, er ist nämlich mal fast vor einen Opel gelaufen. Er steigt immer hinten in den Bus und setzt uns immer vor die letzte Tür hinter die Plexiglasscheibe, Schulter an Schulter. Ich lehne am Fenster. Armand schiebt mir unsere Rucksäcke auf den Schoß. Es ist warm und stickig und fremd und riecht nach anderssprachigen Leuten und abgestandener Luft unter der Busdecke. In den kleinen Kuhlen an Armands Augen und Nase bildet sich Schweiß. Armand lehnt sich zum Fenster hin, ich kann seine Haut riechen, sein Haar, sieh mal, sagt er, der Turm. Du musst von hier gucken, nein, komm her, hier. Siehst du, man kann oben raufsteigen, wollen wir das nachher machen.

Vergiss es, Armand, sage ich, vergiss es, nee, ich kann nicht, du weißt ja. Armand sieht mich aus den Augenwinkeln an. Nee, sage ich, nee, lass mal. Armand lässt meinen Arm los, und ich setze mich wieder gerade hin. Ich weiß gar nicht, was du hast, sagt Armand. Man stirbt halt, wenn man runterfällt.

Du bist ein ganz schön zynisches Arschloch, Armand, sage ich. Ach was, sagt er. Dann sind wir still. An der siebten Haltestelle steigen wir aus, Armand streckt das Gesicht in die Sonne, der Bus fährt ab, wir stehen auf einer Straßeninsel, auf der anderen Seite Pappeln und unter meinen Achseln ein klebriges Jucken von Shirt und Schweiß und winzigen Haarstoppeln, obwohl ich mich gestern rasiert habe.

Ich habe mal geträumt, dass ich in einem Land aufwache, in dem keiner meine Sprache spricht. Es gibt keine Schilder, und niemand kann mir sagen, wie ich zurück nach Hause komme.

Du musst wissen, habe ich zu Armand gesagt, du musst wissen, sie ist die einzige, die mich je richtig geküsst hat.

Armand sagt nichts. Einmal: Scheiße, Mo, du bist kein Kerl, Mo. Bist du einfach nicht.

Im dritten Semester hat Armand mich angesehen und gesagt, shit, wir sind ja schon im dritten Semester, aber er ist immer noch nicht darüber hinweg, dass ich nicht mit ihm Shisha rauche und beim Gähnen weinen muss und die Stadt nie verlasse. Ich glaube, die Sache mit dem Roadtrip ist Armands Idee gewesen, weil ich noch nie unterwegs gewesen bin und seine Aussprache korrigiere und von der Küste komme, wo alles so scheiße flach ist und überall nur Kühe sind, und das ist wahr, das stimmt ehrlich. Ich bin durch und durch zu Hause und habe nur einen theoretischen Abenteuerdrang, aber Armand, Armand musste ihn ja kurieren wollen.

Im Zug sage ich, scheiße, Armand, es sind ja überall Berge hier, Kühe auch, aber die Berge, die sind ja wirklich, sage ich, wirklich. Es ist schön.

Das sind bloß Hügel, sagt er, Mo, bloß Hügel, da ist ein signifikanter Unterschied. Er zieht an den Trageriemen seines Rucksacks, er sieht nicht aus dem Fenster. Komm schon, sagt er, seine Beine sind mir im Weg. Wir klettern ins nächste Abteil, es ist der Speisewagen, meine Waden jucken. Armand bestellt zwei Flaschen Cola, die nicht Cola heißt, er kommt quer durch die Tischreihen geschlendert, zwischen die Finger die geöffneten Flaschenhälse geklemmt. Ich sitze auf den Riemen meines Rucksacks, die Ellbogen und einen Rucksack zwischen den Knien. Wir trinken, Armand verbiegt ungeschickt die Kronkorken, ich starre nach draußen, an uns zieht unbekannte Vorstadtlandschaft vorbei. Ich denke an zu Hause, ich denke an das Meer, und mit einem Mal denke ich, scheiße, wären wir ans Meer gefahren.

 

Du musst aufhören, zu tun, als wäre das was Besonderes, mit den Bergen, sagt Armand nach einer Weile. Das gibt es überall. Aber das hier. Das. Er trinkt Cola und öffnet ein Stück den Mund, sodass ich das Zischen der Kohlensäure hören kann, bevor er schluckt. Das ist wirklich superalbern, Mo.

Du kannst mich, erwidere ich in meinen Flaschenhals. Ich sage: Wenn du noch einmal signifikant sagt, bring ich dich um.

Um halb sechs weckt mich einer der Typen von vorm Club, burgunderrote skinny Jeans, Schnürschuhe, schwarzes Vneck, schwarze Plugs, hat seinen scheiß Jutebeutel verlegt. Er riecht nach Rauch und Subkultur. Das gibt es überall. Ich bin zu Hause, ein wenig. Für einen Moment. Ich bin auf den Treppen eingeschlafen, unter dem Hemd bin ich nackt, die kleinen Härchen im Nacken und auf den Armen sind aufgerichtet und meine Brüste eisig. Es ist schon ziemlich hell, mir ist kalt. Ich setze mich auf, mein Hemd rutscht aus dem Gürtel. Ist schon mal wer von diesem Turmding gefallen, frage ich den Typen auf Englisch. Has someone ever fallen from that tower thing.

Die Lippen von dem Typen bewegen sich.

Von dem scheiß Turm, brülle ich. Fucking fucktower.

What, brüllt der Typ. Er bringt den Mund ganz nah an mein Ohr. Ich kann den kleinen Bartflaum in der Kinnkuhle und Gras riechen, harte Drogen und so. Half six, brüllt er, und ich wünsche mir plötzlich nichts so sehr wie zu ihnen zu gehören, zu diesem Typen mit den scheiß Plugs und den Piercings und der Burgunderjeans irgendwo woanders.

Meine Nase ist zu. Ich stehe auf, massiere meine Knie, gehe zurück in den Club, der verhangen ist von Zigarettenrauch und Schwaden aus Nebelmaschinen. Es läuft Techno. Armand und das schöne Hipstermädchen sind verschwunden, nur seine Jacke hat er über dem Stuhl vergessen. Ich ziehe sie an, vergrabe meine Hände in den Taschen und verlasse den Club. Ich schlurfe. Über den Häuserblöcken geht gerade die Sonne auf.

Fick dich, sage ich zu niemand Bestimmtem. Ich massiere meine Schläfen. Unter dem Turm ist eine Grasfläche. Ich wickle mich in Armands Jacke und lege mich auf den Rücken. Der Himmel nimmt ein dünnes Lichtblau an. Die Stadt, deren Namen ich mir keinen Moment gemerkt habe, sieht schön aus im ersten Sonnenlicht. Ich schließe die Augen.

Scheiße, denke ich.

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