Za darmo

Lockdown, Homeschooling und Social Distancing – der Zweitspracherwerb unter akut veränderten Bedingungen der COVID-19-Pandemie

Tekst
0
Recenzje
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

1 Einführung

In Texten zur Aneignung und Vermittlung von Kenntnissen der Zweitsprache Deutsch für den Arbeitsmarkt im Allgemeinen und bestimmte Berufe oder Arbeitsfelder im Speziellen von/für erwachsene/n Migrant*innen – kurz berufsbezogenes Deutsch oder Deutsch für den Beruf genannt – hat sich als Grundlage das Verständnis von Sprache als sozialer Praxis (vgl. Grünhage-Monetti/Klepp 2004) sowie von Sprachaneignung als Sozialisationsprozess in communities of practice (vgl. Wenger 2008) durchgesetzt. Institutionelle Angebote sollten somit möglichst früh den Sprachlernort Arbeitsplatz einbeziehen oder diesen zumindest simulierend oder erprobend in den Klassenraum holen, wie dies z.B. die Szenariomethode (vgl. Sass/Eilert-Ebke 2014) in Ansätzen ermöglicht. Die neuen Berufssprachkurse1 haben mit ihrer Prüfungsfokussierung sowie dem weitgehenden Ausschluss des Lernortes Arbeitsplatz durch Streichung von Praktika zu einem diesbezüglichen Rückschritt geführt. Die pandemiebedingte Unterbrechung von Kursen und ihre Fortsetzung in digitalen Formaten stellt eine weitere Herausforderung dar. Dies betrifft insbesondere die Gruppe neuzugewanderter Personen, die durch fehlende Kontakte in der ersten Zeit in der neuen Heimat sowieso schon wenig Zugang zu deutschsprachigem Input bzw. zielsprachigen Praktiken haben, was sich in Zeiten sozialer Distanz noch potenziert.

In diesem Beitrag wird auf der Grundlage eines Verständnisses von Sprache und Sprachaneignung als sozialer Praxis und der daraus resultierenden Wichtigkeit von Materialität und Körperlichkeit und dem mit ihr verbundenen impliziten Wissen für einen möglichst hohen Praxisanteil in berufsbezogenen DaZ-Kursen bzw. einem möglichst frühen Zugang zu und Teilhabe an beruflichen Praktiken plädiert. Darauf basierend gehen wir der Frage nach, wie dieser Forderung in Zeiten pandemiebedingten digitalen Lernens und Unterrichtens begegnet werden kann. Dafür werden zunächst Qualitätskriterien für digitales Lernen und Lehren von Deutsch als Fremd- und Zweitsprache (DaF/DaZ) dargelegt und mit dem Praxisbegriff in Beziehung gesetzt, bevor folgende Unterfragen behandelt werden: Inwieweit kann in die sozialen Praktiken am Arbeitsplatz oder allgemein im Berufsleben eingeführt oder auf sie vorbereitet werden? Um welche sozialen Praktiken handelt es sich beim Distanzlernen? Worauf kann zurückgegriffen werden? Welche Ressourcen können genutzt werden? Wo sind Grenzen?

Die dafür exemplarisch vorgestellten Ideen und Erfahrungen aus berufsbezogenen DaZ-Kursen zur Begegnung dieser Herausforderungen werden hinsichtlich ihrer Bedeutung und Annäherung an oder Ermöglichung von der Aneignung des Deutschen für den Beruf als soziale Praxis in Zeiten der sozialen Distanz kritisch diskutiert und auf Möglichkeiten einer diesbezüglichen Erweiterung hin untersucht. Zudem soll ihr Mehrwert für die Rückkehr in den Präsenzunterricht untersucht werden.

2 Sprache und Sprachaneignung als soziale Praxis

Im Arbeitsgebiet des Unterrichts Berufsbezogenes Deutsch oder Deutsch für den Beruf waren es insbesondere EU-Projekte um die Jahrtausendwende, die auf der Grundauffassung von Sprache als sozialer Praxis basierten und den Begriff für diesen Bereich prägten (vgl. u.a. Grünhage-Monetti/Klepp 2004). Dabei legten sie ein pragmalinguistisches und handlungsorientiertes Verständnis von Sprache zugrunde, erweiterten dies aber durch den Rückgriff auf Wengers Verständnis von practice: „The concept of practice connotes doing, but not just doing in and of itself. It is doing in a historical und social context that gives structure and meaning to what we do. In this sense, practice is always social practice.“ (Wenger 2005: 47). Zudem hoben sie den Beziehungsaspekt von Sprache hervor, da Menschen in und durch sprachliche/r Interaktion gleichermaßen auch ihre wechselseitigen Beziehungen zu- und miteinander definieren und regeln (Grünhage-Monetti 2005: 13). Des Weiteren standen Machtaspekte im Zentrum der Projektarbeiten:

[…] how power shapes language and is shaped by language, what does it mean to communicate in hierarchical contexts like the workplace, what is the role of language teachers, what can be the aims but also the limits of language provision. (Grünhage-Monetti 2005: 21)

Damit gingen sie bereits damals über einen handlungsorientierten Ansatz hinaus, der in aktuellen Konzepten und Curricula nach wie vor leitend ist, und verwiesen auf die Grenzen der Vermittlung und Aneignung berufsbezogener Sprachkenntnisse im Rahmen von Kursen sowie auf die Bedeutung des Lernortes Arbeitsplatz.

Im wissenschaftlichen Fachgebiet Deutsch als Zweitsprache hat das Verständnis von Sprache und Sprachaneignung als sozialer Praxis nicht zuletzt mit der Ausbreitung Soziokultureller Theorien (SCT) (vgl. u.a. Daase 2018; Skintey 2020; Wernicke 2020; Falkenstern/Ohm i.Dr.) an Bedeutung und Schärfung gewonnen. Diese Ansätze eint trotz unterschiedlicher Verortungen in diversen wissenschaftlichen Disziplinen und damit variierender Foki1 die Auffassung, dass Sprache und Spracheignung nicht isoliert von den sie konstituierenden sozio-historischen und sozio-kulturellen Kontexten verstanden werden können. Sie gelten nicht als rein kognitive Phänomene, sondern vielmehr als komplexe soziale Praxis, was einem prozess- im Gegensatz zu einem produktorientierten Verständnis entspricht. Statt der klassischen Unterscheidung von Lernen und Anwendung von Sprache (und entsprechenden Kategorien für die Bezeichnung der jeweils involvierten Individuen) gehen sie von Partizipation als beide Bereiche vereinende Metapher aus (vgl. Sfard 1998).

In jüngster Zeit sind Soziokulturelle Theorien um Praxistheorien erweitert worden (vgl. Daase 2021a; Falkenstern/Ohm i.Dr.; Ohm i.Dr.). Im Folgenden werden nun das diesem Beitrag zugrundeliegende Praxisverständnis sowie die daraus resultierende Auffassung von Sprache und Sprachaneignung als sozialer Praxis und Implikationen aus diesen für den Anwendungskontext Deutsch für den Beruf in der hier gebotenen Kürze aufgezeigt.

2.1 Praxis und die sie herstellenden Praktiken

Ähnlich wie Sprache oder Lernen stellt Praxis einen eingebürgerten („naturalized“) Begriff dar, wie Street (2000: 17) unter Rückgriff auf Fairclough (1992) für die literacy practices konstatiert. Praxis wird in vielen unterschiedlichen Kontexten ohne Explikation und Präzisierung verwendet, da vermeintlich vorausgesetzt werden kann, was allgemein darunter zu verstehen ist. Nicht selten wird aber auch in wissenschaftlichen und fachlichen Kontexten ein Alltagsverständnis von Praxis zugrunde gelegt, das in Abgrenzung zu Wissenschaft verwendet wird und außer Acht lässt, dass es auch eine wissenschaftliche Praxis bzw. wissenschaftliche Praktiken gibt.

Im aktuellen Diskurs zu bildungssprachlichen Anforderungen bzw. Kompetenzentwicklungen in schulischen Kontexten wird zurzeit vermehrt der Begriff der bildungssprachlichen Praktiken (u.a. Morek/Heller 2012; 2019) verwendet, welcher in der ethnomethodologisch fundierten Gesprächs- und Textlinguistik verortet ist. Als Alternative zum Registerbegriff soll damit der Herstellung von Kommunikationskontexten durch den Vollzug dieser Praktiken Rechnung getragen werden (vgl. Morek/Heller 2019). Allerdings ist die gegenseitige Herstellung von Register und Kontext bereits im Registerbegriff der Funktionalen Grammatik angelegt (vgl. u.a. Hasan 2005: 68), zudem verbleibt dieses Praktikenverständnis aufgrund seiner fachwissenschaftlichen Verortung beim situierten symbolischen Handeln und damit hinter dem nun dargestellten Praktikenbegriff zurück.1

Wir beziehen uns auf die sich in der letzten Zeit in den Sozialwissenschaften aus diversen Disziplinen formierenden Praxistheorien, wobei deren Praxisbegriff kein neuer ist, als dieser auf Aristoteles´ Unterscheidung von Praxis und Poeisis zurückgeht: Während ersteres eine „auf einer vernünftigen Lebensgestaltung ausgerichteten Tätigkeit“ meint, ist zweiteres „das Bewirken, Herstellen und Hervorbringen, dessen Zweck im Hergestellten liegt“ (Schmidt 2017: 335), was gemeinhin mit unserem Begriff des Handelns gefasst wird. Verdeutlicht werden kann der Unterschied zwischen Praxis bzw. Praktiken und Handlungen/Handeln anhand der englischen Verben doing und making: „doing sports“ oder „doing business“ hat nicht das Ziel etwas Bestimmtes herzustellen (wie z.B. „making lunch“), sondern das Ziel liegt in einem „doing things well“ (Nicolini 2012: 26). Handlungen werden nicht als

individuelle intentionale Akte, sondern als Bestandteile der übergreifenden Gepflogenheiten, Auf- und Ausführungsmuster und Sinnzusammenhänge sozialer Praktiken, die wiederum im Kontext von Kultur- und Lebensformen verortet werden (Schmidt 2017: 337),

verstanden. Praxis und Praktiken sind den Handlungen somit vorgängig. Während man bei Handlungen nach dem Wozu fragt, geht es bei Praktiken um das Wie (vgl. Hirschauer 2004: 73). Für den Gegenstand dieses Beitrages ist vor allem die Grundannahme der Materialität oder Körperlichkeit des Sozialen und damit von Praxis von besonderem Interesse sowie die den Praktiken zugrundliegenden impliziten Wissensordnungen, ihre Routinisiertheit, aber auch die Transformation sozialer Praktiken (vgl. Reckwitz 2000: 572; 2003: 290; Schmidt 2017: 337).

Mit dem Begriff Praxis wird auf den „kontingenten Ablauf aller möglichen Lebenstätigkeiten“ verwiesen (Alkemeyer/Buschmann 2017: 271). Praktiken als die kleinste Einheit des Sozialen (vgl. Reckwitz 2003: 290) hingegen sind „typisierte, historisch und sozial formatierte und somit unterscheidbare Bündel verbaler und nonverbaler Aktivitäten“ (Alkemeyer/Buschmann 2017: 271), „meaning-making, identity-forming and order-producing activities“ (Nicolini 2012: 7). Sie verfügen über eine Doppelstruktur von Körperlichkeit und Symbolhaftem (vgl. Reckwitz 2000: 558), womit deutlich wird, dass sie über Sprechakte in der linguistischen Pragmatik hinausgehen, vielmehr „temporally unfolding and spatially dispersed nexus of doing and saying“ (Schatzki 1996: 89) darstellen. Dabei wird den doings im Sinne von Bewegungen und Hervorbringungen und somit der Körperlichkeit und Materialität ein zentraler Stellenwert zugeschrieben (vgl. Hillebrandt 2014: 59): Der Vollzug von Praktiken ist nur in ihrer Körperlichkeit denkbar. Dies gilt auch für vermeintlich rein mentale Praktiken:

 

Es gilt für jede beobachtbare Praxis, weil selbst das Lesen von Büchern, die Internetnutzung, das Schreiben und Lesen von SMS-Kurznachrichten, die Video-Konferenz und andere, oft als Beispiele für körperlose Sozialität genannte Praxisformen nicht ohne den menschlichen Körper und seine Sinnesorgane auskommen. Menschliche Körper sind folglich Teil der Materialität aller Praxis. (Hillebrandt 2014: 61)

Das Mentale wird also nicht getrennt vom Körperlichen verstanden, sondern es manifestiert sich in den Praktiken, welche von kompetenten Körpern ausgeführt werden (vgl. Schatzki 1996: 87). Damit wird ein Verständnis von Wissen als knowing how im Gegensatz zum knowing that zugrunde gelegt. Es wird als praktisches Wissen verstanden, als ein „Konglomerat von Alltagstechniken, ein praktisches Verstehen im Sinne eines ,Sich auf etwas verstehen‘“ (Reckwitz 2003: 289), das lokal und historisch spezifisch ist und Raum und Zeit verbindet. Aufgrund seiner Implizitheit kann es in traditionellen Unterrichtskontexten nicht vermittelt werden.

2.2 Sprache als soziale Praxis

Ein Verständnis von Sprache als sozialer Praxis ist in der Sprachwissenschaft nicht neu, so z.B. bei Maas (2010: 37) zu finden als Praxis, „in die jedes Kind hineinsozialisiert wird – als Sprache der Anderen“. Vorhandene biologische Grundlagen werden in diesem Prozess ausgebaut. In Arbeiten zur Zweitsprachaneigung, die sich in den bereits erwähnten Soziokulturellen Theorien verorten, geht ein solches Verständnis über die sprachliche Interaktion einzelner Individuen hinaus, da ihrer situativen Einbettung, ihrer Verwicklungen in Institutionen sowie ihrer Einbettung in herrschenden Diskursen grundlegende Bedeutung beigemessen wird. Sprache kann nicht von ihrem sie konstituierenden kontextuellen Entstehungsort losgelöst betrachtet werden, den sie wiederum gestaltet: „Language acquires life and historically evolves here, in concrete verbal communication, and not in the abstract linguistic system of language forms, nor in the individual psyche of speakers.“ (Vološinov 1973: 95) Damit ist sowohl mediale Mündlichkeit als auch Schriftlichkeit gemeint. Die in einer bestimmten Situation in einem größeren Kontext eingebettete jeweilige berufssprachliche Varietät stellt eine komplexe soziale und situierte Praxis dar, die dynamisch, interaktional und kontextabhängig ist (vgl. Bourdieu 2005; Norton 2001) und deren Performanz immer an die der Körper gebunden ist und der „handlungsermöglichenden, -initierenden und -leitenden Funktion der Dinge“ (Bedorf 2015: 135) bedarf.

Der Prozess der Bedeutungskonstitution vollzieht sich unter Beteiligung aller Akteur*innen und ist maßgeblich von den expliziten und impliziten Regeln der jeweiligen community of practice (cop) bedingt, worunter Menschen verstanden werden, die durch einen längerfristigen Diskurs- und Praxiszusammenhang und ein gemeinsames Handlungsziel miteinander verbunden sind (in Situationen vor Ort, wie z.B. am Arbeitsplatz oder in einem weiteren Sinne wie dies z.B. in einer Forschungsgemeinschaft der Fall ist) und dadurch ein gemeinsames Repertoire an Praktiken und Werten sowie ein spezifisches Machtgefüge herausgebildet haben (vgl. Lave/Wenger 2009: 98; Wenger 2008: 47)

2.3 Sprachaneignung als soziale Praxis

Ein praxistheoretisches Verständnis von Lernen wird

[…] als sukzessive praktische Aneignung eines Repertoires disparater Dispositionen oder Gewohnheiten (habits) […], die Bewegungen, Körpertechniken und Geschicklichkeiten ebenso umfassen wie Einstellungen, Neigungen, Bereitschaften, Vorlieben und Wünsche […] (Alkemeyer/Buschmann 2017: 286f., Hervorh. i. Orig.)

verstanden. Ausgehend von einem Verständnis von Sprache als sozialer Praxis kann auch Sprachaneignung nur als soziale Praxis konzeptualisiert werden. Als anschlussfähig erweisen sich die auf anthropologischen Arbeiten und der Ethnografie der Kommunikation basierenden Konzepte der language socialization, des situated learning in cop und der legitimate peripheral participation, wie sie im Rahmen der SCT auch für DaZ diskutiert werden (vgl. Daase 2018; Skintey 2020; Wernicke 2020).

Im situated learning Ansatz wird Lernen im Allgemeinen nicht als Erwerb eines abgegrenzten Umfangs an Wis­sen, sondern als fortschreitende Partizipation an den Praktiken einer cop verstanden. Neuankömmlinge werden von Beginn an als legitime Mitglieder einer cop betrachtet, ohne sich diesen Status im Vorfeld durch einen Deutschkurs bzw. ausreichende Deutschkenntnisse verdienen zu müssen. Sie eignen sich die notwendigen Fähigkeiten zur Ausübung dieser Praktiken handelnd an, sind dabei bereits Teil der cop und gestalten diese durch die Teilhabe an deren Praktiken mit (Lave/Wenger 2009: 33). Dabei wird ihnen ein Status als Lernende auf dem Weg zur vollen Partizipation zugestanden. Lernen wird in diesem Ansatz dementsprechend als legitimate peripheral participation verstanden, „involving the whole person“ (Lave/Wenger 2009: 33).

Während sich in Deutschland aufgrund des nach wie vor wirkmächtigen Diskurses Integration durch Sprache Zugewanderte in Kursen in einer rein kognitiven Sicht die Sprache aneignen sollen, um dann in der Gesellschaft und am Arbeitsplatz handlungsfähig zu werden, sieht ein praxeologisches Verständnis kompetente Körper nicht nur als Voraussetzung, sondern gleichermaßen als „Resultate des Vollzugs sozialer Praktiken“ an, da „Praktiken eine die Körper sozialisierende Funktion haben“ (Schmidt 2017: 340). Eine Aneignung von Praktiken außerhalb dieser, das heißt ohne Zugang zu ihnen, ist mithin nicht denkbar.

2.4 Implikationen für Angebote der zweitsprachlichen Aneignung Deutsch für den Beruf und Arbeitsplatz

Bezogen auf die Aneignung des Deutschen als Zweitsprache für den Beruf oder eine Arbeitstätigkeit heißt das dargestellte Verständnis, dass berufliche Praktiken, in denen Sprachliches verankert, aber nicht von ihnen abgespalten werden kann, nicht bzw. nur in einem gewissen Ausmaß in dafür eingerichteten Kursen angeeignet werden kann. Dort haben die Lernenden keinen Zugang zu den Praktiken, in die sie sich einsozialisieren wollen und müssen. Statt doing work wie etwa Kinder in der Kita für die Draußenzeit fertigzumachen oder eine Wunde versorgen stellen die dort ausgeführten Praktiken vielmehr ein doing training, das Üben sprachlicher Handlungen, die – je nach der sich entfaltenden Situation – zu den jeweiligen Praktiken gehören können, dar.

Dieses Üben erfolgt – im optimalen Fall – in möglichst realistischen Situationen, wie dies z.B. mit der Szenariomethode möglich ist. Bei Szenarien handelt es sich um

[…] eine Kette von fiktiven, handlungsbezogenen Aufgaben mit einem realistischen Hintergrund. Die Rollen und die einzelnen in dem jeweiligen Szenario vorkommenden mündlichen oder schriftlichen Kommunikationssituationen sind zuvor festgelegt und knüpfen stets an die Arbeits- und Lebenswelt der Kursteilnehmenden an. Ziel ist es, in eine realitätsnahe Situation einzutauchen, um ganz konkrete, auf den eigenen Arbeitsplatz bezogene Sprachhandlungen zu simulieren, wie z.B. mit Kunden telefonieren, Besprechungen durchführen und Informationen dokumentieren. Im Gegensatz zu einem Rollenspiel besteht ein Szenario immer aus mehreren aufeinander aufbauenden Kommunikationssituationen […]. (Sass/Eilert-Ebke 2014: 6)

Zwar ist auch hier viel von Handlungen die Rede, diese erhalten aber durch ihre Einbettung in ein größeres Ganzes ihren praktischen Sinn und werden nicht nur als Sprachhandlungen, also rein symbolisch, sondern im besten Falle auch in entsprechend mit allen notwendigen Artefakten inszenierten Situationen körperlich und materiell vollzogen. Artefakte sind in diesem Kontext „Partizipanden sozialer Prozesse“ (Hirschauer 2004: 74, Hervorh. i. Orig.), nicht im Sinne von Akteuren, sondern „alle Entitäten, die auf eine für sie spezifische Weise in den Vollzug von Praktiken involviert sind“ (Hirschauer 2004: 75).

Noch besser aber erfolgt die Einsozialisierung in Praktiken wie auch das (vorbereitende) Üben der ihr untergeordneten (sprachlichen) Handlungen eingebettet in den Arbeitsalltag, um den Lernort Arbeitsplatz einzubeziehen und Partizipation zu ermöglichen, wie dies z.B. Stallbaum und Thomas (2020) eindrucksvoll auch für Menschen mit einem noch geringen Deutschniveau beschreiben. Die Unterrichtsszenarien finden im alltäglichen Arbeitsgeschehen und damit unter Einbezug aller notwendigen und sinngebenden Entitäten statt. Die Lernenden erhalten Zugang zu den Praktiken, indem sie Teil der entsprechenden cop sind. In reinen Sprachkursen für den Beruf hingegen sind sie Teil der cop Kursgemeinschaft, die sicher auch ihre Funktion und Wichtigkeit hat, gerade in der Anfangszeit der Sprachaneignung von Neuzugewanderten, aber letztlich doch eine Zweckgemeinschaft ist und nicht die angestrebte cop darstellt. Dies ist DaZ-Lernenden durchaus bewusst und wird von ihnen auch kritisch gesehen (vgl. Norton 2001; Daase 2018; 2021c).

Problematisch in der aktuellen Organisation der über das BAMF organisierten Berufssprachkurse ist allerdings – neben der Abschaffung der Praxisanteile, die vor dem Hintergrund dieses Kapitels nicht weiter kommentiert werden muss – die verpflichtende Sprachprüfung am Ende der Kurse, welche lediglich sprachliche Handlungen abprüft, ohne einbettende Kontexte, wie dies z.B. mit Szenarienprüfungen möglich wäre.1 Damit stellt sich die Frage, ob aus dem kontextfreien Üben solcher Praktiken nicht im Laufe des Kurses eher ein doing language certification wird, was üblicherweise mit teaching to the test bezeichnet wird.

Nach der Darstellung unserer theoretischen Verortung und ihrer Bedeutung für den präpandemischen Berufsbezogenen DaZ-Unterricht werden nun die besonderen Herausforderungen digitaler Formate in den Blick genommen.