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Lockdown, Homeschooling und Social Distancing – der Zweitspracherwerb unter akut veränderten Bedingungen der COVID-19-Pandemie

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2.2.2 Skizze zum Forschungsstand



Der Schriftspracherwerb einsprachiger Kinder und seine Vorläuferfähigkeiten – insbesondere die phonologische Bewusstheit (vgl. z.B. Schnitzler 2008) – wurden in den vergangenen Jahrzehnten vielfach beforscht. In jüngerer Zeit sind auch Forschungsbemühungen in Bezug auf zweitsprachlernende SchülerInnen zu vermerken (vgl. z.B. Michalak/Kuchenreuther 2015). Die Betrachtung des Schriftspracherwerbs und seiner Vorläuferfähigkeiten im Kontext des Deutschen als Zweitsprache blieb bislang allerdings weitestgehend aus, sodass Tabea Becker (2011: 11) entsprechend folgende Bilanz zieht:



Der Schriftspracherwerb mehrsprachig aufwachsender Kinder stellt ein Forschungsgebiet dar, das trotz der breiten und zunehmenden Relevanz des Forschungsgegenstandes bisher erstaunlich wenig Beachtung fand. Verantwortlich hierfür mag die Komplexität des zu untersuchenden Phänomens sein. Schließlich sind Schriftspracherwerb und Mehrsprachigkeit für sich genommen gerade in den letzten Jahrzehnten stark beforscht worden. Die Verknüpfung dieser beiden Bereiche steht jedoch noch in den Anfängen.



Edeltraud Karajoli und Monika Nehr weisen bereits 1996 darauf hin, dass „primärer Schriftspracherwerb unter den Bedingungen der Mehrsprachigkeit ein eher vernachlässigtes Thema“ sei, das „bei uns bildungspolitisch und wissenschaftlich noch ein Schattendasein“ fristet (Karajoli/Nehr 1996: 1191). Bildungspolitisch konnte zwar seit der Jahrtausendwende – nicht zuletzt aufgrund der Ergebnisse verschiedener Schulleistungstests – Interesse geweckt werden, die Wissenschaft hat sich bislang jedoch verhältnismäßig wenig mit dem Thema auseinandergesetzt. So zieht Becker resümierend die Bilanz, dass die „Forschungslage mehr als dürftig“ sei (Becker 2011: 71).



In letzter Zeit können zwar vereinzelte Veröffentlichungen zum Schriftspracherwerb in mehrsprachigen Kontexten konstatiert werden (vgl. z.B. Becker 2011; Becker 2013; Benholz et al. 2016; Grießhaber/Kalkavan 2012; Inckemann et al. 2019; Lindner 2019a, 2019b; McElvany et al. 2017; Schulte-Bunert 2015), die jedoch selten die in diesem Beitrag fokussierte Zielgruppe der neu zugewanderten Kinder thematisieren.



Das Forschungsfeld weist insgesamt betrachtet aufgrund der langjährigen „sträfliche Vernachlässigung“ (Schramm/Schroeder 2009: 12) zahlreiche Desiderate in dem sehr komplexen Forschungsfeld des Schriftspracherwerbs im Kontext des Deutschen als Zweitsprache auf, was im Hinblick auf die hohe Relevanz schriftsprachlicher Fähigkeiten für den schulischen und beruflichen Erfolg verwunderlich ist.



Die vorausgegangene Skizze zum Forschungsstand konnte zeigen, dass der Schriftspracherwerb im Kontext des Deutschen als Zweitsprache ein grundsätzlich noch sehr wenig bearbeitetes Forschungsfeld darstellt, dem erst in jüngerer Zeit mehr Aufmerksamkeit zugekommen ist. Betrachtet man die in diesem Beitrag fokussierte Zielgruppe – neu zugewanderte Kinder, die erst kurz vor Schulpflichtbeginn mit dem Zweitspracherwerb beginnen – dann verschärft sich das Forschungsdesiderat. Insbesondere dann, wenn zusätzlich die pandemiebedingt veränderten Lehr- und Lernbedingungen einbezogen werden, liegen keine gesicherten Erkenntnisse zu Verläufen des Schriftspracherwerbs im Anfangsunterricht vor, sodass die Notwendigkeit der hier vorliegenden Studie darin ihre Begründung findet.





3 Empirische Untersuchung



Die nachfolgende Untersuchung thematisiert anhand empirischer Daten die Entwicklung schriftsprachlicher Fähigkeiten neu zugewanderter Kinder im Anfangsunterricht der Grundschule und stellt vergleichend ein reguläres und ein pandemiebedingtes Lehr- und Lernsetting gegenüber.





3.1 Forschungsfrage, Hypothese und Ziele der Untersuchung



Die vorausgegangenen Ausführungen konnten zeigen, dass zum einen der in diesem Beitrag fokussierten LernerInnengruppe der neu zugewanderten Kinder bislang in den Forschungsbemühungen zum Schriftspracherwerb nur sehr wenig Aufmerksamkeit zugekommen ist. Zum anderen wurde darauf verwiesen, dass sich diese Kinder in einer besonderen (sprachlichen) Ausgangssituation befinden. Unter Hinzunahme der pandemiebedingten Änderungen im Lehr- und Lernsetting wird die Notwendigkeit für dieses Forschungsvorhaben begründet, da davon ausgegangen werden kann, dass sich soziale und migrationsbedingte Disparitäten durch die Pandemiesituation verschärfen.



In diesem Beitrag soll deshalb folgender Forschungsfrage nachgegangen werden:



Lassen sich Unterschiede in der Lese- und Rechtschreibentwicklung bei den neu zugewanderten Kindern am Ende des ersten Schuljahres zwischen der 1. Kohorte (reguläre Beschulung) und der 2. Kohorte (pandemiebedingt verändertes Lehr-Lernsetting) feststellen?



Es wird angenommen, dass aufgrund der pandemiebedingt veränderten Lehr- und Lernsituation im Schuljahr 2019/2020 die Kinder der 2. Kohorte geringere Kompetenzen in den Lese- und Rechtschreibfähigkeiten aufweisen.



Diese Annahme gründet darauf, dass neu zugewanderte Familien vermutlich weniger Wissensbestände in Bezug auf die Zweitsprache Deutsch aufweisen und ihnen die Lernkultur an deutschen Grundschulen ggf. weniger vertraut ist, sodass die geringere Aufenthaltsdauer in Deutschland zu weniger familienbezogenen Unterstützungsmöglichkeiten im Schriftspracherwerb der Kinder während der Schulschließungen führen kann. Außerdem ist von weiteren ungünstigeren Erwerbsbedingungen auszugehen, die sich neben den geringeren Unterstützungsmöglichkeiten in der deutschen Sprache beispielsweise auch auf die psychische Gesundheit der Kinder bzw. der gesamten Familie, die Ausstattung mit benötigten (digitalen) Lernmaterialien, die Wohn- und Lebensverhältnisse (u.a. Anzahl der in der Familie lebenden Personen, Größe und Ausstattung des Wohnraums) u.v.m. beziehen (vgl. Einleitung i.d.B.). Die Relevanz dieser weiteren Faktoren gewinnt insbesondere im Zusammenhang mit der Pandemiesituation an Bedeutung, da die Verschiebung der Beschulung in das häusliche Umfeld eben diese Kontextfaktoren in den Vordergrund rückt (vgl. Danzer 2020).





3.2 Beschreibung des Settings und der ProbandInnen



Um der aufgezeigten Forschungsfrage nachzugehen, die durch eine Gegenüberstellung der beiden Kohorten im Hinblick auf die Lese- und Rechtschreibkompetenzen am Ende der ersten Jahrgangsstufe beantwortet wird, sollen Daten von insgesamt 30 neu zugewanderten Kindern (s. Kap. 3.4.1) – davon zwei Fokuskinder (Sena und Hassan1; s. Kap. 3.4.2) – im Anfangsunterricht der Grundschule analysiert und verglichen werden.2 In der ersten Kohorte (Schuljahr 2018/19) sind es 12 Kinder, die kurz vor ihrem Schulbeginn nach Deutschland migriert sind, und in der zweiten Kohorte (Schuljahr 2019/20) sind es entsprechend 18 Kinder, die nach oben beschriebener Zielgruppenspezifizierung (s. Kap. 2.1) als neu zugewandert gelten können. Die Kinder absolvierten ihr erstes Schuljahr an einer Münchner Grundschule, die sich in einem Stadtgebiet mit relativ hohem Migrationsanteil befindet.3



In der vorliegenden Gesamtstichprobe (n=30) sind Mädchen und Jungen zu gleichen Anteilen vertreten. Insgesamt sind es 15 weibliche und 15 männliche ProbandInnen (allerdings ergeben sich Unterschiede hinsichtlich der Verteilung zwischen der ersten und zweiten Kohorte; erste Kohorte: 8 weiblich, 4 männlich; zweite Kohorte: 7 weiblich, 11 männlich). Zum hier beschriebenen Testzeitpunkt (jeweils Ende der ersten Klasse) waren die Kinder durchschnittlich 7;4 Jahre alt, wobei das jüngste Kind der Stichprobe 6;10 und das älteste Kind 7;11 Jahre alt ist. In Bezug auf die Erstsprachen der Kinder, die auf der Grundlage von informellen Fragebögen an die Eltern und unter Rückbezug auf die Lehrkräfte und die Kinder erfasst wurden, kann festgehalten werden, dass in der Gesamtstichprobe 19 verschiedene Erstsprachen vorhanden sind. Die am häufigsten vertretenen Erstsprachen sind mit jeweils vier Nennungen Albanisch, Arabisch und Kroatisch. Zusätzlich wurden auch weitere Hintergrundinformationen erfasst (u.a. schriftsprachspezifische Vorläuferfähigkeiten sowie biografische, familiäre, sprach- und lernbezogene Daten).4 Zur besseren Vergleichbarkeit der Daten werden einige wenige ausgewählte Faktoren der beiden Kohorten in der nachfolgenden Tabelle vergleichend gegenübergestellt, die auch in der qualitativen Datenanalyse Beachtung (s. Kap. 3.4.2) finden.










Kontextvariablen









Kohorte 1 (n= 12)









Kohorte 2 (n= 18)











            Geschlecht





            weiblich: 8; männlich: 4





            weiblich: 7; männlich: 11









            Biologisches Durchschnittsalter





            7;4





            7;4









            Durchschnittliche Kontaktdauer zur deutschen Sprache zum Messzeitpunkt (Ende der 1. Klasse)





            2;10





            3;5









            Erstsprachen5





            Albanisch (2) Arabisch (1), Armenisch (1), Benin (1), Dari (2), Englisch (1), Griechisch (1), Mazedonisch (1), Kroatisch (3) Persisch (1), Russisch (1)





            Albanisch (2) Arabisch (3), Bosnisch (1), Bulgarisch (1), Dari (1), Englisch (2), Italienisch (1), Mazedonisch (2), Nara (1), Kotokoli (1), Kroatisch (1) Persisch (2), Slowenisch (1), Tchamba (1), Türkisch (1)









            Höchster Bildungsabschluss der Mutter6





            kein Abschluss (1), Hauptschule (2), Realschule (3), Ausbildung (3), Studium (2), keine Angaben (1)





            kein Abschluss (1), Hauptschule (1), Realschule (2), Ausbildung (2), Studium (6), keine Angaben (6)








Tab. 1: Gegenüberstellung der Kontextvariablen der ersten und zweiten Kohorte

 



Die erste Kohorte besuchte die erste Klasse unter regulären Bedingungen, die Kinder der zweiten Kohorte waren aufgrund der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie von den Schulschließungen im zweiten Halbjahr der ersten Klasse betroffen. Die Kinder waren ab dem 16. März bis zum 24. Mai nicht in der Schule, sondern lernten im häuslichen Umfeld durch die von der Klassenleitung zur Verfügung gestellten Materialien. Dies umfasst einen Zeitraum von acht Schulwochen. Ab dem 25. Mai konnten die Kinder wieder in Kleingruppen im wöchentlichen Rhythmus alternierend zur Schule gehen, was abzüglich der Pfingstferien noch drei Wochen Unterricht an der Schule mit sich brachte. In einem regulären Schuljahr (bspw. im Schuljahr 2018/19) besuchten die Kinder abzüglich der Ferien insgesamt 38 Wochen die Schule. Im Schuljahr 2019/20 waren es hingegen nur 26 Schulwochen, was rund einem Drittel weniger Lernzeit in der Institution Schule entspricht.



Die in diesem Beitrag relevanten empirischen Daten wurden am Ende des jeweils ersten Schuljahres erhoben. Die hierfür verwendeten Erhebungsinstrumente werden im anschließenden Kapitel skizziert.





3.3 Erhebungsinstrumente



Im Folgenden werden die einzelnen Testverfahren beschrieben, die in der vorliegenden Untersuchung zur Beantwortung der Forschungsfrage herangezogen wurden.1



Zur Ermittlung der Lesegeschwindigkeit wurde die

Würzburger Leise Leseprobe Revision

 (

WLLP-R

; Schneider et al. 2011) als Gruppentest im Klassenverband durchgeführt. Bei dem Diagnoseinstrument handelt es sich um einen standardisierten und normierten Multiple-Choice-Test in einer Speed-Variante, was impliziert, dass in der vorgegebenen Zeit von 5 Minuten möglichst viele Aufgaben gelöst werden müssen. Die Aufgaben sind so konzipiert, dass sich neben einem geschriebenen Wort jeweils vier Bildalternativen befinden. Das Kind muss das zum geschriebenen Wort passende Bild markieren. Insgesamt stehen in der ersten Jahrgangsstufe maximal 140 Wörter zur Bearbeitung bereit, wobei in der Regel durchschnittlich rund 45 Items in dieser Klassenstufe bearbeitet werden (n=571; Schneider et al. 2011: 21). Bei der Auswahl der Items wurde darauf geachtet, dass die Distraktoren nach einem spezifischen Prinzip ausgewählt wurden. Unter den vier bildlich dargestellten Auswahlmöglichkeiten befinden sich immer ein Distraktor, der mit dem Zielitem semantisch verknüpft ist (z.B.

Knopf – Hose

), und ein Distraktor, der dem Zielwort auf phonologisch-orthografischer Ebene sehr ähnlich ist (z.B.

Knopf – Kopf

). Der Testrohwert, der auch im vorliegenden Beitrag die Bezugsgröße darstellt, wird ermittelt, indem von der Gesamtzahl der bearbeiteten Aufgaben die Auslassungen und Fehler subtrahiert werden.



Um das Leseverständnis der Kinder zu überprüfen, wurde das Diagnoseinstrument

ELFE II

 (

Ein Leseverständnistest für Erst- bis Siebtklässler – Version II

; Lenhard et al. 2018) als Gruppentest im Klassenverband herangezogen. Es handelt sich um ein standardisiertes und normiertes Testverfahren, das das Leseverständnis auf Wort-, Satz- und Textebene überprüft. Diese drei Subkategorien werden anhand verschiedener Untertests ermittelt, die ein unterschiedlich hohes Anforderungsniveau an die ProbandInnen stellen. Während der Untertest auf Wortebene basale Lesefertigkeiten (Dekodieren, Synthetisieren) erfordert, sind bei den Subtests auf Satz- und Textebene höhere Leseprozesse beteiligt (sinnentnehmendes Lesen, syntaktische Fähigkeiten, lokale und globale Kohärenzbildung). Beim Untertest Wortverständnis muss zu einem Bild aus vier schriftlich dargebotenen Wörtern das passende angestrichen werden. Die Wörter sind dabei so gewählt, dass die Distraktoren dem Zielwort graphisch und phonemisch ähneln. Das jeweils dargebotene Wortmaterial weist zusätzlich die gleiche Anzahl an Silben auf (z.B. Zielitem:

Hund

; Distraktoren:

Mund, Hand, Kind

). Beim Untertest zum Satzverständnis werden dem Kind unterschiedlich komplexe Sätze dargeboten, bei denen an einer Stelle ein passendes Wort aus fünf dargebotenen Alternativen ausgewählt und in den Satz eingefügt werden soll. Alle Alternativen einer Aufgabe entstammen der gleichen Wortart (Adjektive, Substantive, Verben, Konjunktionen oder Präpositionen). So lautet eine Testaufgabe:

Ein Ball ist … krank/gesund/böse/klug/rund

. Der Subtest zum Textverständnis ist aus kleineren Texten mit einer oder mehreren dazugehörigen Fragen zusammengesetzt. Ein Item besteht jeweils aus einer Frage und vier dazugehörigen Antwortalternativen, aus denen die passende identifiziert werden muss. Die Texte variieren dabei hinsichtlich ihres Genres (Erzähltext vs. Sachtext), der Komplexität der Informationsentnahme (sinngemäß vs. wörtlich) und der notwendigen Kohärenzbildung (global vs. lokal). Die Testdurchführung benötigt circa 30 Minuten, wobei die reine Bearbeitungszeit 13 Minuten beträgt (Wortverständnis: 3 Minuten; Satzverständnis: 3 Minuten; Textverständnis: 7 Minuten). Für alle drei Untertests kann jeweils ein Testrohwert ermittelt werden, der sich aus der Summe aller richtig gelösten Aufgaben ergibt.



Zur Erhebung der Rechtschreibkompetenzen wurde die

Hamburger Schreib-Probe 1 Plus

 (

HSP 1

+

; May et al. 2019) als Gruppentest herangezogen, die die Verschriftung von acht Einzelwörtern und einem Satz vorsieht. Die Wortauswahl bildet ein breites Spektrum unterschiedlicher Schwierigkeitsniveaus ab, sodass den ProbandInnen ein sorgfältig bestimmter Ausschnitt ihres orthografischen Wissens abverlangt wird. Die Bedeutung der Wörter und des Satzes wird durch Illustrationen veranschaulicht. Die Bilder dienen als Gedächtnisstütze, sodass das Arbeitsgedächtnis entlastet ist. Die Auswertung der Testergebnisse erfolgt in der vorliegenden Untersuchung anhand der Graphemtreffer (Summe der richtig geschriebenen Grapheme), wodurch bei den SchreibanfängerInnen deutlich differenziertere Leistungen abgebildet werden können als bei einer binären Auswertung (richtig/falsch).



Neben diesen standardisierten Testverfahren zur Erfassung der Lese- und Rechtschreibkompetenzen wurden außerdem anhand von informellen Fragebögen an die Eltern und Lehrkräfte weitere (sprach-)biografische, familiäre und lernbezogene Daten erhoben, die im Rahmen der Datenanalyse ebenfalls Berücksichtigung finden.





3.4 Ergebnisse



Die Ergebnisse aus den empirischen Daten sollen zunächst unter einem quantitativen und anschließend unter einem qualitativen Blickwinkel betrachtet werden.





3.4.1 Quantitative Datenanalyse



Es lässt sich anhand der Daten herausstellen, dass die Lesegeschwindigkeit bei den neu zugewanderten Kindern der zweiten Kohorte im Vergleich zu den Kindern der ersten Kohorte deutlich geringer ist. Während die neu zugewanderten Kinder der ersten Kohorte in dem vorgegebenen zeitlichen Rahmen von 5 Minuten durchschnittlich 34,25 Wörter (SD: 8,67) erlasen, waren es bei der zweiten Kohorte nur 27,33 Wörter (SD: 11,41), sodass eine Differenz von rund 7 Wörtern konstatiert werden kann.



Ein ähnliches Bild zeigt sich beim Leseverständnis. In der Subkategorie Wortverständnis erreichten die neu zugewanderten Kinder der ersten Kohorte einen Mittelwert von 22,5 (SD: 7,65). In der zweiten Kohorte wiesen die neu zugewanderten Kinder im Durchschnitt 18,22 Wörtern (SD: 7,09) die korrekte Bedeutung zu. Für die Subkategorie Satzverständnis kann festgehalten werden, dass die neu zugewanderten Kinder der ersten Kohorte einen Mittelwert von 5,75 (SD: 3,05) korrekt gelöster Aufgaben erzielten, während die neu zugewanderten Kinder der zweiten Kohorte durchschnittlich für 3,88 Sätze (SD: 2,32) die korrekte Lösung identifizieren konnten. Die Aufgaben in der Subkategorie Textverständnis sind für ErstklässlerInnen grundsätzlich herausfordernd. Trotzdem kann auch hier ein deutlicher Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Kohorte ermittelt werden. Die neu zugewanderten Kinder der ersten Kohorte konnten im Durchschnitt 2,5 textbasierte Aufgaben (SD: 3,23) lösen, wohingegen die neu zugewanderten Kinder der zweiten Kohorte dies bei durchschnittlich 1,6 Texten (SD: 1,06) vermochten.



Eine Differenz zwischen den Leistungen der beiden Kohorten, die in die gleiche Richtung weist, kann sich ebenfalls für die Rechtschreibkompetenzen abbilden lassen. Während die neu zugewanderten Kinder der ersten Kohorte im Durchschnitt 50,33 Graphemtreffer erzielten, waren es bei den neu zugewanderten Kindern der zweiten Kohorte 46,39 korrekt geschriebene Grapheme (maximaler Gesamtrohwert: 61 Graphemtreffer).



Abbildung 1 veranschaulicht die Differenzen zwischen den Mittelwerten der beiden Kohorten hinsichtlich der Lesegeschwindigkeit, des Leseverständnisses auf Wort-, Satz- und Textebene sowie der Rechtschreibkompetenzen (Graphemtreffer).








Abb. 1: Gegenüberstellung der Mittelwerte der ersten und der zweiten Kohorte hinsichtlich der Lese- und Rechtschreibkompetenzen





3.4.2 Qualitative Datenanalyse



Nachfolgend werden die empirischen Sprachdaten unter einer qualitativen Perspektive betrachtet.1 Dazu wird eine vergleichende Fallanalyse zwischen einem Kind der ersten Kohorte (Sena) und einem Kind der zweiten Kohorte (Hassan) anhand der Kategorien Lesegeschwindigkeit, Leseverständnis auf Wort-, Satz- und Textebene sowie hinsichtlich der Rechtschreibfähigkeiten durchgeführt (vgl. auch Tab. 2).



Die beiden Kinder, deren Lese- und Rechtschreibfähigkeiten am Ende der ersten Jahrgangsstufe vergleichend gegenübergestellt werden sollen, sind beide in Damaskus in Syrien geboren, sprechen Arabisch als Erstsprache und stehen zum Testzeitpunkt (Juli 2019 bzw. Juli 2020) jeweils seit einem Jahr und zehn Monaten im regelmäßigen Kontakt zur deutschen Sprache, da beide im September im Jahr vor ihrer Einschulung (September 2017 bzw. September 2018) erstmalig eine Kindertageseinrichtung besuchten und Deutsch nicht in den Familien gesprochen wird.



Neben diesen sprachbiografischen Daten sind auch die familiären Gegebenheiten vergleichbar. Sowohl Senas als auch Hassans Familie wohnen zum Testzeitpunkt in einer Unterkunft für Geflüchtete. Die Mütter der beiden Kinder haben in Syrien jeweils ein Studium absolviert, sind in Deutschland zum Testzeitpunkt in keinem Arbeitsverhältnis. Der Vater von Sena hat in Syrien eine Ausbildung zum Schneider absolviert, wohingegen der Vater von Hassan als Offizier gearbeitet hat. Über die berufliche Situation der Väter in Deutschland liegen keine weiteren Informationen vor. Eine vergleichbare Situation zeigt sich auch hinsichtlich der Kinderanzahl in der Familie. Sena hat zwei und Hassan drei Geschwister. Eine weitere Übereinstimmung liegt in der Selbsteinschätzung der Eltern in ihren Kompetenzen in der deutschen Sprache. Während die Väter beider Familien jeweils ihre deutschsprachigen Fähigkeiten mit ‚sehr gut’ bewerteten, gaben die Mütter der beiden Familien jeweils ‚gute’ Sprachkompetenzen an (vierstufige Ratingskala zur Selbsteinschätzung der Fähigkeiten in der deutschen Sprache im Eltern-Fragebogen:

sehr gut/gut/in Ordnung/schlecht

).



Die beiden Kinder befinden sich somit in sehr ähnlichen sprachlichen, familiären und sozialen Verhältnissen, was einen Vergleich der Lese- und Rechtschreibfähigkeiten am Ende des ersten Schuljahres ermöglicht. Trotzdem sei an dieser Stelle zwingend darauf hingewiesen, dass es sich um zwei Individuen handelt, die auch spezifische, internale (z.B. Intelligenz, sprachliche Fähigkeiten in Erst- und Zweitsprache) sowie individuelle Umgebungsfaktoren (z.B. allgemeiner Anregungsgehalt der Umwelt) aufweisen, sodass die Gegebenheiten nicht als identisch beschrieben werden können.

 



Im Folgenden werden die empirischen Sprachdaten hinsichtlich der Lesegeschwindigkeit, des Leseverständnisses auf Wort-, Satz- und Textebene sowie der Rechtschreibkompetenzen der Kinder vergleichend gegenübergestellt.



Sena konnte im Rahmen der WLLP-R (Schneider et al. 2011; s. Kap. 3.3) in der Zeit von 5 Minuten insgesamt 40 Wörter erlesen, wobei sie bei 34 Wörtern die korrekte Bildalternative identifizieren konnte, sodass insgesamt 6 Lesefehler vorliegen. Sie liegt mit den 34 erzielten Rohwertpunkten im durchschnittlichen Bereich ihrer Kohorte (

M

1.Kohorte

= 34,25; s. Kap. 3.4.1). Die ermittelten Lesefehler beziehen sich auf folgende Wörter:

Fußball

 (Sena kreuzte hier das Bild eines ‚normalen’ Balls an),

Zigarre

 (Sena kreuzte hier das Bild einer Tabakpfeife an),

Pinsel

 (Sena kreuzte hier das Bild eines Stiftes an),

Biene

 (Sena kreuzte hier das Bild einer Birne an),

Nagel

 (Sena kreuzte hier das Bild einer Nadel an),

Zeh

 (Sena kreuzte hier das Bild eines Zahns an).



Hassan bearbeitete insgesamt 38 Aufgaben und identifizierte bei 30 dieser Aufgaben das richtige Bild unter den vier Antwortmöglichkeiten. Damit liegt er im Vergleich zu seiner Kohorte (

M

2.Kohorte

= 27,33) zwar über dem Durchschnitt, erzielte aber 4 Rohwertpunkte weniger als Sena. Die ermittelten Lesefehler von Hassan beziehen sich auf folgende Wörter:

Mond

 (Hassan kreuzte hier das Bild eines Mundes an),

Schultüte

 (Hassan kreuzte hier das Bild eines Schulhefts an),

Fußball

 (Hassan kreuzte hier – wie zuvor auch Sena – das Bild eines ‚normalen’ Balls an),

Brot

 (Hassan kreuzte hier das Bild einer Wurst an),

Nagel

 (Hassan kreuzte hier – wie zuvor auch Sena – das Bild einer Nadel an),

Zahnweh

 (Hassan kreuzte hier das Bild einer Zahnpastatube an),

Blumentopf

 (Hassan setzte hier kein Kreuz, sodass dieses Wort als Auslassung in die Bewertung einging),

Zeh

 (Hassan kreuzte hier – wie zuvor auch Sena – das Bild eines Zahns an).



Bei beiden Kindern sind zwei Fehlerschwerpunkte zu identifizieren. Der erste Fehlerschwerpunkt ist auf eine ähnliche Klangassoziation der Wörter und damit auf die phonologische Ebene zurückzuführen (z.B.

Biene

 vs.

Birne

,

Nagel

 vs.

Nadel

,

Zeh

 vs.

Zahn

,

Mond

 vs.

Mund

). Der zweite Fehlerschwerpunkt liegt in fehlendem (spezifizierendem) Wortschatz zur Lösung der Aufgabe (z.B.

Zigarre, Schultüte, Fußball, Pinsel, Blumentopf, Zahnweh

).



Im Folgenden werden die Ergebnisse der beiden Kinder hinsichtlich des Leseverständnisses auf Wort-, Satz- und Textebene vergleichend gegenübergestellt, die anhand des Diagnoseinstruments ELFE II (Lenhard et al. 2018; s. Kap. 3.3) generiert wurden.



Bei dem Untertest zum Wortverständnis bearbeitete Sena in der vorgegebenen Zeit von 3 Minuten insgesamt 17 Aufgabenstellungen, wobei ein Fehler (

Kampf

 statt

Kamm

) identifiziert werden konnte, sodass 16 Rohwertpunkte in die Bewertung eingehen. Damit befindet sie sich unterhalb des Mittelwerts ihrer Kohorte, der bei diesem Subtest bei

M

=22,5 (s. Kap. 3.4.1) liegt. Hassan bearbeitete insgesamt 21 Aufgaben fehlerfrei, sodass er in diesem Untertest besser als Sena und auch über dem durchschnittlichen Mittelwert seiner Kohorte (

M

=18,22) liegt.



Für den Subtest zum Satzverständnis kann festgehalten werden, dass sowohl Sena als auch Hassan sechs Aufgabenstellungen in den vorgegebenen 3 Minuten bearbeiteten. Während Sena zwei Fehler machte, sind es bei Hassan drei Fehler, sodass Sena 4 und Hassan 3 Rohwertpunkte erzielten. Sena und Hassan liegen damit beide unterhalb des Mittelwerts ihrer jeweiligen Kohorte (

M

1.Kohorte

=5,75;

M

2.Kohorte

=3,88). Exemplarisch wird im Folgenden je ein Fehlerbeispiel der beiden Kinder aufgezeigt. Sena löste eine Aufgabe wie nachfolgend einsehbar:

Bitte *frage dich auf deinen Platz.

 (Antwortalternativen:

frage, suche, setze, schreibe, lache

). Hassan löste eine Aufgabe dieses Subtests folgendermaßen:

Aus jeder *Pflanze wird einmal ein Schmetterling.

 (Antwortalternativen:

Lupe, Katze, Raupe, Pflanze, Nase

).



Die beiden Beispiele verdeutlichen die hohe Komplexität der Aufgabe für LeseanfängerInnen, insbesondere dann, wenn sie noch wenig mit der deutschen Sprache vertraut sind. Bei diesem Untertest sind nicht nur basale Lesefertigkeiten (Dekodieren, Synthetisieren) erforderlich, sondern auch zahlreiche weitere, meist sprachgebundene Fähigkeiten notwendig (u.a. Wortschatz, Syntax, sinnentnehmendes Lesen, Weltwissen), die insbesondere bei neu zugewanderten Kindern in ihrer Zweitsprache Deutsch noch nicht entsprechend ausgebildet sind.



Die Komplexität der Aufgaben nimmt bei dem