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Lockdown, Homeschooling und Social Distancing – der Zweitspracherwerb unter akut veränderten Bedingungen der COVID-19-Pandemie

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Literatur

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Teil II Auswirkungen des Lockdowns auf die Sprachentwicklung von Schüler:innen mit Deutsch als Zweitsprache
Die Entwicklung schriftsprachlicher Fähigkeiten neu zugewanderter Kinder im Anfangsunterricht der Grundschule

Eine vergleichende Datenanalyse unter regulären und pandemiebedingten Lehr- und Lernsettings

Jessica Lindner

In diesem Beitrag wird anhand von sprachbezogenen Daten aufgezeigt, inwiefern sich Unterschiede im Schriftspracherwerb neu zugewanderter Kinder in der ersten Jahrgangsstufe abbilden lassen, die möglicherweise auf die Veränderungen im Lehr- und Lernsetting während der COVID-19-Pandemie zurückgeführt werden können. Dazu werden im Rahmen einer vergleichenden Datenanalyse lese- und rechtschreibbezogene Daten aus standardisierten Testverfahren von neu zugewanderten Kindern verschiedener Kohorten gegenübergestellt, die die erste Klasse jeweils unter regulären (Schuljahr 2018/2019) und pandemiebedingten Lehr-Lern-Settings (Schuljahr 2019/2020) besucht haben.

Bezugnehmend auf die Daten wird aufgezeigt, ob sich Unterschiede in der Lernentwicklung schriftsprachlicher Fähigkeiten zwischen den beiden Kohorten abbilden lassen und wenn ja, worin diese bestehen. Außerdem wird diskutiert, unter welchen Bedingungen sich die schriftsprachlichen Fähigkeiten von neu zugewanderten Kindern erfolgreich entwickeln können und welche Unterstützungsmechanismen gegebenenfalls benötigt werden. Aus den Ergebnissen werden abschließend Konsequenzen für organisatorische und didaktische Entscheidungen hinsichtlich der Sprachförderung und Diagnose neu zugewanderter Kinder im Anfangsunterricht der Grundschule abgeleitet und zur Diskussion gestellt, die über die pandemiebedingte Situation hinausweisen.

1 Einführung

Die COVID-19-Pandemie bringt für unsere Gesellschaft ganz neue und ungewohnte Herausforderungen mit sich. Die mit der Pandemie einhergehenden Veränderungen betreffen auch das Schulsystem und stellen sowohl SchülerInnen als auch Lehrkräfte vor veränderte Lern- und Arbeitsbedingungen. Durch die zeitweise Verschiebung des Lernorts in das häusliche Umfeld verschärfen sich Ungleichheiten hinsichtlich der familiären Gegebenheiten, die unter regulären Lehr- und Lernbedingungen durch den schulischen Kontext teilweise aufgefangen werden können. In diesem Zusammenhang rückt insbesondere die Gruppe der neu zugewanderten Kinder mit geringen Deutschkenntnissen1 im Anfangsunterricht der Grundschule in den Fokus, da sich diese in einer besonderen (sprachlichen) Ausgangssituation befindet.

In diesem Beitrag soll die Entwicklung schriftsprachlicher Fähigkeiten neu zugewanderter Kinder im Anfangsunterricht der Grundschule anhand einer vergleichenden Datenanalyse unter regulären und pandemiebedingten Lehr- und Lernsettings vergleichend betrachtet werden. Dazu werden zunächst die Besonderheiten der hier vorliegenden Zielgruppe näher spezifiziert, um anschließend den Forschungsstand zum Schriftspracherwerb im Kontext der Mehrsprachigkeit zu skizzieren. Im dritten Kapitel erfolgt die Darlegung der empirischen Studie. Zu Beginn werden Forschungsfrage, Hypothese und Ziele der Untersuchung dargestellt. Anschließend erfolgt eine Beschreibung des Settings und der ProbandInnen sowie der Erhebungsinstrumente. Die Ergebnisse der Studie werden daraufhin sowohl unter einem quantitativen als auch unter einem qualitativen Blickwinkel analysiert. Der Beitrag schließt mit einer Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse.

2 Neu zugewanderte Kinder im Anfangsunterricht der Grundschule

Im ersten Schuljahr werden die Grundsteine für das gesamte schulische Lernen gelegt und die sich hier entwickelnden Lese- und Rechtschreibfähigkeiten gelten als entscheidende Determinanten des Schulerfolgs in allen Fächern. Dass in diesem Zusammenhang insbesondere soziale und migrationsbedingte Disparitäten eine entscheidende Rolle einnehmen, wurde bereits in einigen Untersuchungen thematisiert (vgl. z.B. Hußmann et al. 2017; Wendt/Schwippert 2017). Aus diesen Gründen ist die Entwicklung von schriftsprachlichen Fähigkeiten insbesondere bei dieser LernerInnengruppe von besonderer Bedeutung, um bildungsbezogene und gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen und einer langfristigen Benachteiligung entgegenzuwirken.

2.1 Spezifizierung der Zielgruppe

Für die in diesem Beitrag fokussierte Zielgruppe, neu zugewanderte Kinder mit geringen Deutschkenntnissen im Anfangsunterricht der Grundschule, liegt in der Forschung keine einheitliche Begriffsverwendung vor. Eine grundlegende Definition wurde beispielsweise von Massumi/von Dewitz (2015) formuliert:

Die Bezeichnung neu zugewanderte Kinder und Jugendliche ohne bzw. mit geringen Deutschkenntnissen in der Schule erfasst die Kinder und Jugendlichen, die im schulpflichtigen Alter (sechs Jahre oder älter) nach Deutschland migrieren und zu diesem Zeitpunkt über keine oder nur geringe Deutschkenntnisse verfügen. Demnach trifft die Verwendung des Begriffs so lange auf Kinder und Jugendliche mit eigener Migrationserfahrung im schulpflichtigen Alter zu, wie ihre Deutschkenntnisse nicht als ausreichend angesehen werden, um erfolgreich am Unterricht in der Regelklasse an einer deutschen Schule teilzunehmen (vgl. Massumi/von Dewitz 2015: 13).

Die hier vorliegende Definition trifft allerdings in zwei relevanten Punkten für die in dieser Untersuchung betrachtete Zielgruppe nicht zu. Zum einen sind die in diesem Beitrag fokussierten Kinder bereits kurz vor Schuleintritt nach Deutschland zugezogen und haben, wenn auch qualitativ und quantitativ stark eingeschränkt, in geringem Umfang Kontakt zur deutschen Sprache gehabt. Trotzdem muss aufgrund der geringen Kontaktzeit zum Deutschen, die in dieser Studie auf eine zeitliche Spanne von zwischen dem fünften Lebensjahr und Schulbeginn festgelegt wurde,1 von geringen Deutschkenntnissen ausgegangen werden. Außerdem besuchen alle Kinder der vorliegenden Untersuchung eine Regelklasse, was allerdings nicht zwingend auf ausreichende Kenntnisse in der deutschen Sprache zurückzuführen ist, sondern auf die Tatsache, dass an der entsprechenden Schule für diese Kinder keine Deutschklasse (in anderen Regionen auch als Übergangsklasse oder Willkommensklasse bekannt) vorgesehen ist. Inwiefern man von einer „erfolgreichen“ Teilnahme am Unterricht sprechen kann, bleibt allerdings offen und soll im Rahmen der empirischen Untersuchung und der Diskussion weiter verfolgt werden.

2.2 Schriftspracherwerb im Kontext der Mehrsprachigkeit

Die vorliegende Untersuchung legt einen Schwerpunkt auf die Entwicklung von schriftsprachlichen Fähigkeiten, weshalb im Folgenden zunächst verschiedene Erwerbskontexte in Bezug auf Mehrsprachigkeit voneinander abgegrenzt und in Beziehung zur hier betrachteten Zielgruppe gesetzt werden.

Beim Schriftspracherwerb im Kontext der Mehrsprachigkeit differenziert Belke (2007) zwischen fünf verschiedenen Erwerbskontexten, die mit jeweils spezifischen Erwerbsbedingungen verknüpft sind. Diese sind der Schriftspracherwerb in der Regelklasse, eine koordinierte zweisprachige Alphabetisierung,1 der frühe Fremdsprachenunterricht ab dem ersten Schuljahr, der Schriftspracherwerb von SeiteneinsteigerInnen2 sowie das traditionelle Fremdsprachenlernen in der Sekundarstufe.3 Im vorliegenden Beitrag steht die zuerst genannte Erwerbssituation – der Schriftspracherwerb in der Regelklasse im ersten Schuljahr – im Zentrum, sodass dieser Kontext in den folgenden Ausführungen aufgegriffen wird.

2.2.1 Zur besonderen Erwerbssituation von schriftsprachlichen Fähigkeiten bei neu zugewanderten Kindern

Neu zugewanderte Kinder mit geringen Deutschkenntnissen meistern im Anfangsunterricht der Grundschule eine doppelte Erwerbsaufgabe. Sie lernen zum einen die mündlich gesprochene Sprache und zum anderen erwerben sie schriftsprachliche Fähigkeiten in der ihnen meist noch wenig vertrauten Zweitsprache. In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass die neu zugewanderten Kinder insbesondere auf der Basis des bereits erlernten sprachlichen Systems ihrer Erstsprachen Lese- und Schreibkompetenzen in der deutschen Sprache aufbauen. Dies stellt einen grundsätzlichen Unterschied zu ihren einsprachig aufwachsenden MitschülerInnen dar, die aufbauend auf ihren altersgemäß erworbenen gesprochen-sprachlichen Fähigkeiten den Schriftspracherwerb in ihrer Erstsprache vollziehen.

Betrachtet man den Schriftspracherwerb als Prozess, der auf lernergesteuerten Aneignungsprozessen basiert und sowohl kognitive Fähigkeiten als auch sprachliche Ressourcen miteinbezieht, dann wird die besondere Situation der neu zugewanderten Kinder deutlich. Sie eignen sich die Schriftsprache in ihrer Zweitsprache Deutsch unter anderen Ausgangsbedingungen an als ihre monolingualen Altersgenossen. In diesem Zusammenhang sei auf die bereichsspezifischen Vorläuferfähigkeiten und Einflussfaktoren des Schriftspracherwerbs nach Marx (2007) verwiesen, der neben den Fähigkeiten der phonologischen Informationsbearbeitung auch die allgemeine Sprachentwicklung als entscheidenden Prädiktor für die Entwicklung von schriftsprachlichen Fähigkeiten annimmt. Sowohl ein geringer Wortschatz als auch ein Rückstand in der Beherrschung grammatikalischer Strukturen in der Zielsprache Deutsch können zu Schwierigkeiten beim Lese- und Schreiberwerb führen.1 Diese Annahmen gelten grundsätzlich für alle Kinder, im Fall der neu zugewanderten Kinder kann allerdings naturgemäß – aufgrund der geringeren Kontaktzeit zur deutschen Sprache – davon ausgegangen werden, dass phonologische, lexikalische, grammatikalische und weitere sprachbezogene Fähigkeiten in der deutschen Sprache noch nicht gleichermaßen weit entwickelt sind wie bei Kindern, die seit längerer Zeit oder seit ihrer Geburt mit der deutschen Sprache vertraut sind. Neu zugewanderte Kinder verfügen entsprechend über qualitativ andere sprachliche Ressourcen und über andere Zugriffsmöglichkeiten auf sprachliches Vorwissen.

Da der Schriftspracherwerb entsprechend der gegenwärtigen Forschungsdiskussion als ein Prozess verstanden wird, der durch individuelle Hypothesenbildung und Lösungsstrategien charakterisiert ist, die Kinder aufgrund ihrer sprachlichen Ressourcen entwickeln (vgl. Becker 2013: 19), ist für neu zugewanderte Kinder davon auszugehen, dass deutlich divergierende sprachliche Kompetenzprofile vorhanden sind und die Kinder möglicherweise andersartige Hypothesen und Lösungsstrategien anwenden. Trotzdem wird bislang davon ausgegangen, dass der Schriftspracherwerbsprozess zweitsprachlernender Kinder in Bezug auf die grundsätzliche Erwerbsprogression ähnlich verläuft wie bei einsprachigen Kindern (vgl. Becker 2013: 12ff.), teilweise wird allerdings eine geringere Erwerbsdynamik beschrieben (vgl. Becker 2011: 81f.), die möglicherweise auf das komplexere Zusammenspiel der sprachlichen Ressourcen zurückzuführen ist (vgl. Becker 2013: 108).2

Wie die obigen Überlegungen zeigen, ist es wichtig, verschiedene Erwerbskontexte voneinander abzugrenzen, da diese das sprachbezogene Wissen und damit den Schriftspracherwerbsprozess beeinflussen. Mit Blick auf den hier vorliegenden Beitrag kann festgehalten werden, dass in den bisher vorliegenden Kategorisierungen die spezifische Zielgruppe der kurz vor Schulbeginn neu zugewanderten Kinder mit geringen Deutschkenntnissen im Anfangsunterricht der Grundschule eine bislang untergeordnete Rolle einnehmen.