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Lockdown, Homeschooling und Social Distancing – der Zweitspracherwerb unter akut veränderten Bedingungen der COVID-19-Pandemie

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4.3 Schulpraktische Ansprüche an Sprachunterricht

Die Verlagerung des Unterrichts ins Digitale hat sowohl für die Bildungspolitik als auch die Schulpolitik- und praxis die Ressourcenfrage, und die des IVK-Bereichs im Besonderen, in den Mittelpunkt gestellt. Hier diskutieren wir Ausschnitte aus Gesprächen mit IVK-Lehrkräften unserer Fallschule. In ihren Berichten schilden sie uns Momentaufnahmen ihres Agierens und Reagierens auf die durch die Schulschließungen hervorgebrachten Herausforderungen im Sprachunterricht.

Ressourcen

Ein Blick auf die strukturelle Ausstattung der IVK-Schüler*innen in der Schulpraxis verdeutlicht die prekäre Lage, auf die sowohl aus wissenschaftlicher (vgl. 4.1.) als auch aus bildungspolitischer (vgl. 4.2.) Perspektive hingewiesen wurde: Die Schüler*innen sind mangelhaft mit Endgeräten ausgestattet und verfügen darüber hinaus nicht über notwendige Zugänge wie z.B. zu WLAN. Das Ausmaß der Prekarität wird im Interview mit Frau Hillebrand, Leiterin der IVK an der STS Burg, deutlich. An verschiedenen Stellen im Interview weist sie auf die fehlenden Ressourcen hin, die ihre Unterrichtspraxis erschweren, wie hier beispielhaft dargestellt wird.

 (4) In der VK […] war es in meiner Klasse ähm so, dass eigentlich kein einziger Schüler ähm die Ausstattung hatte. Also ein einziger Schüler hatte einen hatte einen Computer, aber der war nicht internetfähig, aber er konnte immerhin tippen. (Interview, Jutta Hillebrand)

Während in der Klasse von Frau Hillebrand nur ein Schüler einen nicht internetfähigen Computer besitzt, würden die restlichen Schüler*innen dem Unterricht vor allem über Smartphones folgen; teilweise müssten sie sich diese allerdings mit Geschwistern teilen, wie uns eine Kollegin, Frau Jansen, im Interview erzählt. Frau Jansen ist die Klassenlehrerin der IVK der STS Burg und weist langjährige Erfahrung im Unterricht sprachlich heterogener Lerngruppen auf. Die schlichtweg fehlende Ausstattung im Fernunterricht hebt die benachteiligten Arbeitsbedingungen für Kinder mit Migrationsgeschichte deutlich hervor (vgl. Livesey 2020).

Wenn die Schüler*innen mit Endgeräten ausgestattet sind, liegt eine weitere strukturelle Hürde aber in dem für den Fernunterricht notwendigen Internetzugang, wie Frau Hillebrands Kollegin Frau Hofmann erklärt, die Englisch in der IVK wie auch in den Regelklassen unterrichtet:

 (5) „Internetverbindungen sind zum Teil sehr schwach oder nicht vorhanden, nur über Kartenguthaben vorhanden, nicht über Verträge oder WLAN.“ (Interview, Dorothea Hofmann)

Frau Hofmann verweist hier auf eine digitale Prekarität, die zwar nicht nur auf neu zugewanderte Schüler*innen, sondern auch auf andere Kinder und Jugendliche zutrifft, die sich aber bei neu zugewanderten Familien noch verschärft, weil diese z.B. aufgrund ihres Aufenthaltsstatus rechtlich nicht dazu in der Lage sind, Verträge abzuschließen. Die Lehrkraft erklärt an einer weiteren Stelle unseres Gesprächs: „Abhängig vom Status dürfen die auch gar keine Festverträge haben mit den Handys“ (Interview, Dorothea Hofmann).

Das zeigt auch, dass die Reaktion der Bildungspolitik, einen Teil der Schülerschaft mit Endgeräten auszustatten, nicht ausreichend ist, solange kein Zugang zum Internet besteht. Dies stellt sich sowohl bei den Schüler*innen zuhause als auch in den Schulen selbst als Herausforderung dar. Zu der Zeit, als die Tablets durch die Behörden ausgeliefert werden, unterrichtet Frau Hofmann die IVK in Präsenz. Die Auslieferung der Geräte betrachtet sie kritisch, weil sie diese in den Schulen ohnehin nicht nutzen könnten: „Dann haben wir die Endgeräte in den Klassen und dann lie- stauben die da ein und wir können Butterbrote drauf schmieren weil wir kein WLAN haben.“ (Interview, Dorothea Hofmann)

Der Vergleich mit einem Schneidebrettchen zeigt, dass Frau Hofmann keinen Mehrwert in den Endgeräten sieht, solang diese über keinen Internetzugang verfügten. Dies lässt sich möglicherweise damit in Zusammenhang bringen, dass die meisten (Lern-)Apps, aber auch Videoplattformen, Emails und Lernplattformen nur mit Internet zu nutzen sind. Im Zuge unseres Gesprächs mit der IVK-Lehrkraft Antje Jansen hat sich weiter ergeben, dass sie jedoch sehr gerne ein mehrsprachiges digitales Lernportal genutzt hätte:

 (6) ich wollte dann auch was ausprobieren dieses mehrsprachige Lernportal und dann hat auch der Schulleiter es nicht unterschreiben wollen das hätte er unterschreiben müssen ist ein kostenloses Angebot wirklich ne hätte ihn nichts weiter und es war bis – war auch klar dass es dann ausläuft und keine Verpflichtungen verbunden und so aber er hat es nicht unterschrieben mit der Begründung dass es irgendwie nicht gut findet wenn jetzt irgendwie jeder irgendwas macht.

Rückbeziehend auf die Darstellung der bildungspolitischen Perspektive zeigt sich hier folglich eine erste Diskrepanz: Während sowohl Herr Romano als auch der Schulsenator positiv herausstellen, wie schnell die Hamburger Behörde mit der technischen Ausstattung auf die Pandemie reagiert habe, wird aus Perspektive der Schulpraxis deutlich, dass die Ausstattung mit Endgeräten keineswegs ausreichend ist. So reagiert Frau Hofmann kritisch auf unsere Frage zur Ressourcenverteilung und der fehlenden Mobilisierung von Internetverbindungen für die Kinder im Distanzunterricht:

 (7) Wo sollen die [Schüler*innen, S.P.] das Geld hernehmen? Also und das sind auch Sachen, die die Behörde sich nicht überlegt. Die Behörde sagt: Hier sind jetzt iPads, wir sind fertig, check. (Interview, Dorothea Hofmann)

Frau Hofmann weist mit ihrer Gegenfrage hier auf die fehlenden finanziellen Mittel vieler Schüler*innen aufgrund ihrer prekären Lebensbedingungen hin, was wiederum den klassischen ‚digital gap‘ (Van Ackeren et al. 2020) hervorhebt. Sie kritisiert auch offensiv das Handeln der Behörde und bewertet es als nicht ausreichend. Ihre Darstellung der Behördenhaltung durch die Worte „Wir sind fertig, check“ stimmt insofern mit den Rekonstruktionen der behördlichen Perspektive überein, als dass auch Herr Romano betont, dass die Behörde ihre Aufgabe in der Ausstattung mit technischen Ressourcen als erledigt erachtet. Die restliche Verantwortung würde bei den Schulen liegen – so eben auch die Ausstattung mit WLAN. Frau Hofmann formuliert hier eine gewisse Kurzsichtigkeit der Behörde, die das Unterrichten der IVK in der Pandemie verunmögliche. Auch Frau Jansen verweist auf strukturelle Herausforderungen bezüglich der finanziellen Ausstattung von Sprachunterricht in den IVKs, die sich nicht nur auf Pandemiezeiten beziehen. In diesem Gesprächsauszug reflektiert sie die prekäre Ressourcenlage der IVK:

 (8) Vor allem Deutsch als Zweitsprache […] Da gehen viele Ressourcen rein – also man kriegt da irgendwie so wirklich n Witz irgendwie so ne. Ich weiß nicht mehr, welche Ressourcen wir da gekriegt hätten von der Behörde, aber wirklich lächerlich wenig. Und die Schule muss sehr viel da reinstecken. (Interview, Antje Jansen)

Wie hier ersichtlich wird, klagt Frau Jansen offen die Behörde an, die die Schulen in Bezug auf das Unterrichten von Deutsch als Zweitsprache mit „lächerlich wenig“ Ressourcen ausstatte – eine Perspektive, die der des Referatsleiters diametral entgegensteht. Aus Perspektive der beiden Lehrerinnen könnte die Behörde also deutlich mehr tun, da sich die vorliegende digitale Prekarität unmittelbar auch auf die vorliegende Prekarität auf sprachlicher Ebene auswirkt.

Sprache und Medialisierung des IVK-Unterrichts

Die Auswirkungen der Corona-Pandemie finden sich unmittelbar in der Unterrichtspraxis der IVK wieder. In den folgenden Gesprächen mit Lehrkräften wird aufgezeigt, inwieweit der Fernunterricht eine besondere Herausforderung für die Sprachbildung der Schüler*innen darstellt, die ohnehin bereits vor erheblichen sprachlichen, soziokulturellen und wirtschaftlichen Herausforderungen stehen, wie im vorangegangenen Abschnitt gezeigt wurde.

Im folgenden Interview mit Antje Jansen, das wir am Ende des Schuljahres 2020 durchgeführt hatten, wird der Einsatz diverser Kommunikationskanäle während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 reflektiv skizziert. Primär gehe es laut Frau Jansen darum, die mehrsprachigen Lernenden sprachlich überhaupt zu erreichen. Sie betont, so viele Kanäle wie möglich anzuwenden (vom Telefon als direkte Form der Kommunikation zu Chats und Sprachnachrichten in Messenger-Diensten), um primär Kommunikation sicherzustellen und die Schüler*innen regelmäßig zu erreichen. In diesem Auszug erklärt die Lehrkraft näher, über welche Medien mit den Kindern im ersten Lockdown kommuniziert und unterrichtet wurde:

 (9) ja natürlich [Telefonate] das haben wir – ich hab das immer gemischt es gibt ja auch ähh Schüler die eben ganz große Probleme haben ähm dann mit dem Medium Lesen und Schreiben generell egal in welcher Sprache und dann natürlich in Deutsch erst recht [2] die haben dann ähm Sprachnachrichten geschickt und ich hab auch meistens beides gemacht ähm etwas geschrieben und dann nochmal verbal erklärt mit einer Sprachnachricht weil ich dachte irgendein Kanal das bessere Chance dass es ankommt wenn es nur das Schrift – das Schriftliche auch wenn es nur kurze Sätze sind ist für einige eine echt große Hürde dann zu verstehen (Interview, Antje Jansen)

Die Lehrkraft weist anfänglich auf die Lese- und Schreibschwierigkeiten hin, die in der Sprachbildung als besonders herausfordernd gelten (Gamper et al. 2020: 349) und im Distanzunterricht auf noch größere didaktische Hürden treffen. Um Kommunikationsprozesse und literale Kompetenzentwicklung zusammen zu stellen, verschickt Frau Jansen Nachrichten sowohl in schriftlicher Form, die, wie sie oben anführt, oft eine „große Hürde“ darstellen, als auch in mündlicher Form via Sprachnachrichten. Die Sprachnachricht dient somit als mächtigerer Präsenzersatz als die geschriebene Nachricht, die für viele Lernende oft nicht ausreicht. Das verbale Element der Sprachnachricht hat auch eine soziale Dimension, wenn Lerninhalte vermittelt werden: es geht einerseits darum, eine vertraute Stimme zu hören und den Sprachgebrauch der Lehrkraft als Modell aktiv zu hören; andererseits geht es um eine Verkörperung dessen, was gesagt wird.

 

Wie unten dargestellt, nutzt Frau Hofmann, die Englisch und Deutsch unterrichtet, in ihrem Fernunterricht ebenso Sprachnachrichten als Ressource, um den Schüler*innen während des Distanz-Lehr-Settings zumindest die Möglichkeit zur Lektürearbeit, zum Vorlesen und Sprechen zu geben. Sie schildert uns hier exemplarisch ihre Handlungspraktiken:

 (10) ich hab mir dann von den Schülern auch Audios zugeschick-schicken lassen wo sie mir was vorgelesen haben wo sie mir ähm wo sie auf ne Frage die ich gespro-eingesprochen hatte ne Antwort geschickt haben also ich hab schon versucht sie auch zum Sprechen zu bringen. (Interview, Dorothea Hofmann)

Frau Hofmann fordert somit das Gesprochene auch von ihren Schüler*innen ein. Ihre hier skizzierte didaktische Vorgehensweise weist auf die komplexen Kommunikationsabläufe im Distanzunterricht hin. Einen ähnlichen Einsatz diverser Kommunikationskanäle schildert die IVK-Leiterin an der STS Burg, Frau Hillebrand. Für sie waren vor allem WhatsApp und das Telefon die wichtigsten Medien.

 (11) WhatsApp war für mich ähm Kommunikationsmedium innerhalb der Klasse Telefon Kommunikationsmedium ähm bilateral […] also die lernen ja überhaupt nichts wenn man das nicht korrigiert und dann war das sehr sehr aufwendig dann haben sie ihre Texte ähm oder ihre Arbeitsblätter alle fotografiert und dann ähm per WhatsApp geschickt und dann hab ich das ausgedruckt und korrigiert und wieder fotografiert und wieder an die Schüler zurückgeschickt. (Interview, Jutta Hillebrand)

Für Frau Hillebrand dient WhatsApp vor allem als Kommunikationsmedium innerhalb der Klasse, während sie direkte Telefonate als intensivste Form der Kommunikation mit den einzelnen Schüler*innen führt. Weiter betont sie hier, wie zeitaufwendig und arbeitsintensiv sich der Korrekturprozess von schriftlichen Textaufgaben im Fernunterricht gestaltet.

Ein kreatives Beispiel für den Einsatz sprachlicher Handlungswege wird im folgenden Beispiel aufgezeigt. Frau Hofmann schildert hier den Einsatz von Google Translate als Übersetzungshilfe für Schüler*innen mit unterschiedlichen Herkunftssprachen.

 (12) wir haben zwei Schülerinnen eine ist türkisch bulgarisch sprachig eine ist ähm eine ist polnisch sprachig [1] da hat es nicht funktioniert [1] ( ) da kann ich keine Sprache vermitteln auf die Distanz ohne dass wir eine gemeinsame Sprache haben das geht nicht […] mit ihr kommunizier ich in der Regel darüber dass ich was in Google Translate reinschreibe [1] und Google Translate das auf Polnisch übersetzen lassen und die Schülerin antwortet mir dann Google Translate auf Polnisch und ich krieg dann und tatsächlich nutze ich da Englisch Polnisch weil Google Translate besser mit Englisch in andere Sprachen funktioniert. (Interview, Dorothea Hofmann)

Frau Hofmann weist auf die Komplexität von sprachlich heterogenen Lerngruppen im Fernunterricht hin. Ihrer Ansicht nach besteht eine hohe Sprachbarriere, die sich im Fehlen einer gemeinsamen Sprache manifestiert. Google Translate fungiert hier als mehrsprachiges Übersetzungsmedium und als primäres Hilfsmittel zum Sprachenlernen, das von der Lehrkraft und den Schüler*innen bedient wird. Für sie bietet dieses Medium die einzige Möglichkeit, die Lernenden aus der Distanz sprachlich handlungsfähig zu machen. Frau Hofmanns Handeln zeigt, wie Lehrkräfte Mehrsprachigkeit hier situativ einsetzen, was auch mit Gogolins (2020) Forderung einhergeht, das mehrsprachige Repertoire der Schüler*innen anzuerkennen und einzusetzen. Die diskutierten Auszüge aus Gesprächen mit IVK-Lehrkräften liefern Anhaltspunkte dazu, wie die bestehenden Bedingungen des Distanzunterrichts für neu zugewanderte Schüler*innen andauernde Bildungsbenachteiligung und digitale und mehrsprachige Prekaritäten in Pandemiezeiten zu verschärfen scheinen. Wie bereits in 4.1. diskutiert, besteht auch hier in der wissenschaftlichen Fachdiskussion Einigkeit (vgl. auch BERA 2020; DivER 2020; Gogolin 2020).

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass für die in unserer Studie befragten Lehrkräfte der größte Aufwand im Distanzunterricht erst einmal darin besteht, die mediale Erreichbarkeit der Schüler*innen sicherzustellen und mit den vorherrschenden prekären Lehr- und Lernsituationen umzugehen. Wie auch Piller et al. (2020) argumentieren, liegt die sprachliche Herausforderung in Zeiten von Corona sehr stark am Herstellen von Beziehungen, und nicht nur am Informationsaustausch: „All this means that the language challenges of COVID-19 do not only relate to the dissemination of information but also to relationship building” (2020: 510; vgl. hierzu auch Bremm/Racherbäumer 2020: 212). Wie wir in diesem Beitrag aufgezeigt haben, dürfte die soziale Dimension der aufgezeigten Kommunikationshürden im (digitalen) Distanzunterricht die prekäre Situation noch verschärfen.

5 Diskussion und Ausblick

In diesem Beitrag haben wir theoretische und empirische Erkenntnisse zu Sprachunterricht in Internationalen Vorbereitungsklassen zu Pandemiezeiten am Beispiel einer Hamburger Stadtteilschule dargelegt. Im Speziellen sind wir der Frage nachgegangen, welche Ansprüche Schulpraxis, Bildungspolitik und Wissenschaft mit Blick auf die Frage nach Bildungsgerechtigkeit von neu zugewanderten Schüler*innen aneinander stellen und welche Implikationen sich daraus für Veränderungen auf institutionell-organisatorischer Ebene ergeben.

In Einklang mit bisherigen ersten Befunden anderer Studien (Bremm 2021; Bremm/Racherbäumer 2020; Gogolin 2020; Livesey 2020) zeigen unsere Erkenntnisse, dass Kinder mit Migrations- und Fluchterfahrung aufgrund der Pandemie in ihren Lernchancen und Bildungszielen besonders stark aufgrund ihrer sprachlichen und technischen Ressourcenausstattung benachteiligt sind. Wenn auch nicht generalisierbar, bilden die in unserer Studie skizzierten Prekaritätserfahrungen und geschilderten Perspektiven verschiedener Akteur*innen eine soziale Realität ab, die auf die Ressourcenknappheit im IVK-Sprachunterricht hinweist. Die diversen Erfahrungen und Perspektiven sind durchaus „ein Diagnosewerkzeug für Machtverhältnisse in symbolischen Ordnungen und legen Prozesse und Praktiken offen, die diese Ordnungen reproduzieren“ (Hassemer/Flubacher 2020: 171). Diese Machtverhältnisse spiegeln sich, wie in diesem Beitrag deutlich wird, im Zusammenspiel und Handeln bildungspolitischer, schulpraktischer und wissenschaftlicher Diskurse und Praktiken wider. Im Beitrag haben wir die Stellung der IVKs, wozu es bis dato noch wenig Forschung gibt, herausgearbeitet. Die IVK stellt ein wichtiges Gelenk im Übergang Neuzugewanderter in Regelklassen und ihrer weiteren Bildungsverläufe und -aspirationen dar. Durch die Schulschließung der STS Burg wird die Fragilität und Ressourcenabhängigkeit von IVKs, die über das viel zitierte „Laptop-Problem“ hinausgeht, verschärft, die so nicht zu einer chancengleichen und bildungsgerechten Schule führen können.

Wie Fürstenau (2015) bereits gefordert hat, können „Handlungsansätze migrationssensibler Schulentwicklung […] in die Breite getragen werden, wenn das Ziel gleichberechtigter Teilhabe bildungspolitischer Konsens ist“. Sowohl Wissenschaft und Schulvertretung hatten im ersten Lockdown eine bevorzugte Öffnung von IVKs für sozial benachteiligte Kinder und Jugendlichen gefordert: „Da ohnehin nicht alle Schüler*innen gleichzeitig in die Schule zurückkehren können, sollte zunächst vor allem denjenigen Kindern und Jugendlichen der Schulbesuch ermöglicht werden, die eine besondere Unterstützung benötigen“ (Offener Brief KMK 2020). Diesen Forderungen ist die Bildungspolitik jedoch nicht nachgekommen. Während Lucas Romano seitens der Schulbehörde in unserer Studie zwar einen Anspruch auf gleichberechtigte Teilhabe aller Schüler*innen formuliert und über Präsenzunterricht für IVKs nachdenkt, scheint er sich jedoch nicht in der Verantwortung zu sehen, eine Durchsetzung dieser zu gewährleisten. Stehen IVKs somit als Verlierer in dieser Krise da? Und welche Folgerungen lassen sich hieraus mit Blick auf Bildungsgerechtigkeit ableiten?

In der Krise scheinen sich Bildungsungleichheiten erneut zu reproduzieren: Während gut ausgestattete Schüler*innen den Zugang zu Bildung (zumindest weitgehend) aufrechterhalten konnten, haben wir in unserem Beitrag gezeigt, dass für neu zugewanderte Schüler*innen allein dieser Zugang eine nur schwer überwindbare Hürde darstellt. Die Grenzen von Ansprüchen der Wissenschaft, Bildungspolitik, Schulpraxis bündeln sich am Habitus IVK, wo es eine mangelnde Ressourcenausstattung gibt und viele Schüler*innen aufgrund ihres fehlenden Lernfortschritts in Deutsch erst später in die Regelklasse wechseln können. Durch die Schulschließung wird die Rolle von IVKs als Grenzort diverser institutioneller Ansprüche hervorgehoben und die Fragilität und Ressourcenabhängigkeit verschärft. Schüler*innen müssen sich an ein Bildungsmandat anpassen, das nicht mit ihren Lernbedürfnissen und sozialen Lebenswelten vereinbar ist. Diese Umstände und Vorgehensweisen, vor allem das Agieren von Bildungspolitik und Re-Agieren von Schulpolitik, können nicht zu einer chancengleicheren und bildungsgerechteren Schulbildung für Neuzugewanderte führen. Wenn Bourdieu und Passeron (1971) also von der Illusion der Chancengleichheit sprechen, dann sehen wir diese Illusion allgegenwärtig und verkörpert durch die Benachteiligung neu zugewanderter Schüler*innen in IVKs.

Wie kann nun ein zukunftsweisender Unterricht in IVKs gestaltet werden? Es braucht institutionalisierte Prozesse, die die adäquate und faire Verteilung von Bildungsressourcen – im Sinne Giesingers (2012) – steuern. Mit Giesinger müssten für eine faire Verteilung gerade die am „wenigsten privilegierten“ bevorzugt berücksichtigt werden. Solang die Bildungspolitik ihre Aufgabe aber nur in der Verteilung von Endgeräten sieht und den Schulen, die ihrerseits überlastet sind, alle weiteren Schritte überlässt, scheint eine Auflösung dieser digitalen Prekarität nicht zu gelingen. Hieran hängt jedoch die von Giesinger geforderte „Grundbildung“, die neu zugewanderten Schüler*innen nicht zuteilwird, solang sie schlicht keinen Zugang haben. Unsere Daten zeigen, „dass es gerade an Standorten mit Mehrfachbenachteiligungen nicht nur einzelschulischer Strategien der kontextspezifischen Schul- und Unterrichtsentwicklung, sondern einer entschlossenen auf Ungleichheitsabbau gerichteten Bildungssystementwicklung und Bildungssystementwicklungsforschung bedarf, um Bildungsungleichheiten flächendeckend und nachhaltig abzubauen“ (Bremm/Racherbäumer 2020: 211).

Weiter bedarf es eines kontinuierlichen Dialogs zwischen Schulpraxis und Bildungspolitik, um Ressourcen passgenauer einsetzen zu können. Sprachbildung für Neuzugewanderte ist immer an effektive Kommunikationsmöglichkeiten gebunden, die aktuelle Schulschließungen und Fernunterricht nicht konsequent ermöglichen. IVKs sollten daher bei der schrittweisen Öffnung der Schulen prioritär bevorzugt werden, nicht nur um eine durchgängige Sprachentwicklung heterogener Lerner*innen zu ermöglichen, sondern auch um den Zugang zu Bildung sozial gerechter zu gestalten (vgl. Plöger/Barakos 2020).