Literaturwissenschaften in der Krise

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Literatur

Barthes, Roland (42015). Das Rauschen der Sprache. Übers. Dieter Hornig. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

DWB = Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bde. in 32 Teilbänden. Leipzig 1854–1961.

Fehling, Maria (Hrsg.) (1925). Briefe an Cotta. Das Zeitalter Goethes und Napoleons 1794–1815. Stuttgart, Berlin: Cotta.

Fischer, Bernhard (2014). Johann Friedrich Cotta. Verleger – Entrepreneur – Politiker. Göttingen: Wallenstein.

Kleist, Heinrich von (92001). Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. v. Helmut Sembdner. München: Deutscher Taschenbuch Verlag.

Kuhn, Dorothea (Hrsg.) (1977). Goethe und Cotta. Briefwechsel 1797–1832. 3 Bde. Stuttgart: Klett-Cotta.

Nietzsche, Friedrich (1999). Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen. Kritische Studienausgabe, Bd. 1. Hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München: Deutscher Taschenbuch Verlag.

Novalis (1960ff.). Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. v. Richard Samuel. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Plumpe, Gerhard (1996). ›Einleitung‹, in: Gerhard Plumpe (Hrsg.). Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit 1848–1890 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 6). München u. Wien: Carl Hanser.

Said, Edward W. (1996). Representations of the Intellectual. New York: Vintage Books.

Schlegel, Friedrich (1979). Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. 22 Bde. Hrsg. v. Ernst Behler. Paderborn, München u. Wien: Ferdinand Schöningh.

Todorov, Tzvetan (1972). Einführung in die fantastische Literatur. Übers. v. Karin Kersten, Senta Metz u. Caroline Neubaur. München: Ullstein.

Waldenfels, Bernhard (2017). Platon. Zwischen Logos und Pathos. Berlin: Suhrkamp.

4 Literaturgeschichte und Konstruktivismus

Die Wahrheiten der Postmoderne

Christoph Reinfandt

Wer ist schuld am weltweiten Aufstieg der Rechtspopulisten und dem mit ihm offenkundig werdenden ›postfaktischen Zeitalter‹? Etwas differenzierter sollte man wahrscheinlich fragen, was denn die vermutlich durchaus vielfältigen Ursachen für diese Entwicklung sind, doch im massenmedialen Betrieb des Feuilletons und des Kulturjournalismus gibt es bereits pointierte Antworten: Die Schuldigen sind allesamt auf der linken Seite des politischen Spektrums zu verorten. »Die Hippies sind schuld«, konstatiert etwa die Überschrift von Thomas Assheuers (2017) letztlich doch abgewogeneren Überlegungen im Anschluss an den amerikanischen Kulturwissenschaftler Fred Turner (2006 und 2016). Assheuer bezieht immerhin noch Rahmenbedingungen wie etwa die fortschreitende Digitalisierung mit ein und verweist auf verkomplizierende Faktoren wie die Spaltung der Linken. Wesentlich einfacher macht es sich hier der Züricher Philosoph Michael Hampe (2016). Hampe erklärt, »pubertäre Theoretiker« der »kulturwissenschaftlichen Linken« (»KWL«) hätten mit ihrem dekonstruktiven Insistieren auf der medialen, diskursiven und damit letztlich sozialen und politischen Konstruiertheit aller Dinge den Aufstieg der »lügenden grobianischen Rechten« (»LGR«) herbeigeführt. In der Beliebigkeit der Postmoderne sei nunmehr die Gültigkeit objektiver Fakten derart unterminiert, dass die Populisten freie Bahn hätten.

Obwohl der Befund eines gegenwärtig geschwächten Evidenz- und Referenzprinzips für Aussagen über die Wirklichkeit natürlich nicht von der Hand zu weisen ist, greift diese Schuldzuweisung doch zu kurz und ist damit ebenso populistisch wie der kritisierte postfaktische Diskurs. Zum einen sollte man die Wirkmächtigkeit geistes- und kulturwissenschaftlicher Seminare und Publikationen nicht überschätzen, wie etwa Bernhard Pörksen in seiner Replik (2017) hervorhebt. Zum anderen haben sich die pauschal als ›pubertär‹ verunglimpften Theoretiker ihre durchaus komplexen Theorien nicht aus einer Laune heraus ausgedacht, sondern, das sollte man ihnen zugestehen, in Fortsetzung einer langen und durchaus ehrwürdigen Tradition skeptischen und kritischen Nachdenkens und in Reaktion auf eine sich ausdifferenzierende, immer komplexer werdende moderne Wirklichkeit. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, diese Tradition und ihre jüngeren Erscheinungsformen in eine Perspektive ihrer medialen und technologischen Bedingtheit einzurücken, so dass klar wird, dass schlichte Schuldzuweisungen à la Hampe nicht zielführend sein können. Dabei wird es auch darum gehen, deutlich zu machen, was denn die Literaturwissenschaften zur Klärung dieses Sachverhalts beitragen können.

Wahrheit und Wahrheiten

Der des linken Pubertierens völlig unverdächtige Soziologe und Systemtheoretiker Niklas Luhmann wies schon 1990 darauf hin, dass die »Umstellung des Wissenschaftssystems von einem ontologischen auf ein konstruktivistisches […] Selbstverständnis, wie sie in den zweihundert Jahren seit Kant zu beobachten ist, […] in sehr tiefgreifender Weise das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft [berührt]« (627). Und auch die weiter ausgreifenden, die westliche Tradition seit der Antike einbeziehenden Überlegungen des ebenfalls der postmodernen Schaumschlägerei unverdächtigen Physikers, theoretischen Biologen und Naturphilosophen Bernd-Olaf Küppers machen deutlich, dass es mit der Wahrheit nicht so einfach ist: Schließlich hat doch »die Diskussion um das Wahrheitsproblem […] im Laufe ihrer Geschichte immer wieder neue Varianten des Wahrheitsbegriffs hervorgebracht […]: [d]ie ontologische, die logische, die empirische, die kontingente oder die pragmatische Wahrheit, die zugleich die fortschreitende Differenzierung unseres Weltverständnisses widerspiegeln.« (2008: 177) Wahrheit, so zeigt sich hier, war zumindest im westlichen Kulturkreis schon immer Verhandlungssache. Die Kriterien für ihre Akzeptanz haben sich im Laufe der Jahrhunderte langsam aber unaufhaltsam von ›absolut‹ Richtung ›hypothetisch‹ bewegt. Selbst im Rahmen der auf Aristoteles zurückgehenden und von Thomas von Aquin wiederaufgenommenen Korrespondenztheorien der Wahrheit wurde zunehmend nicht nur die abbildende, sondern auch die sprachlich-symbolische Darstellungsfunktion anerkannt. Dies geschah zunächst noch abgefedert in Annahmen der Strukturgleichheit von (sprachlicher) Darstellung und Welt, dann aber mit zunehmender Akzentverschiebung hin zu Kohärenztheorien der Wahrheit, deren Angemessenheit sich in der Widerspruchsfreiheit auf der Ebene der (sprachlichen) Repräsentation insgesamt erweist und dann letztlich nur noch im Handeln an der Wirklichkeit selbst bewähren kann. Erfolgreiche Bewährung wiederum muss auch mitgeteilt werden, und so verschiebt sich der Akzent erneut, hin zu Konsens- und Diskurstheorien einer Wahrheit, die sich intersubjektiv in kommunikativen Verhandlungsprozessen bewähren muss. Diese allerdings, dies sei betont, werden stets dadurch destabilisiert, dass der modernen Wissenschaft mit ihrer auf die Produktion neuen Wissens und die Falsifikation etablierten Wissens ausgerichteten Praxis immer auch eine Dissenstheorie der Wahrheit eingeschrieben ist.

Die volle Komplexität dieses am Ende eines langen Evolutionsprozesses stehenden Zustands ist erst in jüngeren Jahren erfasst worden. Sie wird häufig unter dem bei Luhmann genannten Stichwort des Konstruktivismus verhandelt, der ganz unterschiedliche Formen annehmen kann. Im rückblickend von Richard Rorty (1967) für den Anfang des 20. Jahrhunderts angesetzten Linguistic Turn der Philosophie geht es im Kern darum, dass (und wie) die Sprache das Denken formt, und diese Grundfrage ist seither auch in anderen Disziplinen intensiv weiterverfolgt worden (vgl. Boroditzki 2012). Da Sprache zudem niemals pur auftritt, sondern stets an gesellschaftliche Praktiken und verfügbare Medientechnologien gebunden ist, schließen hier im Laufe des 20. Jahrhunderts zahlreiche weitere Cultural Turns an und verheißen Neuorientierung in den Kulturwissenschaften (Bachmann-Medick 2006). Zuvor schon war auch in der Soziologie Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit in den Mittelpunkt gestellt worden (Berger und Luckmann 1966). Erkenntnistheoretisch auf den Punkt gebracht werden die mit dieser Entwicklung verbundenen Einsichten von den sogenannten ›radikalen Konstruktivisten‹ wie etwa Ernst von Glasersfeld (vgl. etwa 1996). Im Kern geht es dabei darum, »dass vom Beobachter und seinen Methoden des Beobachtens und deren Wirkung auf den beobachteten Gegenstand nicht (!) abstrahiert werden darf, wenn Aussagen über die Welt und deren Beschaffenheit gemacht werden« (Simon 2017). Da sich die Angemessenheit derartiger Aussagen wie oben erwähnt nur noch im Handeln, d.h. im Umgang mit der Wirklichkeit bewähren kann, verschiebt sich das Kriterium geglückter Erkenntnis »[v]on der Wahrheit zur Viabilität« (Köck 2011). Man kann somit, fasst Fritz B. Simon (2017) zusammen, »aus konstruktivistischer Sicht zwar nicht sagen, welche Aussagen eine ewige Wahrheit beschreiben, aber man kann durchaus sagen, was Quatsch und unwahr ist.«

Allerdings bleibt dabei unberücksichtigt, dass es Aussagen über die Wirklichkeit gibt, deren Angemessenheit sich eben nicht (oder zumindest nicht sofort) im Handeln bewähren kann: Wie sollte sich Donald Trumps Behauptung, seine Inaugurationsfeier sei die von der Zuschauerzahl her größte der amerikanischen Geschichte gewesen, im Handeln bewähren? Zwar scheint seine Behauptung angesichts des existierenden Bildmaterials offensichtlich falsch, aber letztlich handelt es sich ja nur um Bildmaterial, das ein Ereignis nie vollständig und in allen seinen Dimensionen erfassen kann. Eine unmittelbare Handlungsoption, in der sich die auf diesem Bildmaterial beruhende gegenteilige Behauptung an der Wirklichkeit bewähren kann, steht ja leider ebenfalls nicht zur Verfügung. Simon (2017) verweist nun darauf, dass

 

aus konstruktivistischer Sicht die Möglichkeit der Objektvierung darin [besteht], dass unterschiedliche Beobachter sich über die Fokussierung der Aufmerksamkeit (= Selektion der Phänomene), die Selektion der Beobachtungsmethode, die Kriterien der Bewertung (z.B. Messmethoden) und die Selektion der Erklärungsansätze (= Theoriearchitektur) für die beobachteten Phänomene einigen

– aber während dies innerhalb eines normativ-prozedural gerahmten Kommunikationszusammenhangs wie der modernen Wissenschaft gelingen mag, fehlt im durch Digitalisierung zunehmend beschleunigten und dezentrierten öffentlichen Diskurs unserer Zeit doch genau dieser Rahmen. Auch andere regulative Rahmungen institutioneller oder kultureller Art sind nach Jahrhunderten der Ausdifferenzierung in Modernisierungsprozessen erodiert. Zu denken wäre hier einerseits insbesondere an die Gatekeeping-Funktionen der Welt des Buchdrucks und andererseits an die normative Dimension von Gefühlsstrukturen (vgl. Williams 1977), wie sie sich etwa in Koordinaten von Moral, Scham und Anstand manifestieren.

Vor diesem Hintergrund wird erkennbar, dass es sich bei dem Angriff auf die ›pubertären linken Konstruktivisten‹ der ›Postmoderne‹, wie er am pointiertesten in dem bei konservativ-rechten Stimmen populären Manifest des Neuen Realismus des italienischen Philosophen Maurizio Ferrari (2014) vorgetragen wird, um ein »strategische[s] misreading« handelt, das »eine Umkehrung von Vorher und Nachher, eine Vertauschung von Ursache und Wirkung« vornimmt und so die ›Postmoderne‹ als linken »Pappkamerad« aufbaut (Sasse und Zanetti 2017). In der Tat gibt es gute Gründe dafür, die Rede von der ›Postmoderne‹ angesichts des Fortbestehens vieler seit dem 18. Jahrhundert etablierter Strukturen eher als typisch modern(istisch)e Semantik zu betrachten, der es um Distinktionsgewinn durch die Behauptung von Innovation und Originalität geht. Akademisch präziser hätte man wohl besser von ›Spätmoderne‹ sprechen sollen, deren Kennzeichen wiederum in Anlehnung an die englischsprachige Diskussion als ›postmodernistisch‹ oder, wie von Hans Robert Jauss (1983) weitgehend ungehört vorgeschlagen, als ›postistisch‹ zu bezeichnen wären. Erst in jüngster Zeit mehren sich demgegenüber die Anzeichen dafür, und hier ist der spezifische Charakter des jüngsten Aufstiegs der Populisten in der Tat signifikant, dass sich die seit dem 18. Jahrhundert etablierten Strukturen der modernen Gesellschaft und die damit verbundenen Koordinaten der modernen Kultur endgültig in etwas transformieren, das dann tatsächlich als ›Postmoderne‹ bezeichnet werden könnte (vgl. dazu Beck 2016).

Literaturgeschichte als Kulturgeschichte

Was kann nun die Literaturwissenschaft zur weiteren Klärung und Plausibilisierung der bisher skizzierten Sicht der Dinge beitragen? Der entscheidende Schritt hierzu ist ein kulturwissenschaftliches Verständnis von Literaturgeschichte, das insbesondere mediengeschichtlichen Aspekten besondere Aufmerksamkeit widmet. Die moderne Literatur, so zeigt sich aus diesem Blickwinkel, konnte ihre tragende Funktion bei der Herausbildung eines modernen bürgerlichen Subjekts mit universalen Ansprüchen nur mit Hilfe der sich seit Mitte des 15. Jahrhunderts zur Verfügung stehenden neuen Medientechnologie des Buchdrucks erfüllen. Im 18. Jahrhundert war die moderne Gesellschaft dann vor dem Hintergrund sich ausbreitender Schreib- und Lesefähigkeit in der Bevölkerung derart mit Druckerzeugnissen gesättigt, dass es Sinn macht, die modernen Leitdiskurse Aufklärung und Romantik als ›events in the history of mediation‹ aufzufassen (Siskin und Warner 2010; Siskin 2016). Der Buchdruck ermöglicht dabei erstmals in großer Zahl Kommunikationsprozesse, in denen durch die abstrakte Präsenz von Wörtern auf dem Papier ohne die kontrollierende Anwesenheit eines Senders dem Autor die Autorität über die Bedeutung entzogen wird. Diese liegt nunmehr scheinbar im Text selbst, geht aber de facto auf den Leser über, wie etwa Thomas Docherty (1987) in seinen Überlegungen zu ›moderner Autorität‹ eindringlich herausarbeitet. Sowohl die Aufklärung als auch die Romantik können vor diesem Hintergrund als Diskursformationen zur Kompensation dieses kommunikativen Kontrollverlusts gelesen werden: Aufklärerische Kommunikation hält am Ideal der Transparenz des Mediums fest, um den Ursprung und Maßstab der Bedeutung eines Textes weiterhin in der Referenz verorten zu können. Romantische Kommunikation hingegen erkennt die konstitutiven Mittlerinstanzen der subjektiven Erfahrung und der Medialität (des Schreibens, des Buchdrucks) an und verortet die Bedeutung somit im Subjekt und/oder im Text. Während Erstere sich beispielsweise im sich ausdifferenzierenden modernen Wissenschaftssystem um eine weitgehende Ausblendung des Faktors Subjektivität bemüht, um zu gültigen Aussagen über die Welt zu kommen, findet Letztere ihren kulturellen Ort im modernen Literatursystem, in dem sich insbesondere die Lyrik in und nach der Romantik durch ein hohes Maß an Selbstreferentialität auszeichnet, die sich vom ›Sprecher‹-Subjekt zum ›Schreiber‹-Subjekt und schließlich auf den Akt des Schreibens und die Bedingungen des Schreibens ausweitet. Der Roman hingegen bleibt im lange vorherrschenden realistischen Paradigma der scheinbar transparenten und primär visuell orientierten Simulation von mündlichen Erzählakten verhaftet, deren unhintergehbare Subjektivität zudem hinter den Plausibilisierungsstrategien des Erzählvorgangs verschwindet. Mit der Wende hin zum nunmehr als literarisch im emphatischen Sinne anerkannten Roman des Modernismus allerdings setzt sich auch hier eine erhöhte Selbstreferentialität durch, die sich sowohl auf die Dimension der Subjektivität (Bewusstseinsstrom, innerer Monolog) als auch auf die Vermittlungsformen des Narrativen selbst bezieht.

Gerade der Roman stand dabei von Beginn an in enger Beziehung zur modernen Wahrheitsproblematik. Für eine Gattung, die sich der Darstellung einer fiktionalen Version der zeitgenössischen Wirklichkeit verschrieben hat, stellt sich die Frage nach dem Unterschied zwischen Lüge und Konstruktion mit besonderer Heftigkeit, bieten doch die neuartigen gedruckten Erzählungen, wie Elena Esposito herausarbeitet, eine »fiktive Realität, die nicht mit der realen Realität konkurriert, sondern eine alternative Beschreibung darstellt, die die verfügbare Komplexität weiter erhöht« (2007: 31). Die hier identifizierte, auf »Realitätsverdoppelung« (31) basierende neue kulturelle Funktion teilt der Roman mit der zur gleichen Zeit entstehenden Wahrscheinlichkeitsrechnung: Beide bieten »jene Orientierungsmöglichkeiten,« die nach allgemeinem Empfinden der damaligen Zeit »die ›reale Realität‹ nicht [mehr] zu bieten hat« (55), beide »stellen […] eine irreale, aber realistische Realität dar, gerade weil sie diese vereinfachen und auf eine Weise durchschaubar machen, die die reale Welt nie zulassen würde« (57). Esposito erblickt in Roman und Wahrscheinlichkeitsrechnung programmatische kulturelle Praktiken, die »die Modernität der Konstruktion« in einer »Gleichzeitigkeit von Kontingenz und […] Abwesenheit von Willkür« verankert (68). Der Roman bindet dabei kontingente, vom Leser im Modus der Beobachtung zweiter Ordnung wahrgenommene Erzähler- und Figurenperspektiven in eine sich stringent entfaltende Weltkonstruktion derart ein, dass »eine Dynamik in Gang gesetzt wird, die keineswegs notwendig ist, die sich aber dennoch nicht willkürlich entwickelt.« (70) Die Wahrscheinlichkeitsrechnung hingegen sieht vom Visuell-Lebensweltlichen ab und transformiert stattdessen kontingente Informationen aus Gegenwart und Vergangenheit in eine abstrakt-mathematische Projektion der Zukunft, die den Eindruck erweckt, sie könne »reale Realitäten integrieren und […] in die komplexe und gegliederte Ontologie der modernen Gesellschaft umwandeln.« (70)

Damit sind zwei verschiedene Formen der Fiktion markiert, die sich einerseits auf die Leitdiskurse Aufklärung (Wahrscheinlichkeitsrechnung) und Romantik (Roman) beziehen lassen und andererseits bis heute auf unterschiedliche Weise die Funktion der Realitätsverdoppelung erfüllen. Esposito verweist hier auf den

paradoxe[n] Zustand einer Gesellschaft, die die Realität der Fiktion bestreitet, die aber zugleich Umfragen und Statistiken die zweifelhafte Rolle eines ›Realitätsersatzes‹ zuweist. […] Während im Bereich der fiction das Bewußtsein für die Unwirklichkeit der fiktiven Realität […] weit verbreitet ist, scheint dieses Bewußtsein in bezug auf die Wahrscheinlichkeit viel weniger stark ausgeprägt zu sein. (70–71)

Auf der einen Seite also steht eine »eigenartige quantitative Blendung« (72), die als »funktionierende Simplifikation« bis heute Empirie und damit die exklusive Berechtigung zu Aussagen über die Wirklichkeit für sich beansprucht (73). Auf der anderen Seite steht ein erfahrungsgesättigter Weltzugang qualitativer oder hermeneutischer Art, dem aufgrund seiner subjektiven Anteile Objektivität abgesprochen wird, obwohl ihm doch im Gegensatz zur Formalisierung quantitativer Studien ein größeres Potential zur Berücksichtigung von »Wechselwirkungen, Rückbezüglichkeiten und Kontingenz« zur Verfügung steht (73). Die eingangs beschriebene Kritik am Konstruktivismus, so zeigt sich hier, beruht darauf, dass »die Vorstellung vom Sonderstatus der realen Realität nach wie vor weit verbreitet ist.« Dabei werden doch »alle theoretisch anspruchsvollen Varianten des Konstruktivismus« (71) angesichts der Komplexität der Welt nicht müde darauf hinzuweisen, dass es nötig wäre, »Kontrollformen zu denken, die auch funktionieren, wenn man nicht die Welt, sondern die Beobachter zum Bezugspunkt macht.« (73)

In anderer Worten: Was real ist, ist die Operation der Beobachtung, nicht ihr Inhalt, der immer Re-Präsentation der Wirklichkeit bleibt und niemals zur Realität selbst in Kontakt steht. Der Roman hat diese Einsicht, nicht zufällig parallel zum Linguistic Turn der Philosophie, im Modernismus in gesteigerte Selbstreferentialität linguisitischer, narrativer und diskursiver Art umgesetzt, womit sein Akzent sich von Repräsentation auf Performativität verlagerte, ohne dass deshalb die Repräsentation völlig aufgegeben wurde, was ja angesichts der Zeichenhaftigkeit von Sprache auch nur schwer zu erreichen ist. Der Roman erfüllt zudem bis heute seine im 18. Jahrhundert angelegte Funktion einer Überführung von privater individueller Erfahrung in den Bereich der Öffentlichkeit, auch wenn er angesichts der Verlagerung der gesellschaftlichen Öffentlichkeit von der Welt des Buchdrucks in eine Welt der elektronischen und digitalen Medien zunehmend marginalisiert erscheint. Er ist damit das früheste und bis zum jetzigen Zeitpunkt wahrscheinlich komplexeste Medium für den Umgang mit dem, was Fritz B. Simon ›weiche Realitäten‹ nennt, »bei denen die Beobachtung zumindest das Potential hat, den beobachteten Gegenstand zu verändern«: »Wer gesellschaftliche Verhältnisse […] in einer bestimmten Weise beschreibt, verändert sie (zumal diese Beschreibung, wenn sie kommuniziert wird, Element dessen ist, was beschrieben wird)« (Simon 2017; ›harte Realitäten‹ sind demgegenüber »Gegenstände […], die sich durch die Tatsache des Beobachtetwerdens wenig beeindrucken lassen«, wie z.B. Sonne und Sterne). Als reale Operationen sind also Konstruktionen insbesondere ›weicher Realitäten‹ »nicht nur selbst real, sondern haben auch reale Auswirkungen, sie sind […] ›performativ‹« (Sasse und Zanetti 2017). Und dasselbe gilt, womöglich in etwas geringerem Ausmaß, auch für Konstruktionen ›harter Realitäten‹, die im Kontext der Naturwissenschaften als ›Wirklichkeitserzählungen‹ kommuniziert werden (vgl. z.B. Harré 1990, Brandt 2009), so dass auch eine großangelegte Geschichte der Objektivität in ihrem letzten Kapitel letztlich eine Akzentverschiebung von der Repräsentation zur Präsentation konstatiert (Daston und Galison 2007: 385)

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