Literaturwissenschaften in der Krise

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

3 Literatur(-Wissenschaft) in der gravierenden Krise

Ein Versuch

I-Tsun Wan

Die Zeit scheint eine neue Ordnung der Dinge herbeiführen zu wollen, und wir werden davon nichts, als bloß den Umsturz der alten erleben.

Heinrich von Kleist an Rühle von Lilienstern, November 1805 (Kleist 92001: II, 761)

Krise und Literatur

Zweifelsohne befinden wir uns in einer krisenbehafteten Welt/Epoche – wenn nicht gar mitten drin in einer Krise. Gegen diese totalitäre Wir-Aussage hätte sich früher wohl einwenden lassen, dass man sie nur aus einer ***-zentralistischen Perspektive konstatiert und die Heterogenität der Welt willkürlich-wissend ignoriert. Infolge der Globalisierung hat die Welt allerdings eine gewisse Homogenität erlangt, die diese totalitäre Aussage, wenn auch nicht ermöglicht, so doch voraussetzt. Je stärker die Welt globalisiert wird, desto weniger utopische En- bzw. Exklaven bleiben als ›Nicht-Ort‹ übrig. Folglich geht es, wenn heutzutage die Welt als in einer Krise befindlich beschrieben wird, um eine totalitäre Krisensituation, sei es eine Militär-, eine Klima-, eine Infektionskrise oder eine Krise durch einen Computervirus usw. Im etymologischen Sinne bedeutet die Krise eine »entscheidung in einem zustande, in dem altes und neues, krankheit und gesundheit u.ä. mit einander streiten« (DWB, Bd. 11, Sp. 2333). Gerade in solch einem Zustand ist jede Entscheidung bzw. Orientierung fragil: Während man um Fassung ringt, bleibt man fassungslos, indem jede Fassung im nächsten Augenblick von einer neuen Situation bestritten werden kann.

Diesbezüglich dient uns das Europa um 1800, als sich die Europäer in einer ›europäisierten‹ Krise infolge von Napoleons Politik sahen, als Miniatur einer krisenhaften Welt. Im Hinblick auf Napoleons unaufhaltsamen Siegeszug schrieb Heinrich von Kleist im November 1805 an seinen Freund Rühle von Lilienstern: »Die Zeit scheint eine neue Ordnung der Dinge herbeiführen zu wollen, und wir werden davon nichts, als bloß den Umsturz der alten erleben« (Kleist 92001: II, 760f.). Und am 12. November 1805 schrieb Johann Friedrich Cotta an Goethe: »Das HauptGewitter wäre in gegenwärtigem Augenblik gewiß beschworen, wenn aber die Besorgung mancher, daß Preußen noch gegen Frankreich sich erklären werde – welches ich der Inconsequenz des bisher consequent gehandelten Ministeriums wegen nicht glauben kann – wirklich einträffe, dann fürchtete ich eine totale Umkehrung der Welt« (Kuhn 1977: I, 131). Es scheint, als wäre niemand in der Lage gewesen, dem Gravitationsfeld dieser »totalen Umkehrung« der Welt respektive Europas zu entfliehen. In diesem Ausnahmezustand wagte auch Cotta, »Bonaparte unter den Buchhändlern« (Fehling 1925: 488), keine souveräne Entscheidung zu treffen, sondern hielt sich allenfalls an seine resignative Maxime: »Hoffen wir das Beste und seyen wir für das Schlimste gefaßt! Diß in der That darf in diesem Augenblick nicht blosser Wahlspruch für mich seyn, sondern Norm meines Handelns« (Kuhn 1977: I, 131). Es ist nicht verwunderlich, dass Kleist, der sich zeit seines Lebens wieder und wieder in einer Krise befand und sich damit abfinden musste, die »Einrichtung der Welt« in seiner Erzählung als »gebrechlich« darstellte (Kleist 92001: II, 15 u. 143), in der jede Krise zur Maßnahme und jede Maßnahme wiederum zur Krise führt – ein Teufelskreis, der Kleists literarische Welt prägt.

Insbesondere der Fall Kleist zeigt eines: So schwierig die Zeit und somit der Buchmarkt auch waren (vgl. Fischer 2014: 290), so wenig ließen sich die literarischen Praktiken beschränken. Dies lässt sich wohl auf ein fundamentales Bedürfnis des Menschen zurückführen, nämlich das Bedürfnis zum Erzählen. Man versucht die Situation durch die narrative Praktik zu begreifen, um zuerst einen Begriff und dann eine Orientierung und Konzeption zu bekommen. Ohne diesen ›Standpunkt‹ würde man sich nicht nur in der Verwirrung verlieren, sondern sich vielmehr in der Verwirrung auflösen. Den roten Faden in der Hand zu halten, ist also die Aufgabe und zugleich der Zweck der Geschichtsschreibung, und zwar der Geschichtsschreibung im doppelten Sinne.

Es geht zunächst um die Geschichtsschreibung im Sinne der Historie, die sachlichen Bericht mithilfe von (signifikanten) Zahlen und (prominenten) Namen erstattet und somit die historischen Geschehnisse zu rekonstruieren versucht. Aus diesem Versuch entsteht nicht nur eine Rekonstruktion, sondern zugleich auch die Legitimation einer Orientierung stiftenden Konzeption, einer programmierten Macht über die Verwirrung und der Macht per se. Diese Geschichte dient also vor allem demjenigen, der über die Macht verfügt. Aber alle anderen, die die historischen Geschehnisse erleben, miterleben oder überleben, werden hingegen dieser einen Geschichtsschreibung respektive der Macht unterworfen und geraten in Vergessenheit – wie namenlose Versatzstücke. Außerdem leiden Zahlen und Namen nicht, haben deshalb auch kein Mitleid. Zwar vermögen diese Daten etwas dem Anspruch dieser Geschichtsschreibung: »Zur Sache!« entsprechend darzustellen, dies ist jedoch nicht hinreichend, um eine Geschichte mit Blut und Fleisch zu schreiben. Für die leidenden anderen ist die Historie, die sich auf die objektive Zweckmäßigkeit richtet, keine befriedigende. Man muss in der Geschichte auch schreien, weinen, heulen, lachen, sich totlachen und weglachen können.

Man braucht also eine andere Geschichtsschreibung, die die historischen Geschehnisse auf intuitive Weise umgekehrt als Versatzstück benutzt, damit man in diesem Spiel der Macht auch eine autonome Rolle übernehmen kann/darf und nach der Ohnmacht wieder zu sich selbst findet. Es ist die aus der Historie ausdifferenzierte Historia, die die historischen Geschehnisse allein der subjektiven Zweckmäßigkeit gemäß behandelt und die Phantasie zulässt, um die Leerstellen zwischen den Zeilen und den Zahlen und den Namen mit Blut und Fleisch zu füllen. Nicht (nur), dass die Historia in Anlehnung an die Historie ihre Legitimation und notwendige Authentizität gewinnt, sondern (auch) dass die Historia der Historie Leben einhaucht: Sie beschwört die leidenden, vergessenen Seelen herauf und bietet eine andere, menschlichere Konzeption, die das Leiden und das Leben erkennt und anerkennt. Sie eröffnet einen utopischen Raum, einen Nicht-Ort an dem Ort, damit das menschliche Leben mehr ist als bloß ein Name und ein paar Zahlen auf dem Grabstein, nämlich eine Erzählung mit einem mit Leben bestückten Inhalt.

Indem diese Geschichtsschreibung nicht nur das Leben erzählt, sondern auch zugleich das Leben erzählend erschafft, ist sie im Wesentlichen eine Geschichtsschreibung a posteriori und zugleich eine a priori. Um uns der Worte Friedrich Schlegels zu bedienen: »Sie [die Transzendentalpoesie] beginnt als Satire mit der absoluten Verschiedenheit des Idealen und Realen, schwebt als Elegie in der Mitte, und endigt als Idylle mit der absoluten Identität beider« (Schlegel 1967: 204). Kraft ihrer Duplizität vermag sie, gegebene Phänomene aufzulösen und feste Gesetze aufzuheben. Sie enthält eine Transzendentalität, die die sinnlichen Phänomene dekonstruiert, und führt somit zur Kern-Struktur der Geschichte und führt die gegebene Geschichte bzw. die Gegebenheit zu ihrem Ur-Keim bzw. Urknall zurück. In diesem Augenblick eines erneuten Entstehens (Status Nascendi) kann/darf man etwas beliebig in die Geschichte geben. Aus dem heteronomen Geschöpf wird also ein autonomer Schöpfer. Ein literarisches Werk ist damit jeweils eine (Wieder-)Genesis, die die Geschichte erneut codiert.

Sofern ein literarisches Werk transzendental ist, vermag es die Krise zu überwinden. Denn ein Werk als solches besitzt die Kraft, mit der Krise zu spielen. Die gravierende Krise zeichnet sich dadurch aus, dass man, steckt man in ihr, keinen Ausweg finden kann und stets von ihr zerdrückt, gepresst und zermalmt wird – eine Sumpfsituation. Man wird zum Spielball der Krise. Indem man sich nun durch die Literatur über diese gravierende Krise erhebt und sich damit geistig außerhalb ihrer Gravitation befindet, ist man umgekehrt in der erhabenen Lage, mit ihr und dem leidenden Ich in ihr zu spielen. Dieses transzendentale Spiel ist also antigravitativ oder, wie Nietzsche es nennt, dionysisch: Es ist »ein Analogon zu der Empfindung, mit der der dionysisch erregte Zuschauer den Gott auf der Bühne heranschreiten sah, mit dessen Leiden er bereits eins geworden ist« (Nietzsche 1999: 64). Hierdurch wird die subjektive Zweckmäßigkeit gleichsam anerkannt und mit einer gleichsam allgemeinen Gültigkeit versehen. Hierdurch erhalten die Leiden Mitleid und man bleibt standhaft in der zerstörenden Krise. Es ist allerdings gleichgültig, ob es ein Lust-Spiel oder ein Trauer-Spiel ist, denn die Hauptsache ist, dass man in dem Spiel bzw. in dem Augenblick des Spiels seine Autonomie zurückgewinnt und sich von der Gegebenheit befreit. Eben dies ist es, was Novalis meint, wenn er schreibt: »Das Leben soll kein uns gegebener [!], sondern ein von uns gemachter Roman sein« (Novalis 1960ff: I, 563). Um es salopp zu sagen, er macht sich Luft – durch die Anti-Kraft der Literatur.

Literatur und Literaturwissenschaft

Der transzendentalen Literatur wohnt die Religiosität inne, weil es um das Transzendieren und die Erlösung geht. Und der Gott heißt nicht unbedingt Dionysus. In der spielerischen Anbetung der Poesie wird die Tagesordnung in das Chaos des Status Nascendi zurückversetzt und die alltägliche Logik wird entblößt und bleibt dahingestellt. Hieraus entsteht eine neue Ordnung, eine neue Mythologie wie ein neues Jerusalem, die zugleich eine Heimkehr bedeutet. Denn es sind »Staaten und Systeme, die künstlichsten Werke der Menschen, oft so künstlich, daß man die Weisheit des Schöpfers nicht genug darin bewundern kann« (Schlegel 1967: 370). Im Gegensatz dazu hat die neue Mythologie Vorzug: »Was sonst das Bewußtsein ewig flieht, ist hier dennoch sinnlich geistig zu schauen, und festgehalten, wie die Seele in dem umgebenden Leibe, durch den sie in unser Auge schimmert, zu unserm Ohre spricht« (Schlegel 1967: 318). Und dieser Prozess beschränkt sich in der Tat nicht nur auf die Romantik. Denn auch im Programm des Realismus steht z.B. die sogenannte »Verklärung« der Wirklichkeit (vgl. Plumpe 1996: 50–57). Obwohl sich das Programm der deutschen Romantik von dem des deutschen Realismus unterscheidet – ohne Frage –, lässt sich doch auch ein gemeinsamer Nenner finden: Eine abklärende Potenzierung der Welt. Somit eröffnet sich ein neuer Horizont, von dem her etwas Neues, etwas Ganzes scheint, das (noch) nicht von der venunftzentrischen Kultur kas­triert ist. Und dieses Neue, dieses Ganze ist doch das Ursprüngliche. Hierdurch ist die Natur von ihrer Impotenz genesen. Denn »Poesie ist«, so Novalis, »die große Kunst der Konstruktion der transzendentalen Gesundheit. Der Poet ist also der transzendentale Arzt« (Novalis 1960ff: I, 535). Wenn man die Potenz und die Potenzierung durch ihren etymologischen Sinn miteinander verbindet, so liegt hierin auch der Kern des Appells von Novalis: »Die Welt muß romantisiert werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder. Romantisieren ist nichts, als eine qualitative Potenzierung« (Novalis 1960ff.: I, 545). Die Literatur ist also ein Analogon zu dem Schamanismus im weiten Sinne oder dem Urchristen. Oder die transzendentale Literatur ist vielmehr schon eine neue Religion.

 

Friedrich Schlegel fasst die Religiosität der Literatur folgendermaßen zusammen: »Der dichtende Philosoph, der philosophierende Dichter ist ein Prophet. Das didaktische Gedicht sollte prophetisch sein, und hat auch Anlage, es zu werden« (Schlegel 1967: 207). Dementsprechend soll die Literaturwissenschaft die Rolle des gläubigen Apostels übernehmen, der die Idee der Literatur ausbreitet, als ob man auf den kategorischen Imperativ hörte: »Gehet hin in alle Welt und predigt das Evangelium aller Kreatur« (Markus 16:15). Dabei soll die Literaturwissenschaft kein naiver Gläubiger sein, weil die transzendentale Literatur auch keine naive Literatur ist, sondern sie soll den Schatz der Literatur auf tiefgründige Weise zutage fördern, so wie die Literatur die neue Mythologie »aus der tiefsten Tiefe des Geistes« (Schlegel 1967: 312) herausbildet. Also verhält sich die Literaturwissenschaft zu ihrem Gegenstand Literatur wie die Literatur zur gegebenen Geschichte.

Die Kombination der Literatur und der Wissenschaft könnte auf Schwierigkeiten stoßen, wenn die Wissenschaft die Literatur tot schreibt oder wenn die Literatur die Wissenschaft scheinbar degradiert. Auf diesen prekären Sachverhalt geht Roland Barthes ein. Er spricht weiterhin für die Literaturwissenschaft, indem er ihr ein höheres Ziel setzt: »Schreiben allein hat die Chance, die Unaufrichtigkeit aufzuheben, die jeder Sprache, die sich ihrer nicht bewußt ist, anhaftet« (Barthes 42015: 14). Die Literaturwissenschaft soll als sekundäre transzendentale Literatur dienen, die die primäre potenzierte Welt nochmals potenziert und somit eine Dimension der tiefen Struktur hervorhebt. Und die Potenzierung bedeutet manchmal auch eine Zerstörung, wie Barthes deutlich macht:

[D]as Schreiben will ein totaler Code mitsamt seinen eigenen Zerstörungskräften sein. Daraus folgt, daß nur das Schreiben das von der Wissenschaft aufgezwungene theologische Bild zertrümmern, den von der mißbräuchlichen »Wahrheit« der Inhalte und Argumentationen verbreiteten väterlichen Schrecken zurückweisen und der Forschung den vollständigen Raum der Sprache erschließen kann mitsamt seinen Subversionen der Logik, der Durchmischung seiner Codes, mit seinen Verlagerungen, seinen Dialogen, seinen Parodien (Barthes 42015: 15).

Ja, es gibt Trivialliteraturwissenschaft, wie es Trivialliteratur gibt, indem diese beiden sich bloß auf die sinnlichen Phänomene oder die buchmarktlichen bzw. akademischen Phänomene richten, ohne die Struktur zu berücksichtigen, und sich somit von der Wahrheit immer weiter entfernen, wie es Tzvetan Todorov in Hinsicht auf die literarischen Praktiken formuliert: »Wer Strukturen auf der Ebene der beobachtbaren Bilder sucht, schneidet sich eben damit von aller sicheren Erkenntnis ab« (Todorov 1972: 20). Die wahre Literaturwissenschaft soll dagegen als Apostelbrief dienen, der nicht nur die Wahrheit in den Fokus rückt, sondern sich ihr jeweils auf eigene Weise annähert oder zumindest anzunähern versucht.

Aufgrund ihrer Ähnlichkeit zur Literatur kann sich die Literaturwissenschaft in der Krise auch ihre graziöse Beweglichkeit gegen die Gravitation der Krise erhalten. Deshalb ist sie ebenso in der Lage, einen höheren, makroskopischen Standpunkt zu bieten, so wie die Literatur auf einem erhabenen Standpunkt steht. Es gibt allerdings einen Unterschied: Während die Literatur sich mit der subjektiven Zweckmäßigkeit begnügt und vergnügt, muss die Literaturwissenschaft nicht nur der subjektiven, sondern auch der objektiven Zweckmäßigkeit entsprechen, weil sie, wie die apollinische Kraft bei Nietzsche, angesichts ihrer vermittelnden Rolle ein Bild, einen Begriff, eine Lehre oder eine sympathische Erregung aus der scheinbar chaotischen Literatur liefern muss:

So entreisst uns das Apollinische der dionysischen Allgemeinheit und entzückt uns für die Individuen; an diese fesselt es unsre Mitleidserregung, durch diese befriedigt es den nach grossen und erhabenen Formen lechzenden Schönheitssinn; es führt an uns Lebensbilder vorbei und reizt uns zu gedankenhaftem Erfassen des in ihnen enthaltenen Lebenskernes. Mit der ungeheuren Wucht des Bildes, des Begriffs, der ethischen Lehre, der sympathischen Erregung reisst das Apollinische den Menschen aus seiner orgiastischen Selbstvernichtung empor und täuscht ihn über die Allgemeinheit des dionysischen Vorganges hinweg zu dem Wahne, dass er ein einzelnes Weltbild, z.B. Tristan und Isolde, sehe und es, durch die Musik, nur noch besser und innerlicher sehen solle (Nietzsche 1999: 137).

Die Literaturwissenschaft ist demnach eine progressive apollinische Wissenschaft, die in der chaotischen Literaturwelt eine belehrende Orientierung bietet, damit man sich auch diesseits, nämlich jenseits der Literatur, mit sich selbst als Individuum nicht nur abfinden, sondern vielmehr begnügen kann und auf das nächste dionysische Erlebnis wartet – eine Erbauung durch Ventilfunktion. So ersetzt die Literaturwissenschaft die ausweglose Dialektik im ewigen Kampf zwischen der subjektiven Zweckmäßigkeit der Phantasie und der objektiven Zweckmäßigkeit der Vernunft durch eine progressive Dialektik zwischen der Historie und der Historia resp. zwischen der Weltgeschichte und der Heilsgeschichte.

Literatur(-Wissenschaft) und Krise

Die Literaturwissenschaft gerät selbst in eine Krise, wenn sie es nicht vermag, mit der krisenhaften Welt umzugehen. Dies kann dann der Fall sein, wenn sie ihre Grazie der Seele (vis motrix) verliert. Das heißt, dass die Literaturwissenschaft über eigene Autonomie verfügen soll, die ihr selbst dient und ihr selbst eine antigravitative Beweglichkeit innerhalb der gravitativen Weltordnung gewährt. Anders gesagt: Sie muss frei sein – vor allem von Interessen. Sie ist ein ästhetischer Ausspruch, ein geistreicher Witz, ein »intellektuelles vermögen« (DWB, Bd. 30, Sp. 862), welches eben dem »wesen der dichtung« (Sp. 863) gleichkommt. Das ist die Voraussetzung für jene Literaturwissenschaft, die die Transzendentalität der Literatur mitbekommt. Daher entspricht sie nicht zuletzt dem Said’schen Postulat des Intellektuellen: »exile and marginal, as amateur, and as the author of a language that tries to speak the truth to power« (Said 1994: xvi).

Wenn man die Literaturwissenschaft zur Anwendung bringt, um einerseits Geld aus ihr zu generieren und um sie andererseits durch Geld zu retten, läuft man Gefahr, sie ihrer Autonomie zu berauben. Hierfür ist ein Zitat aus Kleists berühmtem Aufsatz aufschlussreich: »Sehen Sie den jungen F… an, wenn er, als Paris, unter den drei Göttinnen steht, und der Venus den Apfel überreicht; die Seele sitzt ihm gar (es ist ein Schrecken, es zu sehen) im Ellenbogen« (Kleist 92001: II, 342). Entscheidet sich die Literaturwissenschaft für ein äußeres Ziel, dann ent-zweit sie sich mit sich selbst, zerreißt sich und verliert ihren inneren Schwerpunkt. »Niemand kann zwei Herren dienen: Entweder er wird den einen hassen und den andern lieben, oder er wird an dem einen hängen und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon« (Matthäus 6:24). Möge Gott verhüten, dass die Literaturwissenschaft dem Geld zum Opfer fällt (sondern umgekehrt). Eine angewandte Literaturwissenschaft, die sich das Angewandt-Sein zum Ziel setzt, ist eine herumdilettierende Wissenschaft, die sich selbst zerstört. Was Kleist in Hinsicht auf die Naturwissenschaften sagt, gilt hier ebenfalls: »Ohne Wissenschaft zittern wir vor jeder Lufterscheinung, unser Leben ist jedem Raubtier ausgesetzt, eine Giftpflanze kann uns töten – und sobald wir in das Reich des Wissens treten, sobald wir unsre Kenntnisse anwenden, uns zu sichern u. zu schützen, gleich ist der erste Schritt zu dem Luxus und mit ihm zu allen Lastern der Sinnlichkeit getan« (Kleist 92001: II, 682). Unter dem Joch der ökonomischen Nutzbarkeit darf man keine transzendentale, kritische Literaturwissenschaft schreiben, die die Sinnlichkeit in Zweifel zieht, und man bedarf auch keiner. Denn es gibt schon genug utilitaristische Gesinnungen im Umgang mit Krisen, indem jede sich praktischerweise auf eine Lösung richtet. Es ist aber fast unwiderlegbar, dass diese diesseitigen Lösungen über kurz oder lang zu einer neuen Krise führen könnten.

Was soll die Literaturwissenschaft in der Krise leisten? Die Literatur bietet eine Zuflucht, in der sich wohl nichts auflöst, doch jeder sich erlöst. Sie bietet einen Witz, eine Anekdote, ein Fastnachtsspiel im größeren Sinne, ein Sanatorium im Zauberberg. Anders gesagt: Sie eröffnet einen Vakuumraum in der ausweglosen Realität, damit man sich erholen oder vielmehr rehabilitieren kann. Dementsprechend ist die Literaturwissenschaft ein Peter Pan, The Boy Who Wouldn’t Grow Up, der den Leser vom Alltag zum literarischen Neverland und zugleich durch Abenteuer zu sich selbst führt: »Wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen« (Matthäus 18:3). Aus der irdischen Perspektive seien wir Außenseiter, Sonderling, Zyniker oder weltfremde Spinner – seien es im ursprüng­lichen Sinne oder auch nicht – und auf das Peter-Pan-Syndrom könne auch hingewiesen sein. Aber gerade die Literaturwissenschaft, die so exzentrisch ist, dient der Welt als Instanz der Reflexion – vor allem für denjenigen, der seiner zentralistischen Überzeugung zuliebe keine Gefahr der Dissoziation verträgt und deshalb keinen Gegenstand zur Reflexion hat. So formuliert Bernhard Waldenfels in Hinsicht auf das platonische Höhlengleichnis: »Die Wende kommt nicht dadurch zustande, daß Sehende den Schauplatz wechseln, so daß sie Höheres, Geistiges zu sehen bekommen; sie besteht vielmehr darin, daß der Schauplatz selbst sich wandelt und Sehende sehend werden« (Waldenfels 2017: 85). Die Literaturwissenschaft kann auf den Wandel des Schauplatzes auswirken, indem sie dem Sehenden die Literatur als Schauspiel vermittelt, einen Gegenstand, sein verlorenes Ebenbild, obwohl das Ebenbild keineswegs auf naive Weise darzustellen ist. »Darum rede ich zu ihnen durch Gleichnisse. Denn mit sehenden Augen sehen sie nicht, und mit hörenden Ohren hören sie nicht; denn sie verstehen es nicht« (Matthäus 13:13). Der Satz wurde uns gegeben und wir geben ihn weiter. Literaturwissenschaftler*innen sollen sich als Adressaten des Briefes von Novalis an Julius verstehen: »Wenn irgend jemand zum Apostel in unserer Zeit sich schickt, und geboren ist, so bist du es. Du wirst der Paulus der neuen Religion seyn, die überall anbricht – einer der Erstlinge des neuen Zeitalters – des Religiösen« (Novalis 1960ff: III, 493).

Gegen die globalen Krisenzeiten vermag die Literaturwissenschaft wohl nicht unmittelbar zu wirken. Den globalen Krisenzeiten gegenüber kann sie allerdings einen universalen konstanten Standpunkt bieten, indem sie Phänomene durchleuchtet und bis zu deren Struktur gelangt. Die Idee, die nur mittelbar – z.B. durch Gleichnisse – zu erkennen ist, bringt sie mithilfe ihres transzendentalen ›Schau-Spiels‹ zur intellektuellen Anschauung und lässt ihren Leser bzw. Zuschauer selbst zur Erkenntnis kommen. Aus dieser literarischen Offenbarung kann ein ***-Mittel gegen die Krisen entstehen, das womöglich Anwendung findet. Was aber das *** ist, geht die Literaturwissenschaft bereits nichts mehr an. Dies klingt resignativ. Es ist allerdings eine progressiv-resignative Verfahrensweise. Denn jedes Sternchen ist wiederum ein Phänomen. Und trotzdem schimmert die Idee im Finstern unverändert, solange wir schreiben.