Czytaj książkę: «Leiblichkeit und Personalität»
Leiblichkeit
und
Personalität
Zum Gedenken an Anna Blume
Herausgegeben von Christoph Jamme
© 2013 unibuch Verlag bei zu Klampen!
Röse 21 · 31832 Springe
Umschlag, Satz: thielen verlagsbuero · Hannover
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014
ISBN 9783934900288
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.
Inhalt
Cover
Titel
Impressum
Vorwort
Trauerreden
Bernhard Blume
Angela Lehnert
Hermann Schmitz
Phänomenologische Beiträge zur Erinnerung an Anna Blume
Hermann Schmitz
Die Labilität der Person
Hilge Landweer
Konzentration, Aufmerksamkeit und Ernst als leibliche Phänomene
Kerstin Andermann
Geschlechtlichkeit als Situation
Erinnerungen der Wahlverwandtschaft
Andrea Moldzio
Ruth Dickhoven
Axel Heider
Ingrid Weber-Bemmann
Texte von Anna Blume
Chirurgische Ästhetik
Was bleibt von Gott ?
» Phänomen Cézanne «
Hermann Schmitz
Anna Blume senior
Schlussbemerkung
Über Anna Blume
Kurzbiographie
Schriftenverzeichnis
Fußnoten
Christoph Jamme
Vorwort
Die Philosophin Anna Blume, an die der vorliegende Band erinnern will, hat sich Zeit ihres (leider viel zu kurzen) Lebens mit einer Frage beschäftigt, die auch heute noch sowohl in der phänomenologischen Philosophie als auch in der Ästhetik von größter Relevanz ist: Es geht um »leib-relevante« Aspekte von Raum und Zeit in der zeitgenössischen Kunst. Drei Aspekte dieses Themas waren ihr hier wichtig. Einmal geht es um die phänomenologischen Ansätze der Bestimmung der Leiblichkeit – von Husserl über Merleau-Ponty bis hin zu Hermann Schmitz. Dann werden Raum und Zeit als wesentliche Konstituenten leibmenschlicher Orientierung diskutiert. Und schließlich sollte das in den ersten beiden Teilen theoretisch Erarbeitete an Interpretationen ausgewählter Werke der zeitgenössischen bildenden Kunst überprüft werden. Im Mittelpunkt stehen hier Franz Erhard Walther und Santiago Sierra. Diese drei Teile sollten das Kernstück ihrer geplanten Habilitationsschrift ausmachen, die dann aber leider unvollendet geblieben ist. Allerdings hat Anna Blume zu Lebzeiten noch einige Texte veröffentlichen können, die die Stoßrichtung ihrer geplanten Hauptarbeit zu verdeutlichen vermögen. Der vielleicht wichtigste Text ist ihr Aufsatz über das »Phänomen Cézanne«, der viele ihrer zentralen Themen bündelt und zugleich ein Teilabschnitt der geplanten Habilitationsschrift sein sollte (veröffentlicht wurde er 2008 in der Festschrift zum achtzigsten Geburtstag von Hermann Schmitz, wiederabgedruckt im vorliegenden Band). In diesem Aufsatz versucht sie – ausgehend von den Deutungen von Merleau-Ponty und Boehm sowie der Neuen Phänomenologie –, die Landschaftsbilder wie die berühmte Sainte-Victoire mit Hilfe phänomenologischer Begriffe wie »Primordialität« und »Situativität« in ihren Aspekten »Ganzheitlichkeit«, »Bedeutsamkeit« und »chaotische Mannigfaltigkeit« zu entschlüsseln. Es ist sehr innovativ, wie sie den Begriff der »Situation« von Schmitz her aufnimmt und für eine Interpretation der Bilder Cézannes fruchtbar zu machen sucht. Spannend war auch ihr Vortrag an der FH Detmold, wo es ihr darum ging, eine Theorie der Leib-Räumlichkeit zu entwickeln und für Architekturfragen fruchtbar zu machen. Auch hier zeigte sich wieder der Ursprung ihres Theorieansatzes, nämlich eine grundsätzlich »situativ« ansetzende Phänomenologie zu begründen. Wichtige Forschungsfragen berührt auch ihr gemeinsam mit Christoph Demmerling verfasster Beitrag »Gefühle als Atmosphären?«. Hier analysiert sie die gefühlstheoretischen Überlegungen der Neuen Phänomenologie von Hermann Schmitz und arbeitet erneut die Prädimensionalität des leiblichen Raums heraus. Auch die religiöse Dimension war ihr nicht fremd. In dem Text »Was bleibt von Gott? Ein schwarzes Quadrat?« versucht Anna Blume am Bildbeispiel des »Schwarzen Quadrats« von Kasimir Malewitsch, unter Zuhilfenahme diesbezüglicher Einsichten von Noemi Smolik und Jeannot Simmen, Bazon Brocks generelle Diagnose einer immanenten Religiosität im Projekt der »frühen Moderne« zu verifizieren. Im Weiteren deutet sie das Synagogenprojekt des spanischen Künstlers Santiago Sierra von 2006 und das seit 2002 bekannt gemachte Projekt »Venice Tube« des deutschen Künstlers Gregor Schneider als aktuelle Versuche einer provokanten künstlerischen Grenzüberschreitung und Auseinandersetzung mit der Gefühlssphäre des Religiösen.
Immer wieder werden in den hier präsentierten Texten ihre drei philosophischen Eckpfeiler deutlich: Raum, Zeit und Subjektivität. Ihre primäre Frage zielte zunächst auf Leiblichkeit, also zum Beispiel auf die Frage, ob und wie spezifisch unanschauliche Verspürungen (vergl. insbesondere den Leibbegriff von Hermann Schmitz) überhaupt Bild werden können. Es ging ihr immer um die Frage, wie Künstler auf ihre Weise eben über die Herstellung von Bildern die Phänomenalität von »Selbst« und »Welt« artikulieren.
Ergänzt werden die philosophischen Texte von Aufsätzen (wie dem von H. Schmitz) sowie von Erinnerungen der Familie und des Freundeskreises.
Trauerreden
Bernhard Johannes Blume
Rede für Anna Blume junior
Köln, 25. 6. 2008
Liebe Freunde und Mit-uns-Trauernde.
Wir, d. h. Annas engste Familie und auch ihre hamburgische, wie sie es nannte, »Wahlverwandtschaft«, wir danken Euch für Euer Kommen und Eure Absicht, sie nun gemeinsam mit uns zu ihrem Grab zu bringen. Als Schlusssatz ihrer detailliert geschriebenen bzw. diktierten »letztwilligen Verfügung« ca. drei Wochen vor ihrem Tod, steht da: »Begraben werden muss ich ja wohl. (Am besten Urne … ist aber nicht so wichtig …) Dann bitte in Köln. Bei meiner Oma. Vielleicht gibt es in Hamburg eine kleine Gedenkfeier. Mit Bier, Schnaps und Gesang an der Elbe … oder so … «
Ich habe keine Worte für einen endgültigen Abschied. Ich halte mich deshalb hier an einem vorbereiteten Zettel fest, da steht Anderes drauf. Versuch einer, natürlich inadäquat bleibenden, Würdigung dessen, was Anna Blume jun. dennoch zustande gebracht hat … Das versuche ich gleich.
Wir waren im Übrigen nicht allein mit ihr in den letzten Wochen ihres Lebens. Ihre Freundinnen, ihre »Wahlverwandten«, waren auch hier in Köln – einander ablösend, Tag und Nacht an ihrer Seite, selbst während der Klinikaufenthalte. In dieser Zeit hatten wir eine erweiterte Familie. Über ein halbes Jahr lang lebten wir zwischen Bangen, Hoffen und weggeschobener Gewissheit. Anna selbst machte sich aber sehr bald und eher keine Illusionen. Blieb in ihren Schmerzen und in der Gewissheit, bald zu sterben, freundlich, und nahezu fürsorglich gestimmt; machte sich eher Sorgen noch um uns und ihre Freundinnen, als um sich. In schmerzfreien Phasen mailte sie und telefonierte, schrieb oder diktierte Stücke eines Textes, redete direkt und indirekt vom Todsein, zitierte uns gelegentlich ein vielfach thematisiertes Paradox aus ihrem philosophischen Repertoire: die Unmöglichkeit, im eigenen Vorstellen, ein Nicht(-mehr)-Vorstellen vorzustellen … Ihr Unverfügbares jedenfalls trug sie, nachdem medizinisch objektiv war, dass man ihr nicht mehr helfen könne, mit Fassung.
Was nun kann einer sagen neben dem Sarg der Tochter, einer, der ja doch erwarten durfte, vor und nicht nach seinem Kind zu sterben. Vielleicht doch ein kurzes »abstract«, wie Anna jun. es genannt hätte. Kurze Verweise auf ihre Arbeit in ihrer letzten Zeit. Hieran nämlich hat sie uns in den vergangenen drei bis vier Jahren verstärkt teilnehmen lassen – durch Fragen an uns und durch philosophische Problemstellungen, in die reinzudenken sie uns vielfach aufforderte. Es gibt natürlich eine Reihe universitärer Kommunikatoren in ihrem Arbeitsnetz, Kolleginnen und Kollegen der Universitäten Hamburg, Potsdam und insbesondere Rostock und Lüneburg, die das aus angemessener Distanz besser tun könnten und vielleicht noch tun werden. Aus der von ihr so intensiv und souverän bearbeiteten philosophischen Sparte der »Neuen Phänomenologie«, in der sie – zu ihrer mehrfach sarkastisch geäußerten Genugtuung – inzwischen eher als Abweichlerin galt, kam (bisher) kein Zeichen, von Hermann Schmitz selbst gestern aber ein Brief.
Ein Weniges noch will ich komprimiert und hoffentlich verständlich sagen, denn uns bleibt, einschließlich einiger Minuten Musik, die ihre Mutter auswählte aus einigen, ihr von der Tochter zugeeigneten Platten, nunmehr wenig Zeit: Nach dem Studium der Politik, Jura und Philosophie schrieb Anna Blume eine philosophische Dissertation, die zwar nicht Johann Gottlieb Fichte galt, ihm aber einen wesentlichen Impuls verdankt und nicht zuletzt auch deshalb seiner Direktive folgte: »Was für eine Philosophie man wähle, hängt (sonach) davon ab, was man für ein Mensch ist. Denn ein philosoph. System ist nicht ein todter Hausrath, den man ablegen oder annehmen könnte, wie es uns beliebte, sondern es ist beseelt durch die Seele des Menschen, der es hat.« In der Spur dieser fichteanischen Direktive und seiner Entdeckung der Subjektivität fand Anna Blume jun. ihren Ansatz, Subjektivität weiterzudenken, über Kant, Fichte, Husserl, Sartre, und Merleau-Ponty hinaus in eine »Neue Phänomenologie«. Denn Fichtes Entdeckung, die beim Ich, das da schreibt, über endlos-reflexive Selbstzuschreibungen das Eigenste schon wieder verfehlt, um in dualistischer Selbstabspaltung allererst darüber zu verfügen, das war faszinierend, als Weg einer radikalen philosophischen Vergewisserung aber nicht mehr gangbar. Kein »todter Hausrath« dagegen ist das Vehikel der eigenen Leiblichkeit, wie diese sich, phänomenologisch aufzeigbar, aus chaotisch-mannigfaltigen Formen leibzuständlicher Gegenwärtigkeit entfaltet in eine je unverwechselbare, affektiv betroffen sich findende Personalität. Annas Dissertation von vor fast zehn Jahren, seinerzeit vom heute 80-jährigen Philosoph und Begründer der Neuen Phänomenologie Hermann Schmitz hochgelobt, was offenbar selten vorkommt, hat den Titel »Scham und Selbstbewusstsein«. Im Untertitel steht: »Zur Phänomenologie konkreter Subjektivität«. Der Verlag Karl Alber hatte sie seitdem fest auf seiner philosophischen Autorenliste. Anna jun. gab für die »Gesellschaft für Neue Phänomenologie« im gleichen Verlag noch zwei Textsammlungen heraus mit je einer umfänglichen Einleitung und einem je eigenen Beitrag. 2005 war das: »Zur Phänomenologie der ästhetischen Erfahrung« und 2007 die Herausgabe der Textsammlung zum Thema eines Symposiums zur Frage: »Was bleibt von Gott? Beiträge zur Phänomenologie des Heiligen und der Religion«. Es bleibt von ihr eine Reihe von Aufsätzen in verschiedenen wissenschaftlichen Zeitschriften, allein oder gemeinsam mit anderen Autoren verfasst. Es bleibt des Weiteren ein von der GNP offenbar bisher nicht so recht wahrgenommener kompakter Lexikonbeitrag für ein englischsprachiges phänomenologisch orientiertes Lexikon mit Annas Einlassung zu einer Phänomenologie der Ästhetik bei Hermann Schmitz … nicht ohne den kritischen Hinweis, dass – zeitgleich und z. T. früher in der Bildkunst der Moderne des 20. Jh. bis hinein in die Kunst der Gegenwart – Phänomene und Phänomenfelder thematisch waren und sind, die in ihrer methodisch artikulierten, bearbeiteten und hierüber bildhaft gemachten Präsenz ein der Phänomenologie historisch vorlaufendes Problembewusstsein entwickelten, das von der »Neuen Phänomenologie« nicht nur nicht gesehen, sondern bisher entschieden ignoriert wurde. Das sollte Thema und Aufarbeitung ihrer Habilitation sein. Denn bisher kommt Bild-Kunst der Gegenwart, als dem objektivierenden Seh-Sinn »verfallen«, neuphänomenologisch nicht vor, und wenn doch und überhaupt, dann nur im kunsthistorischen Rückblick und abgesicherten Zitat. Anna jun. aber wollte Ernst machen auch in ästhetischer Theorie mit jenem Aufgabenfeld aus einem »Hier, Jetzt, Dasein, Dieses, Ich.«
Wir zitierten Ernst Mach in der Ihnen zugesandten Todesanzeige: Das ist eine Grunderfahrung, aus der Ernst Mach und seine neurophysiologischen Hinterherdenker noch bis heute den falschen Schluss zogen und ziehen. Anders die bildenden Künstler, mit ihren auf Bild-Flächen bearbeiteten Betroffenheiten. Mit dieser Erfahrung, sozusagen in phänomenologisch geläuterter Distanz kehrte Anna jun. noch einmal zurück ins »Atelier«. Wir hatten die Freude, nach langen Jahren freundlicher Distanz gegenüber den Aktualitäten im Kunstbetrieb zusammen mit ihr und in Perspektive ihres phänomenologisch interessierten Blicks erneut durch Ausstellungen zu wandern. Wir hatten die Freude und Genugtuung, nun mit ihr über künstlerische Projekte und ästhetische Probleme zu diskutieren, was über die Zeit ihrer intellektuellen Verselbständigung nicht möglich war. Nun also gab es auf ihrer Seite noch eine »phäno-philosophische« Motivation.
Ein Habilitationsstipendium der Universitäten Lüneburg und Macerata in Italien ermöglichte ihr einen Ausstieg aus diversen Nebenjobs … und ihre Philosophiestudentinnen und -studenten in Lüneburg, Hamburg und in Potsdam konnten sich sehr bald von ihr phänomenologisch einweisen lassen in jene, besonders anschaulich bei Künstlern und anderen Randgängern zu diagnostizierenden Betroffenheiten und ihre Strategien, sie auf ästhetische Distanz zu bringen. Eine noch längst nicht ausdifferenzierte Arbeit über das »Phänomen Cézanne« ist vor-abgedruckt in der Festschrift zum 80. Geburtstag von Hermann Schmitz, worüber sie sich noch freute. Ergänzungen hierzu und Vorarbeiten für zwei nächste Projekte auf ihrer virtuellen Liste phänomenologischer Exkurse in die Malerei finden sich auf vielen Notizzetteln und als Randbemerkungen in ihren Büchern.
Acht Wochen durften wir die schon sehr kranke und aller Hoffnung auf Gesundung beraubte junge Philosophin hier in Köln, in der Umgebung ihrer Kindheit noch pflegen, betreuen und dabei ihre Gefasstheit und zeitweilige Gelassenheit erleben und bewundern. Es gab kein Lamento und kein Selbstmitleid. Wir alle hatten oft das Gefühl, dass sie ihrerseits auch uns »betreute« und tröstete. Die von uns in der Anzeige zitierte sogenannte (Ernst-)Mach-Erfahrung, auf die sie uns kurz vorm Tod noch einmal hinwies, möchte ich hier zum Schluss noch einmal zitieren: »An einem heiteren Sommertag im Freien erschien mir mit einmal die Welt samt meinem Ich als eine zusammenhängende Masse von Empfindungen, nur im Ich stärker zusammenhängend. Obgleich die eigentliche Reflexion sich erst später hinzugesellte, so ist doch dieser Moment für meine ganze Anschauung bestimmend geworden … « (Ernst Mach, »Analyse der Empfindungen«).
Dieser Moment, so weiß ich, ist für eine philosophische Rekonstruktion solcher Erfahrungen sowohl in der Kunst als auch im wirklichen Leben für die von uns gegangene junge Philosophin bestimmend geworden.
Angela Lehnert
Trauerrede für Anna Blume
Köln, am 25. 6. 2008
Liebe Anna-Mutter, lieber Bernd, liebe Freunde,
wir nehmen heute Abschied von Anna Blume.
Von Anna als Tochter und Schwester, von Anna als Freundin und Geliebte, von Anna, dem besonderen, einzigartigen Wesen mit seinen so besonderen Wesensmerkmalen. Es ist ein schrecklicher Abschied für uns, die wir sie so über alles geliebt haben.
Ich möchte einen Blick werfen auf Annas Denken, das so viel ihres Fühlens enthält. Die großen Themen ihres philosophischen Denkens sind die Leiblichkeit, das Erkenntnisvermögen, der Tod. Die sogenannte »Neue Phänomenologie« des Philosophen Hermann Schmitz, der sich Anna mit ihrer Dissertation genähert hat, bietet ungewöhnliche und in unserer Zeit des Psychologismus unerwartete Antworten auf diese alten und ewig neuen philosophischen Fragen. Schmitz definiert den von ihm so genannten »Leib« als Gesamtheit aller spürbaren Phänomene – in Abgrenzung zu unserem Begriff des Körpers oder auch der Psyche. Der Leib ist die Summe unseres leiblichen und seelischen Fühlens. Nach Schmitz folgt dieser Leib zwei Grundtendenzen: der »Engung« und der »Weitung«.
Engung und Weitung – diese beiden Grundtendenzen sind in vielerlei Hinsicht charakteristisch für Annas Fühlen und Denken. Engung – wie oft hat sie sie erfahren in ihren zahlreichen ausgeprägten Ängsten – Existenzängsten zu ihrem eigenen Fortkommen, Ängsten vor dem Alleinsein und Verlassenwerden, Ängsten vor dem Tod. Wir alle, die mit ihr gelebt haben, wissen von zahlreichen Situationen, wo wir ihre Ängste lindern, trösten und philosophisch widerlegen mussten, um ihr Herz zu beruhigen. Doch auch Weitung, die einheitsauflösende, in die Weite und ins Chaos tendierende Grundbestrebung des leiblichen Fühlens, bildet eine Grundkoordinate in Annas Leben und Fühlen. Sie ging auf in dem was sie tat, und sie liebte alles, was den Blick weitet. Sie liebte den Wind auf der Haut, sie liebte ihr schnelles Fahrrad, und sie liebte es, sich im Licht zu bewegen. Anna liebte auch von ganzem Herzen, und sie liebte oft so sehr, dass sie Gefahr lief, sich selbst zu verlieren. Bei Hermann Schmitz heißt es, die Einheit des Leibes sei für den Menschen nur zu erreichen durch eine »grausame« Unterdrückung der Tendenz zur Weitung. Diese Einheit zu erreichen, mit sich selbst eins und ruhig zu sein, das war eines der großen Themen von Anna. Betrachten wir etwa die von ihr so geliebte Musik von Johann Sebastian Bach, finden wir hier eine maximale Disziplin auseinanderstrebender und sich wiedervereinigender Stimmen, gebannt von der Hand des Kompositeurs, der die Stimmen zur Harmonie zu führen weiß. Dies hat Anna bewundert, weil sie es selbst suchte in ihrem Leben. Die sakrale Musik, auch die von Pergolesi, liebte sie freilich auch aufgrund des Trostversprechens, das diese enthält. Der spirituelle jenseitige Trost, den die christlichen Religionen versprechen, war Anna in dieser Musik zugänglich.
Betrachtet man Annas Leben, finden sich viele Motive, die mit ihren Denkinhalten korrespondieren. So war Anna Künstlerkind, aufgewachsen in einer umgebauten Fabrik in Köln-Ehrenfeld, die die Eltern als Atelier nutzen und in einer Nachbarschaft von Arbeiterkindern, gegen die sie sich schon früh behaupten musste. Sie lernte zeichnen und, wie sie es oft nannte, »sehen«. Andere, Nicht-Kunstbeeinflusste, könnten »nicht richtig gucken«, sagte sie oft. Anna konnte es und beeindruckte uns mit perfektem Retuschieren der elterlichen Fotos und mit akkuraten Zeichnungen auf kleinsten Papierfetzen. Anna, das Künstlerkind, hat sich im engen Austausch mit ihren kunstschaffenden Eltern und deren Kritikern auch der Kunstphilosophie zugewandt und unter anderem Kunststudenten in Hamburg die Philosophie näher gebracht. Dieser Brückenschlag war auch Rückbezug zu dem sie stark prägenden künstlerischen Elternhaus.
Des Weiteren: Anna war Zwillingskind. Sie lebte von ihrem ersten Lebensmoment an das »wir«. »Wir haben Geburtstag« pflegte sie am Morgen des 15. September zu sagen, nur eine von ihren vielen selbstverständlichen Arten, stets die Zweiheit als Einheit zu denken. Ihre Suche nach Einheit in allen Beziehungen ihres Lebens, und auch besonders ihren Liebesbeziehungen, spiegelt u. a. ihre frühe Erfahrung der Einheit mit ihrer Zwillingsschwester wider.
Und: Anna war unter Vermeidung geschlechtsspezifischer Erziehung aufgewachsen, sie war quasi »feministisch« erzogen, als Ergebnis des Bewusstseins ihrer vom Denken der 68er geprägten Eltern. Die Geschlechterrollen blieben so zwar immer ein Thema für sie, jedoch aus dem Blickwinkel derer, die über diese Fragen bereits hinaus sind. Die feministische Philosophie hinterließ demnach nur flüchtige Spuren in ihrem Denken, und ihr Leben war von einer selbstverständlichen Aneignung einer unabhängig von Geschlecht definierten Mensch-Auffassung. Es zog sie zu denen, die ihre Geschlechtsrolle authentisch und unverstellt zu leben wussten; an Frauen liebte sie besonders das echt Weibliche, Volle, Feminine; Männer respektierte sie als Gleichgesinnte. Und natürlich hatte sie immer größte Freude an Männersportarten wie Fußball oder an ein paar Kölsch.
Anna wählte Hamburg mit seinem maritimen Flair, der Elbe und dem Hafen als Wahlheimat. Hier hat sie gearbeitet, sehr viel und immerzu gearbeitet, sich mit unermüdlichem Fleiß ihren philosophischen Studien, ihrer Magisterarbeit, ihrer Dissertation und schließlich ihrer Habilitation sowie Buchprojekten und Vorträgen gewidmet. Lehraufträge an der Universität Lüneburg ermöglichten es ihr, die Neue Phänomenologie und andere philosophische Fragestellungen mit ihren Studenten zu teilen. Sie ruhte nie – immerzu waren Computer, Handy und die neuen Welten des Internet präsent, in denen sie sich vielgestaltig zu bewegen wusste.
In Hamburg ist Anna über die Jahre eine Wahlfamilie gewachsen – Menschen, mit denen sie ihre Ziele und Träume geteilt hat, mit denen sie studiert, gearbeitet, gewohnt hat. Ihre Wahlfamilie hat ihr in allen Schattierungen Liebe entgegengebracht und wurde von ihr selbst begeistert und hingebungsvoll geliebt. Familienwerte und Pflichten galten ihr ebenso wie in einer biologischen Familie. Anna hat immer alles, was sie hatte, geteilt. »Wir sind doch eine Familie«, sagte sie immer, wenn es Schwierigkeiten, Nöte oder Streit gab. Dass jede alles, was sie hatte, in die Familie einbrachte, ist ihr und damit auch uns immer selbstverständlich gewesen. Das galt natürlich und erst recht auch in den Zeiten ihrer Krankheit und des Sterbens, die uns alle, vor allem aber Birgit Bossert, Ewgenia Tsanana und Sabine Fuchs vor große Herausforderungen an seelische und körperliche Kräfte gestellt hat.
Ebenso liebte Anna aber ihre Heimat Köln und war ihrer Geburtsfamilie, die sie ihr ganzes Leben materiell und immateriell unterstützt hat, tief verbunden. Von hier bezog sie immer wieder geistige Impulse, Kritik, Diskussion, Unterstützung. Hierher zog sie sich zurück, wenn es ernstere Schwierigkeiten gab, hier traf sie ihre über alles geliebte »Omma«. Annas Familie, Anna und Bernd und ihre Schwester Hedwig, haben sie in den letzten Wochen ihres Lebens aufopfernd gepflegt und ihr Heimkommen in einer unvergleichlichen Art begleitet.
Annas letzter Wunsch ist es, dass ihre Wahlfamilie noch stärker als bisher mit ihrer Geburtsfamilie zusammenwächst. Dies zeigt uns wieder Annas immerwährendes Streben nach Einheit und Harmonie, das Streben nach Versöhnung ihrer Gegenwart mit ihrer Vergangenheit und ihres Lebensortes mit ihrem Abstammungsort.
»Reflexives Selbstwissen und Todeswissen sind eins, gewissermaßen gleichursprünglich«, schreibt Anna in ihrer Dissertation. So war ihr das eigene Ende immer Thema und zutiefst bewusst. Dennoch traf sie ihre schwere Krankheit und die Gewissheit des eigenen Todes mit voller Härte und nahm ihr zeitweilig alle Hoffnung. Sie wollte so viel, sie wollte leben. Ihr philosophisches Werk will fortgeführt werden, sie ist zur Professorin berufen worden. Sie hat in der Liebe endlich eine Heimat gefunden und will mit der neuen Liebe ab jetzt gemeinsam das Leben gestalten. Dass all dies nicht mehr möglich sein würde, war für Anna schlimmer als die Tatsache ihrer grausamen Schmerzen, die sie mit Pragmatismus und Disziplin ertragen hat.
Wie Anna ihr Schicksal angenommen hat, wie bodenständig und bis zum letzten Moment konstruktiv sie ihre, wie sie wusste, tödliche Krankheit betrachtet hat, hat uns erneut gezeigt, von welch geistiger Kraft und Disziplin sie war. Hier stehen wir vor der Größe ihres Geistes und der Stärke ihres Willens, die ihr bis zum Schluss eigen war. Wenn es so ist, dass jeder Mensch nicht nur ein ihm eigenes typisches Geborenwerden und Leben, sondern auch einen eigenen spezifischen Tod hat, so haben wir aus Annas Tod gelernt, was wir schon wussten, dass sie ein bewunderungswürdiger Mensch von großen Gaben war.
Lassen wir zum Schluss sie selbst sprechen. Mit Schmitz argumentiert sie, dass wir leiblich immer schon über uns selbst hinausreichen, was die Tatsache relativiert, dass der Körper sterblich ist. »Der Leib bildet die unhintergehbare Perspektive meiner selbst im Ganzen und in all seinen Teilen, jetzt und möglicherweise immerdar, über den körperlichen Tod und das Ende der Zeitlichkeit hinaus«, schreibt sie. So lebt ihr Fühlen und Denken in uns allen weiter, wird uns immerdar begleiten, aufwühlen und trösten. Wir werden nie ohne Anna sein.
Anna sei damit auch recht gegeben, wenn sie bemerkt: »Nur für die anderen ist das Faktum meines Todes erfahrbar. Mich selbst geht es nichts an.«