Kulturelle Nachhaltigkeit lernen und lehren

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6. Stoffgeschichten als narrative Annäherungen an globale Handlungspraktiken

Stoffgeschichten sind narrative Zugänge zu unterschiedlichsten Rohstoffen, Elementen oder Produkten. Sie beleuchten deren Lebenszyklen, von der Gewinnung oder Herstellung über die Verwendung hin zu ihrer Entsorgung oder ihrem Verschleiß. Oft werden dabei Rohstoffe wie Palmöl, Soja, oder seltene Erden in den Blick genommen, deren Verwendung oder Produktion im Kontext nachhaltiger Entwicklung als problematisch einzustufen sind (vgl. Anselm, Hoiß & Köppel 2021). Zugleich kann im Kontext des Anthropozäns festgehalten werden, dass angesichts der globalisierten und interdependenten Wirtschaftswege ganz generell der menschliche Umgang mit Stoffen problematisch geworden ist (vgl. Soentgen & Völzke 2005, 22). Ursprünglich wurden die Stoffgeschichten für die universitäre Lehre im Bereich der Umweltwissenschaften entwickelt, finden aber auch im Wissensmanagement ihre Anwendung (vgl. Schmidt 2009, 128).6 Aus didaktischer Sicht betrachtet ist ihre Vielseitigkeit interessant. Denn Stoffgeschichten finden sich beispielsweise in literarischen oder journalistischen Texten, können als didaktische Texte für Lehr-Lernkontexte entwickelt oder in kreativen Schreibprozessen mit Lernenden gemeinsam gestaltet werden. Ihr Einsatzgebiet ist keineswegs nur auf den Literaturunterricht beschränkt, sie sind fachintegrativ universal einsetzbar und oft dienen die Stoffgeschichten mehr als Gesprächsanlass für die Reflexion des gegenwärtigen Verhältnisses zwischen Mensch, Natur und Umwelt. Sie sind damit Teil eines weiteren Verständnisses von literarischem Lernen, das

im Kern ein Sammelbegriff für alle Beiträge literarischen Lesens und Textverstehens zur Persönlichkeitsbildung [ist], für die Katalysatorfunktion von Literatur im Rahmen der Selbstverständigung von Gemeinschaften über ihre Interessen, Erfahrungen und Werte und schließlich für die kulturstiftende und -bewahrende Funktion literarischer Kommunikation in allen Medien, derer sie sich bedient. (Abraham 2015, 7)

Der didaktische Einsatz ist also nicht an den Deutschunterricht gebunden, im Gegenteil: Gemäß dem Prinzip des fächerübergreifenden Unterrichts kann ein literarischer Text als Impulsgeber in unterschiedlichen Fachkontexten von Geografie, Fremdsprachen, Geschichte, Wirtschaft, Politik, Ethik oder Religion dienen. Auch für die MINT-Fächer bieten Stoffgeschichten Potenziale, da sie einen grundlegend anderen Zugang zur Welt darstellen. In Erzählungen sind Perspektiven sichtbar, die möglicherweise in Sachtexten, Statistiken oder Berechnungen verborgen bleiben; sie werden so zu einem wesentlichen Bestandteil der Beachtung der in Lehrplänen und Bildungsstandards geforderten „Bewertungskompetenz“ auch in naturwissenschaftlichen Fächern. Insofern stellen Stoffgeschichten eine interdisziplinäre Bereicherung für eine Vielzahl von Fächern dar (vgl. Anselm, Hoiß & Köppel 2021) und verfolgen das Ziel, Lernenden fachtheoretisches Grundlagenwissen über die Produktion und den Konsum zu vermitteln. Auf diese Weise lässt sich begreifen, welche Bedeutung die Materialwege für Umwelt bzw. Endverbraucher*innen haben. Dadurch sind die Problemlagen zu erkennen, die durch Produktion, Konsum und Entsorgung vieler konfliktbehafteter und kontrovers diskutierter Rohstoffe entstehen. Zu denken ist etwa an die Funktionsmaterialien Titandioxid und Silikon (vgl. Lubberger 2017). Die Schüler*innen übernehmen Perspektiven Betroffener, erkennen eigene Privilegien und reflektieren mögliche negative Auswirkungen eigener Konsumentscheidungen. Daraus werden letztendlich Konsequenzen für das eigene verantwortungsvolle Handeln im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung abgeleitet. Der Zugang kann sowohl rezeptiv als auch produktiv durch das Schreiben eigener Stoffgeschichten – im Sinne epistemischen Schreibens – erfolgen. Neben dieser individuellen ist auch eine kollektive Dimension erkennbar: Da Moral keine Meinung ist, die beliebig und frei wählbar und veränderbar ist, sollte auch die Frage einer moralischen Verpflichtung zu kollektiver Handlungs(un)fähigkeit im Unterricht diskutiert werden (vgl. Lippold 2020).

Im pädagogischen Kontext leisten Stoffgeschichten damit einen wertvollen Beitrag zur verantwortungsvollen Gestaltung der Zukunft. Sie sind ein hilfreiches Instrumentarium, um Komplexität zu reduzieren und Stoffe handhabbar zu machen. Zugleich geht es neben der Wissensvermittlung auch darum auszuloten, wie in aller Komplexität mit den Folgen des ökologischen, technischen und sozialen Wandels umzugehen ist und wie ein Bewusstsein dafür geschaffen werden kann, dass die individuellen (Konsum-)Praktiken in ein global gespanntes Stoffsystem verflochten sind. Stoffgeschichten können ohne eine moralisierende Instanz eine Sprache der Vermittlung erschaffen, um etwa ein nachhaltiges Konsumbewusstsein zu erzeugen.

Narratologisch interessant ist die Fokalisierung und Perspektivierung hin zum Materiellen (vgl. Schmidt 2009, 123–128). Anders als konventionelle Erzählungen, die mit vereinzelten Ausnahmen in der Regel aus menschlicher, zum Teil auch tierischer Perspektive erzählt werden, handelt es sich bei Stoffgeschichten um die erzählerische Annäherung an einen bestimmten Stoff. Dabei ist es unerheblich, ob es um ein chemisches Element wie Sauerstoff, einen natürlichen Rohstoff wie Holz, einen synthetischen Stoff wie Plastik oder komplexe Produkte wie Smartphones geht. Die Handlung ist auf den Stoff fokussiert, die Leser*innen begeben sich mit ihm auf dessen Lebensreise, begegnen dem Stoff also in der Regel nicht in einem ihnen geläufigen Umfeld. Durch diese Perspektivierung wird erkannt, dass kein Stoff singulär für sich steht, sondern in ein Geflecht von anderen Stoffen eingebunden ist (vgl. ebd., 130) und immer wieder die Bahnen der Menschen kreuzt, ihnen folgt oder durch sie verändert oder vernichtet wird.

7. Gewissensbisse: Erzählerische Zugänge zum Ressourcenverbrauch von Avocados, Mangos und Melonen

Stoffgeschichten bieten Zugänge aus einer ungewohnten Perspektive und erhellen Aspekte, die sonst verborgen bleiben. Angesichts der globalen Herausforderungen im 21. Jahrhundert kann so ohne Moralisierungen mit Blick auf den menschlichen Umgang mit den Ressourcen der Erde eine Sprache der Vermittlung entstehen, die nachhaltiges Konsumbewusstsein und ein Verständnis für komplexe Zusammenhänge erzeugt. Dies lässt sich am Beispiel unterschiedlicher Fruchtkonsumgüter verdeutlichen: Beispielsweise hat die Avocado als Konsumgut im letzten Jahrzehnt in Deutschland einen wahren Boom erlebt. Nicht nur für Veganer*innen gilt sie als Superfood, da sie trotz ihres hohen Fettgehalts gesund ist und aufgrund dessen von vielen als Ersatz für tierische Produkte wie Butter oder Eier genutzt wird (vgl. auch zum Folgenden Anselm, Hoiß & Köppel 2021). Gleichwohl wird der Genuss von einem – im übertragenen Sinne – bitteren Beigeschmack begleitet, auf den in einer Bildreihe der Süddeutschen Zeitung mit dem Titel „Dieses Gemüse ist gemein“ (Glotzmann 2019) verwiesen wurde. Denn die Avocadoproduktion in Mittel- und Südamerika trägt enorm zu sozialen Spannungen und ökologischen Schäden bei: Für die Produktionsflächen werden oft illegal Wälder abgeholzt, der starke Import setzt lokale Kleinbäuer*innen unter Druck und der wasserintensive Anbau von Avocados führt in den Anbauregionen zu Wassermangel für die einheimischen Gemeinden. Dazu kommen die CO2-Emissionen für den Transport der Früchte nach Europa. Allerdings gilt es dies sogleich zu relativieren, denn 100g Avocado (pro Frucht etwa 0,05kg) verursachen weniger CO2-Emissionen als 100g Ei (pro Stück etwa 0,2kg) (vgl. Winterer 2021). Die ethische Bewertung des Avocado-Konsums ist also durchaus komplexer, als man meinen möchte. Erschwert wird die Bewertung zusätzlich dadurch, dass Avocados in unterschiedlichen Ländern der Erde angebaut werden, sodass nicht alle oben genannten Aspekte, die in Chile oder Mexiko gelten, auch auf den Anbau in Spanien zutreffen. Diese teils kontroversen Informationen gilt es mit Blick auf den eigenen Konsum zu reflektieren (vgl. Winterer 2021, o.S.), um sie entsprechend in die eigenen Konsum- und Handlungsentscheidungen einfließen lassen zu können.

Zur Reflexion dieser komplexen Zusammenhänge kann die Grafik von Stefan Dimitrov (Abb. 1) anregen.


Abbildung 1: SZ-Grafik von Stefan Dimitrov, aus: „Dieses Gemüse ist gemein“, SZ.de vom 09.06.2019, ©Süddeutsche Zeitung GmbH, München. Mit freundlicher Genehmigung von Süddeutsche Zeitung Content (www.sz-content.de).

Das Bild kann gedeutet werden als eine Avocado, deren Kern eine Weltkugel ist. Zu sehen sind Wasseradern, die sich in die Avocado hineinverästeln und möglicherweise auf den hohen Wasserbedarf der Pflanze verweisen. Die Komposition des Bildes ist erklärungsbedürftig, was didaktische Möglichkeiten eröffnet, etwa als Impuls für eine gemeinsame Sinnerschließung des Rätselbildes. Nach und nach offenbart sich, dass diesem Bild eine Stoffgeschichte eingeschrieben ist, die sich im weiteren Unterrichtsverlauf aufschlüsseln lässt.

Auf den gleichen bzw. einen ähnlichen Zusammenhang verweisen auch Abbildung 2 und 3:


Abbildung 2: Cover des prämierten Greenpeace Magazins (Heft 4.19/Enver Hirsch). Abrufbar unter: https://www.cover-des-monats.de/cover-des-monats-juni-2019-gomagazin-punktet-mitder-henne-ei-frage (letzter Abruf am 10.04.2021). Mit freundlicher Genehmigung des Greenpeace Magazins.

 

Das Cover des Greenpeace Magazins mit dem Titel Gewissensbisse spielt auf die ethischen Implikationen globaler Produktions- und Lieferketten am Beispiel der Avocado an. Hier können Lernende ebenfalls über einen gemeinsamen Prozess der Sinnerschließung den stoffgeschichtlichen Gehalt des Bildes herausarbeiten: Der Biss in die halbierte Avocado samt Schale dürfte dabei – ohne die Nennung des Titels – anfänglich für Irritation sorgen. Im Unterrichtsgespräch sollte darum besonders auf die Kombination mit der Überschrift hingewiesen werden, denn erst durch die sprachliche Verknüpfung des sichtbaren Bisses in der Avocado mit dem per se nicht sichtbaren Gewissen entfaltet sich die ethische Problematik. Beim Abgleich mit Abbildung 1 könnten im Anschluss auch gestalterische Unterschiede und Schwerpunkte herausgearbeitet werden. In Abbildung 2, so suggeriert das Bild, liegt die Verantwortung wohl eher bei der konsumierenden Person, die den Biss beim Verzehr der Avocado tätigt und so als einzige Instanz entlang der Stoffgeschichte sichtbar ist. Diese Prozesse können darüber hinaus auch um weitere Obst- und Gemüsesorten ergänzt werden. Dadurch entsteht ein ganzheitlicheres Bild. Auch die Grafik des fluter-Artikels Avocadogate (Frisse 2016) enthält eine mahnende, wenn nicht sogar abschreckende Botschaft für die Leser*innen.


Abbildung 3: Avocadogate – Grafik aus einem Online-Artikel des Magazins fluter (Titelbild: David Dörrast) abrufbar unter: https://www.fluter.de/avocados-aus-mexiko-abholzung-kiefernwaelder (letzter Abruf am 10.04.2021).

Der in die Avocado hineingeschnitzte Totenkopf symbolisiert die Umweltschäden in Ländern wie Mexiko, die mit dem Avocado-Anbau einhergehen. Zudem wird im Artikel auf die Teilhabe mexikanischer Drogenkartelle verwiesen, die finanziell am Dünger- und Pestizideinsatz beteiligt seien und zusätzlich am Avocado-Export verdienten (vgl. ebd.). Auch darauf dürfte der Totenkopf anspielen.

Die „Flugmangos“ (Abb. 4) verlagern die konsumethischen Fragen am Beispiel der Mangos speziell auf Überlegungen zum hohen Emissionsausstoß und Energieverbrauch beim globalen Transport.


Abbildung 4: Flugmangos. SZ- Grafik von Stefan Dimitrov, aus: „Dieses Gemüse ist gemein“, SZ.de vom 09.06.2019, ©Süddeutsche Zeitung GmbH, München. Mit freundlicher Genehmigung von Süddeutsche Zeitung Content (www.sz-content.de).

Die Auseinandersetzung mit Stoffgeschichten wie diesen kann im Deutschunterricht auch durch die Beschäftigung mit lyrischen Texten fortgesetzt werden. So lässt sich beispielsweise das Gedicht „Saftige Fehler“ von Yoko Tawada auch als Stoffgeschichte lesen.7 Wie bei den Gewissensbissen fordert bereits die mehrdeutige Überschrift „Saftige Fehler“ zum Nachdenken auf: Zum einen geht es um die im Saft der Melone enthaltenen Herausforderungen und zum anderen auf die verborgenen ethisch-moralischen Probleme bei der Risikoabwägung, der Verteilungsgerechtigkeit oder dem Konsumverhalten der (wohlhabenden) Menschen. Das Gedicht changiert in der Bedeutung der Melone: Einerseits ruft es Assoziationen einer realen Melone hervor, die man vor dem Konsum „halbiert“, die ein „rosa Fleisch“ hat und „saftig“ ist, durch zunehmende Züchtung teilweise sogar „kernlos“ wurde und unter künstlichen Bedingungen das ganze Jahr im „Polyesterklima“ produziert – „Die Züchtung braucht keine Sonne“ – und auch konsumiert wird.

Saftige Fehler

Wer hat die Wassermelone halbiert

Ihre nördliche Hälfte schwitzt

Wie ein kremiger Urlauber

Gewissen ins rosa Fleisch

Gestoßen auf eine Ader der verblassten Samen

Kernlos sollte sie werden

Manipuliert in der frisch gepressten Freiheit

Die Schatten winziger Samen

vermehren sich in einem

Polyesterklima

Viel zu klein, um den Satz zu beenden

Die Züchtung braucht keine Sonne

Der Winter liegt vor mir

Jedes Mal erneut

lauwarm und tödlich

Yoko Tawada (2016, 98)

Andererseits fungiert die Melone als Symbol für die Erde, deren nördliche Hälfte, der Globale Norden, wie der Rest der Welt nicht nur unter steigenden Temperaturen „schwitzt“, sondern auch aus Furcht vor den Folgen des Klimawandels. Diese werden mit zunehmend „lauwarm“ werdenden Wintern beschrieben, die letztlich für Menschen und bestimmte Tierarten „tödlich“ enden werden. Zugleich verweist die Zweiteilung der Melone auf zwei Welten: den reichen, ausbeuterischen Norden, der durch exzessiven Lebensstil – angedeutet durch den in Sonnencreme gehüllten „Urlauber“, der sein „rosa Fleisch“ vor der Sonne schützt und in Urlaubsländern „schwitzt“ – die Erdsysteme ins Wanken bringt; und dem armen Globalen Süden, der so unterprivilegiert ist, dass von der südlichen Hälfte gar nicht erst die Rede ist. Dass für diese „saftigen Fehler“ die Schuld und die Verantwortung bei den Ländern des Globalen Nordens zu suchen ist, daran lässt dieses Gedicht keinen Zweifel.

Neben spezifisch deutschdidaktischen Kompetenzen können im Rahmen einer stoffgeschichtlichen Beschäftigung speziell auch Gestaltungskompetenzen im Rahmen einer BNE gefördert werden. Die Schüler*innen erkennen globale Zusammenhänge, indem sie am Beispiel der Avocado den Einfluss des eigenen Nahrungsverbrauchs und Konsumverhaltens auf das Leben anderer Menschen, landwirtschaftliche Nutzflächen sowie die lokalen Märkte im Globalen Süden nachvollziehen. Dabei diskutieren sie gemeinsam über die ethische Bewertung des Konsums von Avocados, Mangos oder Melonen, wobei die Argumentation stets an die impulsgebenden Texte und Bilder rückgebunden wird. Auch Vorschläge, wie man zu einem sinnvollen Umgang in diesem – wie auch anderen – Nachhaltigkeitsdilemmata gelangen kann, sodass Situationen, die zu „Gewissensbissen“ führen, zunehmend vermieden werden, lassen sich in diesem Zusammenhang ebenso fachübergreifend entwickeln. Letztlich ist es im Bereich der Persönlichkeitsbildung grundlegend wichtig, die individuellen und kollektiven Leitbilder zu reflektieren. Daher beleuchten die Schüler*innen den eigenen und gesellschaftlichen Lebensmittelkonsum hinsichtlich sozialer, ökologischer, ökonomischer und ethischer Aspekte im weltweiten Kontext kritisch und lernen, nachhaltige und nichtnachhaltige Entscheidungen zu differenzieren. Die Schüler*innen erkennen darüber hinaus auch die negativen Auswirkungen des eigenen Konsumverhaltens auf die Lebenssituation von Menschen im Globalen Süden und berücksichtigen künftig diese sozialen Aspekte bei ihrer Konsumentscheidung aus einer Haltung der Solidarität heraus.

8. Relevanz von Erzählungen im Kontext von BNE und schulischer Werteerziehung

In der narrativen Gestaltung von Fragen des Anthropozäns kann ausgehend vom Fach Deutsch eine umfassende BNE gestaltet werden, die bisherige Denk- und Handlungsroutinen verändert und transformative Lernprozesse in Gang setzt. Dies konnte die Verschränkung der fachspezifischen mit den BNE-spezifischen Kompetenzen am Ende der vorgestellten Konkretionen zeigen. Dabei wurde deutlich, dass Erzählungen im Sinne narrativer Ethik nicht nur ein Ausdrucksmedium, sondern ein Modus der Selbst- und Welterkenntnis sind. Sie haben didaktische Funktion und können durch einen ganzheitlichen Weltzugang Reflexionsprozesse initiieren, Überzeugungen und Handlungsweisen auf den Prüfstand stellen. Schulische Werteerziehung nimmt diesen implizit enthaltenen Bildungsanspruch auf und fokussiert die Förderung kritischer Rezeptionsfähigkeit (vgl. dazu Anselm 2019; Bär 2019). Hierfür sind Klassenzimmer als Reflexionsräume wertvolle Orte, in denen diskursive Aushandlungsprozesse stattfinden können und sollen. Denn Erzählungen bieten die Möglichkeit, Handlungs- und Wertungskonflikte in einer ganz spezifischen Weise zur Sprache zu bringen. Dies wird allein schon durch die Gestaltung der Erzählungen mit einem häufig offenen Ende deutlich, welche die Entscheidungen zu den thematisierten Fragestellungen an die Rezipierenden zurückgeben. Erzählungen fungieren didaktisch gewendet als „geschützter Lernraum“ (Zimmermann 2021, 78), in dem den Lesenden bzw. Lernenden eine aktive Reflexionsrolle zukommt, weil ihre ethische Urteilskompetenz eingefordert wird.

Die Auseinandersetzung mit Erzählungen hat das Ziel, Lernende zu befähigen, ihre eigene – und damit verbunden auch die gesellschaftliche und globale Entwicklung – zukunftsfähig zu gestalten. Ihnen soll dadurch die Möglichkeit an die Hand gegeben werden, sich die Werte, Kenntnisse und Fertigkeiten anzueignen, die für eine zukunftsfähige Gestaltung des eigenen Lebens und der Gesellschaft im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung notwendig sind (vgl. DUK 2011, 7). Eine transformativ gedachte BNE regt Lernende und Lehrende gleichermaßen zur gesellschaftlichen Teilhabe an (vgl. WBGU 2011, 24) und strebt angesichts der gegenwärtigen ökosozialen Umbruchprozesse danach, Lernende darauf vorzubereiten und zu befähigen, Handlungsoptionen systemisch zu verstehen, Herausforderungen kritisch zu reflektieren sowie sich ihnen situationsspezifisch zu stellen (vgl. Stoltenberg & Holz 2017).

Daraus ergibt sich eine zentrale Rolle für Bildungsakteur*innen, die zwar nicht die gesellschaftlich, politisch, wirtschaftlich oder kulturell bestehenden Probleme des 21. Jahrhunderts zu lösen haben, gleichwohl aber aus einer bildungstheoretischen Logik heraus „dem kollektiven Ziel der Erhaltung eines sicheren Handlungskorridors für die Menschheit“ (Hoiß 20019, 18) verpflichtet sind. Lehrende sind dabei nicht nur „ausführende Instanzen“ (Hoiß 2020, 165); wie die Lernenden auch „sind sie selbst Suchende nach einer resonierenden Positionierung“ (ebd.) im Denkrahmen des Anthropozäns, der nicht nur ein neues Rollenverständnis von Lehrpersonen (im Fach Deutsch) fordert, sondern auch die Möglichkeit eröffnet, die Funktion von Bildung zu reflektieren. Sie wird als menschliche Überlebensstrategie im Anthropozän verstanden:

Sieben und mehr Milliarden Individuen werden ab jetzt die Aufgabe haben, das Weiterleben unserer Gattung mit unserer einzigen Erde zu gewährleisten und zu gestalten. Ein hohes Maß an Bildung/Wissen/Kompetenz aller Menschen – und nicht nur von Eliten – ist dafür die Hauptvoraussetzung. Statt ‚Bildung‘ könnte man dazu ebenso gut und aufgabengerecht sogar besser ‚Menschheitserhaltungskompetenz‘ sagen.“ (Rosa 2017, 76)

Es zeigt sich damit ein Paradox: Während bislang der Mensch Überlebensstrategien benötigte, um gegen eine übermächtige Natur bestehen zu können, braucht er jetzt Kompetenzen, „um in Anbetracht seiner neuen Rolle als geologischer Faktor bestehen zu können und sich nicht selbst auszurotten“ (Hoiß 2019, 250). Darum ist die zentrale Aufgabe der Schule nicht zuletzt darin zu sehen, Bildungsprozesse anzuregen, innerhalb derer sich entsprechende Kompetenzen ausbilden können. Eine entscheidende Vermittlungsleistung kommt hierbei dem Storytelling als didaktisch reflektiertem Konzept zu: Erzählungen sind für eine Pädagogik des Narrativen relevant (vgl. dazu Saupe & Leubner 2017), wobei ein verantwortungsvoller Umgang mit ihnen Voraussetzung, Methode und Lernziel zugleich ist.