Kulturelle Nachhaltigkeit lernen und lehren

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3. Storytelling als Strategie der Wissenschaftskommunikation

Narrationen fungieren im Anthropozän also als Vermittlungsmedien (vgl. Anselm 2017, 8). Indem sie bestimmte Diskurse führen, unterschiedliche Denkmuster und Positionen verhandeln sowie Sinn und Erkenntnis anbieten, können sie auf Seiten der Rezipierenden Reflexionsprozesse initiieren, Überzeugungen und Handlungsweisen auf den Prüfstand stellen und in der Auseinandersetzung der Lernenden mit in Erzählungen verhandelten Themen die Fähigkeit schulen, Wertentscheidungen bewusst zu treffen (vgl. Anselm 2012, 409). Diese Form des Storytellings wird als Strategie in der Wissenschaftskommunikation in doppelter Weise eingesetzt:

(1) Erzählungen vom Anthropozän ermöglichen den Menschen, ihre Wirklichkeit zu ordnen sowie zu deuten und damit als sinnvoll zu erfahren (Vogt 1997, 288f.). Vor diesem Hintergrund ist das Anthropozänkonzept selbst als Erzählung zu verstehen, die in den letzten zwei Jahrzehnten zunehmend in den Massenmedien – zumeist eher unkritisch und distanzlos – aufgegriffen wurde und mittlerweile zu einer Rahmenerzählung bzw. zu einem Narrativ geworden ist. Im pädagogisch-didaktischen Kontext ist dies zu reflektieren, wie eingangs gezeigt wurde, um zu verdeutlichen, dass die Verwendung dieser Rahmenerzählung eine Positionierung besonderer Art und kein ungebrochen zu vermittelndes Faktum darstellt. Dazu bedarf es, vor allem wenn man das Anthropozän im Unterricht thematisiert, einer Metakritik, die eine Analyse der Entstehung sowie der zum Teil auch gegenläufigen Diskurse im Kontext des Anthropozän-Narrativs enthält (vgl. Hoiß 2019). Dafür eignet sich der von Klein und Martínez eingeführte Terminus der Wirklichkeitserzählungen, die „auf reale, räumlich und zeitlich konkrete Sachverhalte und Ereignisse […] referieren und […] in diesem Sinne faktuale Erzählungen [sind]“ (Klein & Martínez 2009, 9). Im Unterschied zu literarischen Texten, die Bezug auf die Wirklichkeit nehmen, verstehen Klein und Martínez in diesem Zusammenhang unter einer Erzählung eine „zeitlich organisierte […] Abfolge von Ereignissen“ (ebd.), wobei drei Typen zu unterscheiden sind:

Deskriptive Wirklichkeitserzählungen bilden reale Sachverhalte ab und sind an einer Wahrheitsfindung interessiert (etwa bei der Kontextualisierung und Vermittlung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse). Dieser Typus stellt die Grundlage für die gesamte Diskussion um das Anthropozän dar: „Er besteht aus einem rein deskriptiven Zugang, der etwas über den momentanen Zustand des Planeten Erde (v.a. im Vergleich zu einem früheren Zeitpunkt) und den Einfluss der menschlichen Spezies auf diesen aussagt.“ (Hoiß 2019, 154) Dagegen wird bei normativen Wirklichkeitserzählungen „ein erwünschter Zustand von Wirklichkeit geschildert mit dem Ziel, eine bestimmte (gesellschaftliche oder individuelle) Praxis zu regulieren“ (Klein & Martínez 2009, 9). Im Anthropozändiskurs ist dieser Typus fast schon selbstverständlich an den deskriptiven Typus gekoppelt, nämlich immer dann, wenn aus den deskriptiven Wirklichkeitserzählungen heraus eine Verantwortung des Menschen für den Planeten, die Umwelt, andere Spezies, oder künftige Generationen abgeleitet wird (vgl. Hoiß 2019, 153ff.). Bei den sogenannten voraussagenden Wirklichkeitserzählungen geht es um die Beschreibung eines erwarteten künftigen Zustandes der Wirklichkeit mit der Funktion einer Festlegung allgemeiner Strukturmerkmale (vgl. Klein & Martínez 2009, 9). Beispiele dafür sind Aussagen über die Folgen der globalen Klimakrise, des weltweiten Artensterbens sowie sämtliche Vorhersagen darüber, was geschehen könnte, wenn die Menschheit ein bestimmtes (z.B. nachhaltiges) Agieren unterlässt.

(2) Erzählungen kommt im Kontext einer Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE), die Menschen zu zukunftsorientiertem Denken und Handeln befähigt sowie zu einer nachhaltigen Gestaltung der eigenen Lebenswelt anregt, als „Lerngeschichten“ (Baake & Schulze 1993, 9) besondere Bedeutung zu. Denn die normativen Vorstellungen von und über Nachhaltigkeit werden auch durch Literatur und Medien geprägt. So sind Erzählungen als wirkungsvolle Ressource zu verstehen, um fächerübergreifend und fachintegrativ den zentralen Bereich schulischer Werteerziehung auszugestalten (vgl. Anselm 2021). Sie können ihren Rezipierenden Sichtweisen der Wirklichkeit nahelegen, die nicht nur für sie, sondern auch für ihre Kultur (relativ) neu sind (vgl. Saupe & Leubner 2017, 150). Besonders hervorzuheben sind hierbei die multimodalen Erzählformate, die sich dem Anthropozändiskurs zuordnen lassen und in den letzten Jahren vermehrt Aufmerksamkeit erfahren haben. Als Konsequenz der rasanten Entwicklung im digitalen Bereich der letzten Jahre und dem damit verbundenen medialen Strukturwandel ist dabei zugleich ein zunehmender Druck wahrnehmbar, entsprechende crossmediale Vermittlungsstrategien zu entwickeln (vgl. Anselm & Hoiß 2017), um die eigenen Inhalte für eine breite Öffentlichkeit – und das heißt: quer über die verschiedenen medialen Kanäle – zugänglich zu machen. Wie auch im Anthropozändiskurs deutlich zu sehen ist, umfasst die inhaltliche Dimension von Crossmedialität (neben der technischen Ermöglichung multimedialen Erzählens und einer Kreuzung der Medien) vor allem die Präsentation von Themen bzw. das Storytelling über technische Mediengrenzen hinweg und damit die Entwicklung crossmedialer Genres (vgl. Hoiß 2019, 197f.).

Im Folgenden wird ausgehend von drei Konkretionen aufgezeigt, inwiefern Narrationen im Kontext des Anthropozäns im Sinne des Storytellings entscheidende Bedeutung zukommt. Zunächst wird im Rahmen von Beispielen aus der Wissenschaftskommunikation dem Verhältnis von Fakt und Fiktion in solchen Erzählungen nachgegangen, die explizit dem Anthropozän zuzuordnen sind. Dann werden Erzählungen als literarische Zukunftswerkstätten gedeutet, deren prospektive Kraft man im Kontext des Anthropozäns auch für den Unterricht nutzen kann. Schließlich werden anhand konkreter Beispiele sogenannte Stoffgeschichten als narrative Annäherungen an globale Handlungspraktiken expliziert.

4. Erzählungen zwischen Fakt und Fiktion

Als besondere Eigenheit im Anthropozändiskurs erscheint der Comic in der Wissenschaftskommunikation als beliebtes Medium der Wissensvermittlung. Unter dem Begriff Graphic Science wurden aufwendig gestaltete Comic-Bände wie Anthropozän – 30 Meilensteine auf dem Weg in ein neues Erdzeitalter (Hamann 2014) oder Die Anthropozän-Küche (Leinfelder, Hamann, Kirstein & Schleunitz 2016) erstellt. Basierend auf dem Hauptgutachten des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (vgl. WBGU 2011) überträgt der Sachcomic Die große Transformation. Klima – Kriegen wir die Kurve? (Hamann, Hartmann, Zea-Schmidt & Leinfelder 2013) Ergebnisse der Politikberatung in allgemein verständliche Erzählungen. Hier ist das Anthropozän der Auslöser für die im Comic beschriebenen politischen, wissenschaftlichen oder aktivistischen Bemühungen bekannter Akteur*innen im Klimabereich, die wiederum auf einen neuen Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation hinarbeiten. Auch andere Institutionen wie das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) nutzen den Comic für eine kurze Geschichte der Klimaforschung wie beispielsweise in Ein heißer FallDas Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung klärt auf (PIK 2017). Wieder andere, wie der Schriftsteller Yuval Noah Harari – immerhin seit Jahren einer der weltweit erfolgreichsten Sachbuchautoren – nutzen das Genre, um wissenschaftliches Wissen sichtbar und einer breiten Zielgruppe verfügbar zu machen: In der Graphic Novel Sapiens. Der Aufstieg (2020) wird der erste Teil von Hararis Buch Eine kurze Geschichte der Menschheit (2015) adaptiert: Wenn man so will, geht es mit dem Aufstieg des Menschen auch um den Beginn des Anthropozäns.

Durch die (massen-)mediale Vermittlung ist das Anthropozän mittlerweile zu einem kulturellen Phänomen avanciert (vgl. Hoiß 2019, 162–192) und Erzählungen übernehmen, wie aus den vorangestellten grundlegenden Reflexionen zur Wirkmächtigkeit von Literatur deutlich wurde, die Vermittlungsrolle. In diesem Zusammenhang ist der oben gezeichnete Trend deutscher Wissenschaftsinstitutionen (Deutsches Museum, PIK, WBGU etc.) aufschlussreich, bei der Darstellung der globalen Herausforderungen des Anthropozäns der Hinwendung zur erzählerischen Vermittlung ganz generell und im Speziellen bildbasierten gegenüber rein wortbasierten Literaturformen den Vorzug zu geben. Daneben können aber auch genrespezifische Überlegungen angestellt werden. So verweist die wissenssoziologische Forschung auf, wenn auch nicht vollends empirisch nachgewiesene, motivationale Effekte von Comics: Beispielsweise wird davon ausgegangen, dass der Comic grundsätzlich auch schwerer zugängliche Zielgruppen wie etwa Jugendliche anspreche und zum Lesen motiviere. Das Medium sei als bilddominiertes intuitiver zugänglich und könne daher auch wissenschaftliche Erkenntnisse leichter vermitteln (vgl. Schrögel & Weitze 2018, 30ff.). Comics und Wissenschaft seien nämlich gerade kein Widerspruch. Zudem sei nicht davon auszugehen, dass es bei der Transformation wissenschaftlichen Wissens in Comic-Formate zu einem Verlust von Informationen komme, sondern gerade die Bild-Text-Kombination intensivere Dimensionen des Wissenstransfers erst ermöglichten (vgl. ebd.).

Dies ist mit Blick auf die naturwissenschaftlichen, oft sehr technologischen Grundlagen des Anthropozäns, die einer allgemeinverständlichen grafischen Aufbereitung bedürfen, anzuerkennen, da die wissenschaftlich „verwendeten textlichen Codes Fachbegriffe fern des Lebensalltages enthalten“ (ebd., 32). Kommunikativ betrachtet fungieren Comics nicht nur im Kontext des Anthropozäns als „Dialogwerkzeug“ (ebd., 33) im Umgang mit der Öffentlichkeit, sondern auch als Vermittlungsmedium in Bildungskontexten. Gleichwohl unterscheiden sich Wissenschafts-Comics als ästhetisch-literarische Produkte grundlegend von konventioneller (nicht explizit narrativer) Wissenschaftskommunikation:

 

Während wissenschaftliches Wissen wahr und überprüfbar sein muss, dürfen – oder müssen – literarische Aussagen erfunden sein. Das Erzählen von wissenschaftlichen Fakten in Kunstprodukten ist somit notwendigerweise von etablierten Kommunikationsverfahren des Wissenschaftssystems zu unterscheiden […]. Fiktionen von wissenschaftlicher Wirklichkeit erzeugen in dem Spektrum kunstvermittelter Wissenschaftskommunikation somit ein Spannungsfeld, das aus den unterschiedlichen Operationsweisen von Wissenschaft und Kunst hervorgeht. (Fücker & Schimank 2018, 50f.)

Diese Vermengung der kategorialen (und durchaus enggeführten) Sphären von Wissenschaft und Kunst wird im Wissenschaftssystem allerdings keineswegs durchgehend als positiv bewertet. „Denn anstatt verlässliche Botschaften auszusenden, wie es von der Wissenschaft erwartet wird, sind fiktionale Vermittlungsformate vielmehr dadurch charakterisiert, kontinuierlich neue und vielfältige Bedeutungszusammenhänge herzustellen“ (ebd., 51). Oft haben sie ein Image degenerierter, defizitärer und unangemessener Kommunikation, da sie eben nicht mehr ausschließlich nach wissenschaftlichen Kriterien wie der Verlässlichkeit von Informationen operieren, sondern die Story neben das Faktum stellen bzw. die Fakten durch literarische Rezeptionsprozesse überhaupt erst kontextualisiert werden. Darum relativieren literaturwissenschaftliche, erzähltheoretische und nicht zuletzt didaktische Forschung diese Einschätzung (vgl. Klein & Martínez 2009, 1): Erzählen ist ein grundlegender, anthropologisch begründeter Zugang zur Welt, dem sich auch die Wissenschaft nicht entziehen kann. Diese Einschätzung bestätigt Lyotard, der eine „Rückkehr des Narrativen in das Nichtnarrative“ (Lyotard 2015, 79) gerade im wissenschaftlichen System erkennt:

Ein grober Beweis: Was machen die Wissenschaftler, wenn sie nach irgendwelchen „Entdeckungen“ zum Fernsehen gerufen, in den Zeitungen interviewt werden? Sie erzählen ein Epos eines Wissens, das doch gänzlich unepisch ist. (Ebd.)

Dieses Vorgehen macht sich nicht zuletzt didaktische Vermittlung zunutze. Denn bei der Frage, wie wissenschaftlich erzeugtes Wissen auch pädagogisch und gesellschaftlich wirksam werden kann, spielen Erzählungen eine zentrale Rolle. Auch wenn anzuerkennen ist, dass Wissenschaft und Kunst bzw. Literatur aus unterschiedlichen Systemlogiken heraus agieren, geht es im pädagogischen und gesellschaftlichen Vermittlungskontext nicht nur, wie im Wissenschaftssystem vorgesehen, um die exakte Replikation wissenschaftlichen Wissens. Ziel ist es vielmehr, dieses Wissen in ein pädagogisch-didaktisches Handlungswissen zu überführen und damit „kontinuierlich neue und vielfältige Bedeutungszusammenhänge herzustellen“ (Fücker & Schimank 2018, 51), sodass diese im Leben jedes Individuums anschlussfähig werden. Literarische Texte (und damit auch literarische Repräsentationen wissenschaftlichen Wissens) tragen so aufgrund ihres inhärenten Vermittlungspotenzials „zur Sichtbarmachung von wissenschaftlichen Wissensbereichen […] und damit zur Erweiterung einer allgemein angestrebten ‚scientific literacy‘ bei“ (ebd., 54). Im Wechselspiel zwischen Fakt und Fiktion macht Literatur Wissenschaft also überhaupt erst lesbar und trägt so zur Entwicklung einer zukunftsbezogenen Bildung im Sinne der Futures Literacy bei.

5. Erzählungen als literarische Zukunftswerkstätten

Erzählen ist, so lässt sich festhalten, eine grundlegende Form des Zugriffs auf die Wirklichkeit und hat dabei orientierende Funktion. Dies gilt auch für die Imagination zukünftiger Szenarien, wie sich am Beispiel des Anthropozäns erkennen lässt, das selbst – wie gezeigt – auch als Narrativ gelesen werden kann (vgl. Hoiß 2019; Horn 2017). Es bündelt eine Vielzahl von Erzählungen, die zwischen dystopischen und eutopischen Zukunftsvisionen changieren und von beispielsweise normativer, präskriptiver, deskriptiver oder prospektiver Art sind.

Das Besondere daran ist im Kontext des Anthropozäns nicht die Tatsache, dass über Zukünftiges oder komplett in oder gewissermaßen aus der Zukunft im Rückblick auf die Gegenwart erzählt wird – im Rahmen einer intradiegetischen Welt ist dies ein gängiges Merkmal für bestimmte Genre wie Science Fiction, Fantasy, Dystopien etc. –, sondern dass dabei auf eine zum Zeitpunkt der Handlung bereits vergangene Zeit referiert wird, die für die Rezipierenden die reale Welt der Gegenwart ist. Erzählungen machen sich eine Erprobungs- und Aushandlungsfunktion von Literatur zunutze und werden zu Spiel- und Denkräumen, in denen ohne Konsequenz und Risiko mit alternativen Modellen der Welt experimentiert werden kann (vgl. Bär 2017, 43). Erzählungen werden so zu literarischen Zukunftswerkstätten.

Ein bekanntes und durchaus erfolgreiches Beispiel einer solchen literarischen Zukunftswerkstatt ist der 2004 erstmals erschienene Roman Der Schwarm von Frank Schätzing. Darin richtet eine intelligente maritime Lebensform (Yrr), die symbolisch für die Natur als Ganzes steht, seine Kraft gegen die menschliche Zivilisation. Es ist eine international vernetzte Wissenschaft, die in der Akkumulation globaler Zwischenfälle wie dem Verschwinden von Fischer*innen, Walangriffen oder bislang unbekannten Wurmkolonien Zusammenhänge erkennt, die – so erfährt man im Laufe der Handlung – von den Yrr im Meer koordiniert werden. Erst im Zusammenspiel zwischen Wissenschaft und Politik auf globaler Ebene entsteht die Voraussetzung für die Erforschung der Lebensform, ihre Funktions- und Kommunikationsweise. Dies ist die Basis für das weitere politische Vorgehen, die Yrr von der Beendigung der Angriffe auf die Menschen zu überzeugen.

Schätzings Der Schwarm offenbart einen literarischen Ort, an dem wissenschaftliche, ethische, politische und gesellschaftliche Möglichkeiten durchgespielt und reflektiert werden (vgl. zum Folgenden Bär 2017, 43–46). Für den Anthropozändiskurs nicht untypisch ist dabei die Rollenzuschreibung des Menschen als Zerstörer, „der massiv in natürliche Abläufe und Prozesse eingreift, um ökonomische Interessen durchzusetzen, potenzielle Bedrohungen zu minimieren oder sein Leben im Sinne eines von ihm definierten ‚guten Lebens‘ führen zu können“ (ebd., 44). Der wissenschaftliche „Fortschritt“ entpuppt sich in diesem Zusammenhang als zweischneidiges Schwert: Er verursacht viele dieser Zerstörungen und zugleich schafft er durch die Zunahme an Umwelt- und Nachhaltigkeitswissen die Grundlage dafür, überhaupt erst ein Bewusstsein für die ökologischen Schäden und Kriterien für einen nachhaltigen Lebensstil zu entwickeln. Vor diesem Hintergrund spielt Der Schwarm verschiedene Zukunftsszenarien durch:

• Möglichkeiten in der Beziehung zwischen Mensch und Natur werden diskutiert und anhand verschiedener Protagonist*innen vorgestellt – beispielsweise wird ein anthropozentrisches, die Natur unterwerfendes Weltbild einem systemisch-integrativen Naturverständnis gegenübergestellt, im Rahmen dessen der Mensch Teil der natürlichen Sphäre ist.

• Angesichts einer bedrohlichen natürlichen Kraft werden unterschiedliche Handlungsoptionen präsentiert wie ein militärischer Gegenschlag, die Orientierung an Praktiken indigener Völker, die Erarbeitung eines ökozentrischen Bewusstseins sowie die Anerkennung planetarischer Grenzen.

• Aktuelle lebensweltliche Diskurse werden auf ihre Legitimität und Praktikabilität hin geprüft wie etwa unterschiedliche Visionen von Gesellschaftsformen oder bestehende und neue Paradigmen in Wissenschaft und Politik etc.

In Bezug auf die vorangegangenen Überlegungen zum Verhältnis von Fakt und Fiktion erscheint es zudem von Bedeutung, dass die Präsentation und Erklärung von Phänomenen und Fakten in der Handlung durch Wissenschaftler*innen vorgenommen werden. Diese kommunizieren dabei in einer doppelten Weise: zum einen im Rahmen der inneren Handlungslogik, um anderen (nicht-wissenschaftlichen) Figuren der Erzählung die Erzählwelt zu erklären; zum anderen in der Funktion einer Wissensvermittlung an die Lesenden. So lässt sich etwa aus den

ausführlichen Beschreibungen bzw. Erklärungen geologischer wie biologischer Fakten [...] die Erzählabsicht ableiten, dass [die Leser*innen] Einsicht in komplexe Zusammenhänge einer (maritimen) Natur erhalten und den Einfluss menschlichen und damit auch des eigenen Handelns auf ein sensibles Ökosystem verstehen lernen“ (Bär 2017, 42f.).

Beide Kommunikationsintentionen lassen sich daran erkennen, dass gerade innerhalb der wissenschaftlichen Fach-Community überwiegend auf Fachjargon verzichtet wird bzw. für Lai*innen verständliche Paraphrasen und Erklärungen an dessen Stelle treten.

In solchen erzählenden Formen der Wissenschaftskommunikation entspinnen sich kontingente literarische Zukünfte. Diese Future Fictions (vgl. Hollerweger 2018) können dabei das gesamte Spektrum zwischen Ökotopia, Ökodiktatur und Apokalypse abdecken und bieten so auch ein diskursives Laboratorium für globale gesellschaftliche Herausforderungen.

Als ein „literarisches Laboratorium“ (vgl. Rank 2014) ist beispielsweise die Lyrik-Anthologie All dies hier, Majestät, ist deins. Lyrik im Anthropozän (Bayer & Seel 2016) zu betrachten, die in der Folge der Ausstellung „Willkommen im Anthropozän“ im Deutschen Museum in München veröffentlicht wurde. Die Herausgeberinnen Anja Bayer und Daniela Seel sammelten darin literarisch hochwertige Gegenwartsgedichte von rund 125 deutschsprachigen Autor*innen (vgl. etwa Yoko Tawadas Gedicht „Saftige Fehler“ im folgenden Kapitel). Anders als bei Frank Schätzing kann hierbei jedoch von einem deutlich höheren Grad an strategischer Wissenschaftskommunikation ausgegangen werden, handelt es sich bei der Anthologie doch um Auftragslyrik, welche die Möglichkeiten narrativer Sprache jenseits nüchterner Argumentation nutzt, um für die globalen Problemstellungen im Anthropozän (so die Prämisse) zu sensibilisieren.

Motivational ähnlich gelagert sind Phänomene des Storytellings, die für Zwecke der Wissenschaftskommunikation bzw. der Schaffung von Anwendungsvisionen genutzt werden. Dabei geht es oft um mögliche Zukunftsszenarien, die aufgrund einer technologischen Entwicklung eintreten – mit (für bestimmte Menschen) guten wie schlechten Folgen. Erzählungen dieser Art werden aufgrund der ihnen inhärenten kommunikativen Wirkung im Sinne von Storytelling als strategische Texte gelesen und anders als Texte wie Der Schwarm nicht als literarische Erzählungen wahrgenommen, sondern als „Technikzukünfte“5 bezeichnet. Dadurch wird sowohl die enorme Bedeutung der Technik in modernen Gesellschaften als auch die Kontingenz möglicher Zukunftsszenarien betont. Die Erzählungen kombinieren Imaginationen des Zukünftigen mit konkret erkennbarem technologischem Aktionspotenzial der Gegenwart und sind generell (ergebnis-)offen (vgl. Schrögel & Weitze 2018, 27). Typische Elemente solcher Technikzukünfte sind Bereiche wie „zukünftige Mobilität, Energieversorgung, Wassermanagement oder die Steuerung von komplexen technischen, sozialen oder virtuellen Systemen[,] [...] die die Zukunft der Natur des Menschen“ bestimmen (Grunwald 2018, 105). Solche Formen des Storytellings befassen sich also explizit mit dem Verhältnis zwischen Mensch, Technik und Natur.

Die Entwicklung von Technikzukünften ist an sich nicht zwingend im literarischen Bereich anzusiedeln, sondern dient als Methode, in der Erzählungen im Rahmen von wissenschaftlicher Analyse, Reflexion und Kommunikation eingesetzt oder entwickelt werden. Sie stellen beispielsweise Entwicklungsprognosen bzgl. der Verfügbarkeit neuer Technologien dar und geben eine Einschätzung von Wettbewerbs- und Konkurrenzfähigkeit bzw. Konkurrenzverhältnissen in der Zukunft wieder. Es handelt sich also um „wissenschaftlich erstellte Zukunftsvorstellungen[,] [...] Visionen zukünftiger gesellschaftlicher Entwicklungen und Zustände auf Basis heutiger Erwartungen und Extrapolationen, insbesondere im Bereich der neuen Technikfelder“ (Grunwald 2018, 104f.). Die Geschichten speisen sich meist aus modellbasierten Szenarien und nehmen sowohl globale Dimensionen in den Blick – wie etwa auch Klimamodellierungen dies tun – als auch eine regionale und lokale Ebene (vgl. ebd., 105).

 

Auch im Marketing- und PR-Bereich sowie in der Organisationsentwicklung findet Storytelling seine Verwendung, wenn es um öffentlichkeitswirksame Kommunikation u.a. im Bereich Nachhaltigkeit, Technologie und Gesellschaft geht. Die wissenschaftliche Grundlage und Ausrichtung spielen dabei, anders als bei den beschriebenen Technikzukünften, in der Regel keine Rolle. Beratungsfirmen wie Narratives Management (https://www.narratives-management.de/) nutzen gezielt die Wirkung von Erzählungen, um mit ihren Kund*innen überzeugende Narrative für interne wie externe (Werbe-)Kommunikation zu entwickeln. Von ihnen geleitete Netzwerke wie Beyond Storytelling (https://www.beyondstorytelling.com/) werben damit, dass man strategisches Storytelling erlernen und für die eigenen Zwecke gezielt nutzen kann (Chlopczyk 2017; Chlopczyk & Erlach 2019).

Die didaktische Funktion von Storytelling ist jedoch auch für den Bildungskontext von Interesse. Diese Art von Zukunftswerkstätten gehören im Kontext einer Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) gewissermaßen zum Standardrepertoire (vgl. Anselm, Hoiß & Köppel 2021). Sie zählen zu den zukunftsorientierten Lernmethoden und basieren auf einem didaktischen Konzept (vgl. Jungk & Müllert 1981/1995), bei dem davon ausgegangen wird, „dass die Menschen über häufig ungenutzte kreative Fähigkeiten sowie Problemlösungspotenziale verfügen, die aktiviert werden können. Mithilfe der Methode werden diese Ressourcen mit dem Ziel mobilisiert, Perspektiven für die individuelle und/oder gemeinsame Zukunft zu entwickeln und konkrete Schritte zur Erreichung dieser Ziele zu planen“ (Böttger 2001, o.S.). Zukunftswerkstätten durchlaufen dabei typischerweise drei Phasen: eine Kritikphase, in welcher der Ist-Zustand analysiert wird, eine Utopie-Phase, die den Soll-Zustand formuliert, sowie eine Realisierungsphase, in der es um die Fixierung konkreter Handlungsmöglichkeiten zur Erreichung des Soll-Zustands geht (vgl. ebd.).

Der Fokus liegt bei Zukunftswerkstätten deutlich auf der Entwicklung einer positiven Zukunftsvision (vgl. DPJW 2020, o.S.), um nachhaltige Veränderungen anzustoßen und umzusetzen. Sie sind fächerübergreifend einsetzbar, weil explizit Fragestellungen nachgegangen wird, die alle betreffen. Beispiele hierfür sind Fragestellungen wie „Was ist gutes Leben?“, „Was ist gute Bildung?“, „Wie sehen Städte der Zukunft aus?“, „Wie kann sich Ernährung verändern, um nachhaltigen Kriterien zu genügen?“ oder „Wie kann ein alternatives Wirtschaftssystem aussehen und was muss es leisten?“ (vgl. Anselm, Hoiß & Köppel 2021). Dass dabei Interessenskonflikte entstehen können, liegt auf der Hand. Gleichwohl stellen Zukunftswerkstätten hierfür einen geeigneten Rahmen dar, der für die Teilnehmer*innen die Möglichkeit zum Gespräch über ein ggf. kontrovers diskutierbares Thema entstehen lässt. Die Teilnehmenden erwerben dabei im Sinne einer BNE wichtige Gestaltungskompetenzen, indem sie sich u.a. mit Fragen nach den eigenen Lebens- und Wertvorstellungen auseinandersetzen und im Austausch mit den Einstellungen anderer eine Wertereflexionskompetenz entwickeln.