Kulturelle Nachhaltigkeit lernen und lehren

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4.2 Futures literacy

Auf den ersten Blick mag es ungewöhnlich scheinen, dass gegenwärtige Entscheidungen von der Zukunft abhängen sollen. Doch liegt hierin der Schlüssel, wie die Transformation vorangebracht werden kann, indem immer mehr Menschen fähig werden, die Zukunft zu „lesen“. Die UNESCO, die sich selbst diesbezüglich als globales Ideenlabor versteht, definiert Futures Literacy (FL) folgendermaßen:

Futures literacy is a capability. It is the skill that allows people to better understand the role of the future in what they see and do. Being futures literate empowers the imagination, enhances our ability to prepare, recover and invent as changes occur (UNESCO 2019).

Es geht darum, die Zukunft effektiver und effizienter zu nutzen und Vorstellungen von Zukunft zu erzeugen, die kognitive, emotionale und konative Aspekte vereinen – wie es Narrationen können. Auf diese Weise geben schlüssige Narrationen – auch die katastrophischen – Orientierung und helfen mit, bereits die Gegenwart besser zu verstehen, indem sie ein weites Spektrum möglichen zukünftigen Handelns aufzeigen. Kompetenzen wie der Umgang mit Unsicherheiten und Unwägbarkeiten bereiten vor, FL hilft, Lösungen zu finden und umzusetzen. Dabei spielen Phantasie, Kreativität und Motivation eine große Rolle, was zugleich genau die Anknüpfungspunkte der Literaturdidaktik sind, die diese Begriffe seit Langem untersucht und nun, unter dem Signum einer kulturökologischen Orientierung, mit FL zu einer Zukunftskompetenz bündeln kann. Welch großer Stellenwert der FL auf diese Weise zukommt, erläutert wiederum der WBGU:

Gesellschaftliche Verständigung über plausible, mögliche und wünschenswerte Zukünfte und deren politische wie technologische Gestaltung braucht einen reflektierten Umgang mit Trends und Herausforderungen. Antizipation und „Futures Literacy“ sollten als neues Forschung- und Bildungsthema gezielt gefördert und in existierenden Gremien gestärkt oder entsprechende Zukunftsgremien geschaffen werden. (WBGU 2019b, 21)

Die UNESCO als weltgrößte Bildungsorganisation geht in ihrer Einschätzung der Bedeutung von FL sogar noch weiter: Sie vergleicht die anstehenden gesellschaftlichen Entwicklungen durch FL mit denen, die durch die allgemeine Alphabetisierung entstanden sind. FL selbst ist eine Veränderung, die zugleich neue Bedingungen für Veränderungen schafft:

Images of the future open up new horizons in much the same way that establishing universal reading and writing changes human societies. This is an example of what can be called a ‘change in the conditions of change’. (UNESCO 2019)

Somit wird FL auch auf einer Metaebene wirksam. Je mehr Menschen FL erwerben, desto besser kann sich die Menschheit auf potenzielle neue Krisen einstellen sowie die Agendaziele 2030 und weitere Veränderungen erreichen, die den Kampf gegen Klimawandel, Artensterben und andere Umweltprobleme unterstützen. Wenn Narrative bestimmen, wie wir Zukunft lesen und wie wir Zukunft erzählen, um Zukunftsbilder zu erzeugen, die uns verraten, wie wir Gegenwart durch Handeln gestalten, dann sind die Literaturdidaktik und der Sprach- und Literaturunterricht aufgerufen, ihren Beitrag zu leisten, um FL bei Kindern und Jugendlichen zu fördern. Kaum etwas ist dazu geeigneter als Literatur in all ihren vielfältigen Formen.

5. Fazit

Niemand weiß, was die Zukunft bringen wird, doch wirkt sie sich durch das neue Paradigma der Futures Literacy bereits sehr auf die Gegenwart aus. Im Bereich des Möglichen, in dem sich die Zukunft befindet, sind alle anderen Möglichkeiten zerstört, sobald eine realisiert wird. Dies kann in einem negativen Sinn der berühmte Kipppunkt sein, von dem aus sich der Klimawandel mit all seinen existenzvernichtenden Folgen nicht mehr aufhalten lässt. Noch ist aber der ökologische Umbruch in der Zukunft möglich, durch den die Lücke zwischen Wissen und Handeln bzw. Verhalten geschlossen werden kann. Diese positive Aussicht bleibt realisierbar, wenn die Gesellschaft auf allen Gebieten Anstrengungen unternimmt, die Große Transformation zu mehr Nachhaltigkeit Wirklichkeit werden zu lassen. Einen kleinen, aber wichtigen Beitrag dazu leistet die kulturökologische Literaturdidaktik, indem sie der nächsten Generation und deren Zukunft Perspektiven bietet, die in die Gegenwart hineinragen. Dadurch stärkt sie die Kinder und Jugendlichen, für sich und weitere Generationen Verantwortung übernehmen und aktiv zur Transformation beitragen zu können. Inwiefern ihr das gelingt, möge die Zukunft zeigen.

Literatur

Anselm, Sabine (2017). „Wir brauchen den Mut zur Erzählung.“ Leitlinien eines didaktischen Perspektivenwechsels. In Sabine Anselm & Christian Hoiß (Hrsg.), Crossmediales Erzählen vom Anthropozän. Literarische Spuren in einem neuen Zeitalter (S. 7–12). München: Oekom.

Boelmann, Jan M. & König, Lisa (2021). Literarische Kompetenz messen, literarische Bildung fördern. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.

Brandl, Sabine (2011). Werteerziehung und Konstruktivismus. Die Möglichkeiten einer pädagogischen Wertorientierung und deren didaktischer Umsetzung aus konstruktivistischer Perspektive. München: Akademische Verlagsgemeinschaft.

Bühler, Benjamin (2016). Ecocriticism. GrundlagenTheorienInterpretationen. Stuttgart: Metzler.

Deutsche UNESCO-Kommission (2015). Roadmap zur Umsetzung des Weltaktionsprogramms ‚Bildung für nachhaltige Entwicklung‘. (http://www.bne-portal.de/?id=12227, abgerufen am 20.05.2021)

Drahmann, Martin & Cramer, Colin & Merk, Samuel (2018). Wertorientierungen und Werterziehung von Lehrerinnen und Lehrern in Deutschland, Tübingen. (http://www.colin-cramer.de/downloads/Kurzbericht_WWL_NRW.pdf, abgerufen am 18.05.2021)

Dürbeck, Gabriele & Stobbe, Urte (Hrsg.) (2015). Ecocriticism. Eine Einführung. Köln, Weimar, Wien: Böhlau.

EU-Projekt A Rounder Sense of Purpose (RSP) (2019). (https://de.aroundersenseofpurpose.eu/, abgerufen am 20.05.2021)

Garrard, Greg (ed.) (2012). Teaching Ecocriticism and Green Cultural Studies, London: Routledge.

Glotfelty, Cheryll (1996). Introduction: Literary Studies in an Age of Environmental Crisis. In Cheryll

Glotfelty & Harold Fromm (eds.), The Ecocriticism Reader. Landmarks in Literary Ecology (pp. 15–36). Athens, GA.

Horn, Eva (2014). Zukunft als Katastrophe. Frankfurt a.M.: S. Fischer.

Kappel, Felicitas (2015): Dimensionen einer Umweltethik in der realistisch erzählten Jugendliteratur der Gegenwart, Wien. (http://othes.univie.ac.at/39715/1/2015-11-13_0906810.pdf, abgerufen am 28.05.2021)

Kultusministerkonferenz (2017). Zur Situation und zu den Perspektiven der Bildung für nachhaltige Entwicklung. (https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2017/2017_03_17-Bericht-BNE-2017.pdf, abgerufen am 20.05.2021)

Neckel, Sighard (2018). Die Gesellschaft der Nachhaltigkeit. Soziologische Perspektiven. In Sighard Neckel & Natalia Besedovsky u.a. (Hrsg.), Die Gesellschaft der Nachhaltigkeit. Umrisse eines Forschungsprogramms (S. 15–24). Bielefeld: transcript.

Negt, Oskar (2002). Kindheit und Schule in einer Welt der Umbrüche. Göttingen: Steidl.

Pape, Judith (2019). Schuld und Sühne im Anthropozän. SuNSoziologie und Nachhaltigkeit. Beiträge zur sozialökologischen Transformationsforschung 5, 09, 179–209.

Rieckmann, Marco & Schank, Christoph (2016). Sozioökonomisch fundierte Bildung für nachhaltige Entwicklung. Kompetenzentwicklung und Werteorientierungen zwischen individueller Verantwortung und struktureller Transformation. SOCIENCE. Journal of Science-Society Interfaces 1, 65–79.

Rohmann, Sabine (2018). Eine Gesellschaft besinnt sich auf ihre Werte. In Pädagogisches Landesinstitut Rheinland-Pfalz (Hrsg.), Wertvolles Leben. Themenheft zur Werteerziehung in der Schule (S. 11–15). Speyer.

Sippl, Carmen (2020). Nachhaltig literarisch lernen. Themenorientierte Literaturdidaktik im Anthropozän (am Beispiel des SDG Book Club). R&E Source S21 (https://journal.ph-noe.ac.at/index.php/resource/article/view/789/938, abgerufen am 21.05.2021).

UNESCO & MGIEP (2019). Schulbücher für nachhaltige Entwicklung. Übersetzt von Thomas Stukenberg im Auftrag des BMBF und Engagement Global. (https://www.globaleslernen.de/sites/default/files/files/pages/handbuch_verankerung_bne_schulbuechern_mgiep_bf.pdf, abgerufen am 18.05.2021)

UNESCO (2015). Global Citizenship Education. Topics and Learning Objectives. (https://unesdoc.unesco.org/ark:/48223/pf0000232993, abgerufen am 20.05.2021)

UNESCO (2017). The ABCs of Global Citizenship Education. (https://unesdoc.unesco.org/ark:/48223/pf0000248232, abgerufen am 20.05.2021)

UNESCO (2019). Futures Literacy. An essential competency for the 21st century. (https://en.unesco.org/futuresliteracy/about, abgerufen am 24.05.2021)

 

Wanning, Berbeli (2019). Literaturdidaktik und Kulturökologie. In Christiane Lütge (Hrsg.), Grundthemen der Literaturwissenschaft: Literaturdidaktik (S. 430–453). Berlin und Boston: de Gruyter.

WBGU – Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (2019a). Unsere gemeinsame digitale Zukunft. Berlin: WBGU.

WBGU – Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (2019b). Unsere gemeinsame digitale Zukunft. Zusammenfassung. Berlin: WBGU.

Zapf, Hubert (Hrsg.) (2016). Handbook of Ecocriticism and Cultural Ecology, Berlin und Boston: de Gruyter.

1 Einen Überblick über interdisziplinäre Perspektiven und verschiedene theoretische Strömungen innerhalb des Ecocriticism vermittelt der Einführungsband von Dürbeck & Stobbe (2015). Die Einführung von Benjamin Bühler (2016) reflektiert die Entwicklung des Ecocriticism in Kombination mit einem Einblick in die einschlägige deutschsprachige Literatur samt ihrer verschiedenen Genres.

2 Für Deutschland hat die Kultusministerkonferenz (KMK) die entsprechenden Beschlüsse vor fünf Jahren gefasst, vgl. KMK 2017.

3 Die Mehrheit der Lehrkräfte und Eltern schulpflichtiger Kinder stuft die „Schaffung von Verantwortungsbewusstsein für Natur und Umwelt“ als einen zu fördernden Wert ein (Drahmann et al. 2018, 19).

I. KULTURELLE NACHHALTIGKEIT … WORDS & STORIES

Sabine Anselm & Christian Hoiß
Storytelling im Deutschunterricht
Zum Umgang mit Narrationen im Kontext des Anthropozäns

Rettung des Weltklimas aus dem Geiste der deutschen Ode – haben wir uns da nicht etwas viel vorgenommen? 1

1. Anthropozän – Verantwortung – Bildung: eine Verhältnisbestimmung

Bildung in einer globalisierten Welt erfordert eine umfassende Ausrichtung. Das könnte ein Erklärungsansatz dafür sein, warum das Anthropozän als geowissenschaftliche Konzeption auch für den Bereich der Bildung relevant geworden ist. Denn ursprünglich diente der Begriff des Anthropozäns – das Zeitalter des Menschen – lediglich zur differenzierten Beschreibung der Stellung des Menschen auf dem Planeten Erde sowie seines Verhältnisses zu Natur bzw. Umwelt. Er wurde von dem Biologen Eugene F. Stoermer und dem Chemiker Paul J. Crutzen geprägt, um die quantitative Verschiebung in der Beziehung zwischen dem Menschen und der globalen Umwelt auszudrücken (vgl. Crutzen & Stoermer 2000). Konkret legt das Konzept nahe, dass sich der Planet Erde gegenwärtig aus der seit rund 12.000 Jahren andauernden geologischen Epoche des Holozäns herausbewege und dass für dieses Verlassen des Holozäns zum Großteil menschliches Handeln verantwortlich sei. Die Menschheit sei folglich zu einer eigenständigen, weltumspannenden geologischen Kraft geworden (vgl. Steffen, Grinevald, Crutzen & McNeill 2011, 843), die nun Verantwortung für die Folgen des Handelns übernehmen müsse. Die deskriptive Dimension des Begriffs erfuhr also schnell eine moralische Aufladung, wie die folgende Beschreibung zeigt:

Das Zeitalter des Menschen, das Anthropozän, nimmt an Intensität zu. Seine Strukturen, Ziele, Werte und Lebensformen wirken auf die Lebenswelt der Menschen und gewinnen einen weitreichenden Einfluss auf die Erziehung, Bildung und Sozialisation der nachwachsenden Generationen […]. Wenn es nicht gelingt, hier Veränderungen zu erreichen, lassen sich viele destruktive Entwicklungen nicht mehr korrigieren. Stärkere Anstrengungen für die Verringerung von Gewalt, für einen besseren Umgang mit Alterität und für die Entwicklung von Nachhaltigkeit sind erforderlich. (Wulff 2020, 154)

In Darstellungen wie diesen wird deutlich, dass eine Vermengung der Wissensdiskurse von Erdsystemforschung und Ethik stattfindet. Diese wurde in die Bildungsdiskurse aufgenommen und führt vielfach zu verkürzten pädagogisch-didaktischen Begründungen und dazu, dass Bildung als Mittel zum Zweck dergestalt herangezogen wird und als Instrument für politisch ungelöste Probleme fungiert (vgl. Hoiß 2019, 231–257). So verstanden kann der Aufruf zur Übernahme von Verantwortung im Bildungsbereich zugleich als deutliches Indiz dafür gesehen werden, dass dieser Verantwortung (von Gesellschaft, Wirtschaft, Politik etc.) bislang noch nicht im gewünschten Maße nachgekommen wird. Es ist meist lediglich ein Überdenken der eigenen Haltungen, Werteinstellungen und des eigenen Lebensstils thematisiert. Das führt zwar wenigstens zu einer Veränderung des eigenen Verhaltens entsprechend der jeweiligen normativen Leitziele, löst jedoch die globalisierungsbedingten Probleme auf einer systemischen Ebene nicht. Darin bestünde die eigentliche Aufgabe von Politik, Wirtschaft oder Zivilgesellschaft.

Hinzu kommt, dass im Mittelpunkt eines bildungstheoretischen Interesses eigentlich weder die individuelle noch die kollektive Verhaltensänderung steht, sondern die Förderung und Entfaltung der Möglichkeiten und Potenziale der Einzelnen. Gleichwohl besteht ein Berührungspunkt zu Fragen des Anthropozäns nun allerdings darin, dass diese Entwicklung nur möglich ist, wenn die Auseinandersetzung mit der sozialen und materiellen (Um-) Welt gelingt. Durch dieses Bildungsverständnis, das zur Beschäftigung mit dem Verhältnis des Selbst zur Welt in all seinen Facetten anregt, wird das Anthropozän zur Rahmenerzählung für Lehren und Lernen. Sie handelt von der menschlichen Position im Gesamtzusammenhang der Welt oder des Kosmos, von dem eigenen Verhältnis zur Gesellschaft sowie zur nichtmenschlichen Umwelt und dem eigenen Standpunkt darin. Ohne diesen vollumfänglichen Bezug ist die Selbstentfaltung der Einzelnen nicht umfassend gestaltbar.

2. Wirkmacht von Narrationen im Kontext des Anthropozäns

Angesichts dieser räumlichen, zeitlichen und moralischen Dimensionen sowie durch einen hohen kognitiven und emotionalen Anspruch an die Lernenden und Lehrenden eröffnet sich ein produktiver Denk- und Diskursraum für einen kulturwissenschaftlich geprägten Deutschunterricht. Durch das Erzählen vom Menschen, der die Erdsysteme wie kein anderes Lebewesen beeinflusst, zugleich aber in den natürlichen Kreisläufen verhaftet bleibt, greift das Anthropozän weitestgehend auf deklarative Wissensbestände zurück. Zudem bündelt die Epochenbezeichnung vielfältige Phänomene und Problemstellungen, die bis dato unabhängig voneinander oder parallel zueinander betrachtet wurden und bringt diese in eine Relation (vgl. Möllers 2016, 25). In der Rezeption der Narrationen kann es sich allerdings den moralisierenden Hinweisen auf angesagte Verhaltensweisen nicht gänzlich entziehen. Diese Narrationen sind nicht zuletzt im Kontext kultureller Bildung von hoher Relevanz, denn das Potenzial von Erzählungen für die Wertebildung des/der Einzelnen hat sie immer auch zum Medium für pädagogisch-didaktische Zielsetzungen werden lassen.

Erzählungen2 bieten anschauliche Möglichkeiten, unterschiedliche Vorstellungen und Werthaltungen darzustellen. Sie sind kulturelle Weisen der Welterzeugung, verdichten Erfahrungen und Erinnerungen und dienen dazu, komplexe Geschehnisse zu vergegenwärtigen. Damit leisten sie auch einen Beitrag dazu, zentrale ethische Fragen zu beantworten (vgl. zum Folgenden Nünning 2012). Dies beginnt auf einer sehr grundlegenden Ebene: Narrationen ermöglichen es, aus der Fülle der Wahrnehmungen handhabbare Einheiten zu erzeugen, die mentale Repräsentationen des Erlebens klassifizierbar, erkennbar und erinnerbar machen. Der Eindruck, dass Erzählungen das Geschehen nur abbilden, greift zu kurz, denn Narrationen üben maßgeblichen Einfluss auf den Sinn aus, den Menschen dargestellten Ereignissen zuweisen, die in narrativer Form vermittelt werden.

Erzählungen sind somit nicht nur Mittel der Generierung sowie Kommunikation von Wissen, sondern auch Medium der Überzeugung. Über die Emotionalisierung einer Geschichte werden Botschaften wirkungsvoll kommuniziert, um Inhalte nachhaltiger und effektvoller zu vermitteln. Narrationen können Rezipierende dazu veranlassen, bisherige Wissensbestände zu modifizieren, Einstellungen zu verändern und für sie neue kausale Relationen zwischen individuellen Schicksalen und sozialen Strukturen herzustellen. Diese Funktionalisierung von Erzählungen als Storytelling wird einerseits gezielt zu Zwecken des Marketings verwendet (vgl. Friedmann 2018, 13), und andererseits ist Storytelling wiederum für den pädagogischen Kontext interessant und anschlussfähig für Überlegungen der narrativen Ethik in der philosophischen Tradition des Neopragmatismus3 (vgl. zum Folgenden Rorty 1989): Erzählungen lenken den Blick auf die tieferliegenden Überzeugungen und nutzen die prospektive Kraft der Leser*innen als einer Art Zuschauer*innen. Erzählungen beschreiben Einzelfälle, und indem diese in der Rezeption miteinander in Beziehung gesetzt werden, entsteht die dichte Beschreibung einer möglichen Wirklichkeit.4

Im Anthropozändiskurs werden mögliche Wirklichkeiten etwa in Form von dystopischen Katastrophenszenarien (vgl. Horn 2014 u. 2017) sowie utopischen Zukunftsbeschreibungen ausgestaltet. Oder es werden post- bzw. transhumanistische Szenarien durchgespielt (vgl. z.B. Heise 2015), eine weiter zunehmende Humanisierung und menschliche Vereinnahmung der Erde prognostiziert (vgl. z.B. Schwägerl 2012) sowie der Umgang mit humanoiden Existenzen thematisiert (vgl. Küppers 2018). Diese Szenarien und ihre mediale Repräsentation scheinen besonders in der zeitgenössischen Literatur einen starken Reiz auszuüben (vgl. z.B. Horn 2017; Schultz-Pernice 2017; Waczek 2017).

Dies lässt sich aus der Perspektive narrativer Ethik so analysieren, dass insbesondere Romane und Erzählungen, die das Leben anderer präzise schildern, dazu beitragen können, Solidarität zu schaffen: „Der Prozess der Sensibilisierung durch Literatur hilft uns, den anderen als einen von uns, statt als einen von jenen zu sehen“ (Rorty 1989, 16). Darum lassen sich Erzählungen als Eingriffsmöglichkeiten in die Kulturpolitik verstehen, da sie „die ethische Valenz menschlicher Handlungen“ (ebd., 30) darstellen. So wird es möglich, moralische Ebenen sichtbar zu machen und einen Wandel des Denkens durch die Vermittlung von Erfahrungen zu bewirken.

In ähnlicher Weise gesteht auch der Sozialphilosoph Hans Joas Erzählungen enorme Wirkung zu. Sie beginnen, wenn die Analysen enden; sie sind keine Alternativen, sondern umfassendere Begründungen, also argumentative Fortschreibungen mit anderen Mitteln. Auszugehen ist also „von einer Verschränkung von Argumentation und Narration“ (Joas 2012, 115). Für geschriebene Geschichten gilt dies allein schon aufgrund der Mechanismen des Lesewirkungsprozesses. Geschichten sind für das menschliche Gehirn offenbar die einfachste Form, Informationen zu verarbeiten, wie Untersuchungen der Kognitionspsychologie nahelegen:

Erzählungen können als eine besonders wirkungsvolle Technik betrachtet werden, mit der Menschen Informationen bündeln, strukturieren und kommunizieren. Geschichten transportieren dabei viel mehr als nur Fakten. […] Dabei erleben die Rezipierenden die Geschichten durch die Emotionalisierung der Erzählung und die empathische Spiegelung im wahrsten Sinne des Wortes mit. Neurobiologische Untersuchungen belegen, dass bei der Rezeption von erzählten Erlebnissen sowohl bei den Erzählenden als auch bei den Rezipierenden die gleichen Hirnareale stimuliert werden, die auch beim realen Erleben der entsprechenden Handlungen und Ereignisse aktiv sind. (Friedmann 2018, 195)

Bei der Textlektüre werden also, das zeigen auch Ergebnisse lesepsychologischer Forschungen, Emotionen ausgelöst, die ein relevanter Einflussfaktor beim Verarbeiten von Informationen sind. Empathie und Textverstehen unterstützen sich gegenseitig (vgl. Christmann 2003, 276). Zudem gibt es begründete Hinweise darauf, dass das kognitive und emotionale Involvement beim literarischen Lesen mit Empathiefähigkeit und sozialer Kompetenz einhergeht. Das kann zu einer „potenziell persönlichkeitsverändernden Kraft literarischer Lektüren“ (Groeben & Christmann 2014, 349) führen, da Kognition und Emotion interferieren:

 

Das kognitionswissenschaftliche Konzept von Kognition, als einem autonomen Repräsentations- und Prozessorsystem, muss jedenfalls revidiert werden. Kognitionswissenschaft und theoretische Linguistik müssen (an)erkennen, dass die lange als marginal erachteten Emotionen maßgeblichen Einfluss auf die kognitiven Fähigkeiten und sprachlichen Leistungen des Menschen haben und die strikte Trennung von Geist und Gefühl obsolet ist. (Schwarz-Friesel 2008, 297)

Erzählungen können also als ein integratives Medium angesehen werden, die den Rezipierenden mittels verdichteter Erfahrungen, d.h. durch die „prozessuale Interaktion von Emotion und Kognition“ (ebd.), einen emotional-anschaulichen Zugang zu gesellschaftspolitischen Fragestellungen vermitteln. Zum einen bietet dies die Möglichkeit, nicht allein aus eigenen Erfahrungen, sondern auch aus denen anderer zu lernen und so das eigene Handeln weiterzuentwickeln. Storytelling spielt genau mit dieser Erkenntnis, wie ein vergleichender Blick zum Marketingbereich zeigt: Hier wird gezielt versucht, Wissensbestände über Firmen oder Produkte auf eine bestimmte Weise emotional aufzuladen. Zudem fungieren Erzählungen als Chance im Umgang mit Überkomplexitäten und ermöglichen die Aushandlung von Selbstwirksamkeitsstrategien durch die spezifische Weise des Zusammenwirkens von Ästhetik und Ethik: Literarische Formen der Vermittlung setzen auf ästhetische Gestaltungsstrategien, um ethisch-moralische Inhalte zu thematisieren. Literatur ist darum als Zumutung in einem positiven Sinn zu begreifen. Ihr wird eine Mittlerrolle zugeschrieben, da sie kognitive Eindimensionalität durch affektive Gestaltung zu bereichern und Bewusstmachungsprozesse einzuleiten vermag.