Kulturelle Nachhaltigkeit lernen und lehren

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Berbeli Wanning
Der ökologische Umbruch
Wie kulturökologische Literaturdidaktik Perspektiven verändern kann
1. Einleitung

Die Frage nach der Zukunftsfähigkeit und Identität des Menschen ist von hoher Aktualität. Mit Blick auf die Zukunft breitet sich häufig ein apokalyptisches Gefühl aus, ausgehend von einer als zerbrochen empfundenen Gegenwart, deren ökologische Gefahrenlage kaum eingrenzbar zu sein scheint. Schon vor zwanzig Jahren wies der Soziologe und Bildungswissenschaftler Oskar Negt auf die Umbrüche hin, die Kindheit und Jugend in diesem Jahrhundert prägen: Alte Identitätsmuster sind infrage gestellt, und die notwendige Identitätsbalance verschlingt immer größere Teile der kognitiven Energie (vgl. Negt 2002, 235), was neben Kraft auch Zeit kostet, Zeit, welche die Gesellschaft den Kindern und Jugendlichen kaum noch gewährt.

Im wirkmächtigen Diskurs um die „Zukunft als Katastrophe“, die keine Hoffnung bietet (vgl. Horn 2014, 12), verschärft sich die Situation noch: Wir haben diese Zeit gar nicht mehr. Jeder Tag, um den die jetzt bestimmende Generation die ökologische Transformation hinauszögert, wird der nächsten fehlen und deren Handlungsspielraum zunehmend einschränken. Wenn solche Narrative größeren Einfluss auf die Gegenwart gewinnen, können sie zu einer Belastung für die Kinder und Jugendlichen werden, die ihr Heranwachsen und ihre Identitätsfindung mit ökologischen Gefahren wie Klimawandel und Artensterben notgedrungen verbinden müssen, jedoch unbedingt Hoffnung und Perspektiven brauchen.

Literatur und ihre durch literarisches Lernen anzueignenden Inhalte und Verfahren können einen Ausweg aus der negativen Denkspirale aufzeigen und den benötigten Perspektivwechsel herbeiführen. Die kulturökologische Literaturdidaktik macht hierzu Vorschläge, wie Schüler*innen nachhaltig das einschlägige kulturelle Wissen erwerben können, das Literatur zum Thema bereithält. So trägt sie dazu bei, ethische und politische Zusammenhänge literarisch verstehbar zu machen, welche die Grundlage eines menschlichen Handelns bilden, das auf Zukunft gerichtet ist.

Der Beitrag gliedert sich in drei Abschnitte, er stellt Konzepte vor, benennt die Wurzeln und gibt mit dem Hinweis auf Futures literacy einen Ausblick, der die Umbruchssituation nochmals deutlich macht, in der sich die Welt befindet.

2. Konzepte
2.1 Ökologische Herausforderungen für die Literaturdidaktik

Die kulturökologische Literaturdidaktik beschäftigt sich als zeitgemäßer Ansatz der Literaturvermittlung mit der Frage, wie das Verhältnis von Sprache und Literatur zur Natur in aktueller, aber auch historischer Perspektive zu beschreiben, zu bewerten und für Kinder und Jugendliche vermittelbar ist. Damit wendet sich die Literaturdidaktik, die zuletzt wenig von inhaltlichen Lerngegenständen bestimmt war, verstärkt den Themen zu, die für Kinder und Jugendliche und deren Zukunft wirklich relevant sind. Die Beschäftigung mit literarischen, hybriden und medial transformierten Texten bringt für Lernende große Vorteile: Literatur generiert nicht nur einschlägiges Wissen und involviert Affekte und Emotionen, sondern hat Einfluss auf das (zukünftige) Handeln, indem konative Aspekte Handlungsmöglichkeiten aufzeigen, mit denen sich alle, die Literatur vermitteln oder rezipieren, auseinandersetzen können.

Auf diese Weise entsteht ein doppelter Fokus: Literatur nutzt die ihr zur Verfügung stehenden Mittel, um ökologische Themen, die sowohl gesamtgesellschaftlich als auch für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen bedeutsam sind, zu beschreiben, zu gestalten und zu verbreiten. Sie arbeitet dabei mit Sprache, nutzt literarische Zeichen- und Symbolsysteme und die diesen inhärenten Mehrdeutigkeiten. Daraus entstehen Einsichten und Erkenntnisse, wie sie nur das literarische Verstehen generieren kann: Kognitive, affektive und konative Aspekte werden in einem Lernprozess zusammengeführt. So kann Literatur dazu beitragen, Gegenbilder zu medial konstruierten Katastrophenbildern zu entwerfen. Die Aussicht besteht im Kontrast, der als desolat empfundenen Gegenwart mit dem Blick auf eine positiv besetzte Zukunft zu entkommen. Doch auch das Gegenteil, die dystopische Sicht, kann Impulse freisetzen. Verstanden als Warnliteratur, lösen die ästhetischen Lernchancen konative Intentionen aus, eine solche Zukunftsperspektive auf jeden Fall zu verhindern.

Um das ökologische Bewusstsein weiter zu stärken, bedarf es zusätzlich eines Wissenstransfers, wenn z.B. einschlägige Fakten in einen Text integriert und durch Erzähler- oder Figurenrede vermittelt werden (vgl. Kappel 2015, 46). Im Ergebnis werden nicht nur Informationen zu ökologischen Sachthemen in ästhetischer Form weitergegeben, sondern auch Zukunftsszenarien entworfen, wertorientierte Positionen entwickelt und Empathie integriert. Auf diese Weise verbindet sich in der besonderen Form der Literatur ökologische Aufklärung mit der Entfaltung bestimmter Einstellungen, die insgesamt das ökologische Bewusstsein sowie die Identität generierende Bewusstheit unterstützen. Die Funktion des Literaturunterrichts verändert sich dadurch: Hinzu kommt die Weitergabe ökologischen Wissens in Verbindung mit nachhaltigen Werten an die nächste Generation.

Die kulturökologische Literaturdidaktik greift dabei auf zwei andere didaktische Ansätze zurück, die sie zusammenführt. Der rezeptionsorientierte Ansatz setzt auf das Verstehen ökoliterarischer Texte durch kreative Verfahren, wobei das Schreiben bzw. das sprachlichliterarische Gestalten genuin literaturdidaktische Kompetenzen fördert. Sprachliche Sensibilisierung unterstützt das Verstehen kultureller Ökosysteme, die in Analogie zum natürlichen Ökosystem für Heterogenität und Individualität, Vielfalt und Besonderheit stehen. Demzufolge werden individuelle Lernwege besonders berücksichtigt. Der identitätsorientierte Ansatz wird kulturökologisch erweitert, wenn Literatur hilft, Ich-Konzepte in ökologisch prekären Zeiten zu entwickeln. Die Zukunftsinteressen der Schüler*innen stehen hier im Mittelpunkt, so dass literarisches Lernen durch (Natur)Wahrnehmung vielfältiger werden kann. Mithilfe der Beschäftigung mit literarischen Texten wird Bewusstsein geschaffen: Da jeder Text einen Vorstellungsraum öffnet, ist es möglich, diesen mit alternativen Kulturentwürfen und Naturkonzepten zu füllen und die kulturelle Phantasie zu schulen. Da sich Literatur sowohl an der Wirklichkeit orientieren als auch in phantastisch-visionäre Welten eintauchen kann, ergibt sich eine Fülle von Chancen, nachhaltige Themen anzusprechen und emotional-affektiv sowie konativ zu verinnerlichen. Leseförderung ist einer der Wege, hier Veränderungen herbeizuführen. Wie ökologisches Lesen gelingen kann, wird im nächsten Abschnitt erläutert.

2.2 Ökologisch lesen

Ökologische Lesekompetenz ist als Ausdifferenzierung der allgemeinen Lesekompetenz zu verstehen und betont besonders das Zusammenspiel kognitiver, affektiver und konativer Elemente. Diese Fokussierung lässt sich aus drei Theoriebereichen argumentativ unterstützen: Erstens aus der Sozialtheorie, die Nachhaltigkeit als einen Handlungsmodus definiert, „mit dem die Vernutzung von Ressourcen eingedämmt und das Entwicklungsziel der Vorsorge erreicht werden soll.“ (Neckel 2018, 12) Zweitens aus den Bildungswissenschaften, die den Weg vom Umweltwissen zum Umwelthandeln als transformativen Lernprozess beschreiben, der ein wichtiger Bestandteil des lebenslangen Lernens ist (vgl. Sippl 2020, 2). Drittens aus der Literaturdidaktik, der es um „die den literarischen Texten als ästhetischen Konstrukten inhärenten Wert- und Weltvorstellungen geht“, die den Menschen „die überlebensnotwendige Möglichkeit“ eröffnen, „das eigene Handeln weiterzuentwickeln“ (Anselm 2017, 11). Wie kann auf dieser Basis Lesepraxis konkret verändert werden?

Das Mahatma Gandhi Institute of Education for Peace and Sustainable Development (MGIEP) erstellte im Auftrag der UNESCO ein Handbuch, das für die Verankerung von BNE in allen Fächern Handreichungen zur Entwicklung von Lehrmaterialien anbietet. Die Metapher der Verankerung signalisiert die tiefe Integration dieses Bildungsansatzes in das Erziehungssystem, die über eine bloße Ergänzung weit hinausgeht. Die Beschäftigung mit Sprache und Literatur soll zukünftige verantwortungsbewusste Global Citizens zu kompetenten Entscheidungen und Handlungen befähigen. Entsprechend wird Leseförderung nicht nur um ein aktuelles Themenspektrum erweitert, sondern durch die Einbeziehung konativer Elemente nachhaltig verändert.

Zwei Prinzipien leiten diesen Weg. Zunächst rückt die Entwicklung nachhaltiger Lesekompetenz von der Peripherie ins Zentrum, sodann wird multidisziplinär und fächerverbindend das Denken in Zusammenhängen gefördert. Gerade literarische Lesekompetenz spielt hier eine entscheidende Rolle: „Schülerinnen und Schüler lernen durch Literatur verschiedene Perspektiven und Werte, die wir für eine nachhaltige Welt brauchen.“ (UNESCO & MGIEP 2019, 209) Dabei muss sich die Textauswahl nicht zwingend auf Umweltthemen beziehen, sondern es geht um die Art des Lesens, die einen Bezug zur Nachhaltigkeit herstellt: „Ökokritisches Lesen interpretiert literarische Texte, wobei der Blick auf die Umwelt und auf die Beziehung der Menschen zu ihr gerichtet wird – einschließlich der sozialen und ökonomischen Implikationen.“ (Ebd., 210) Auf diese Weise wird jede Bildung zur Umweltbildung.

Wie neuere Forschungen zeigen, gehört Handlungsverstehen zu den literarischen Grundkompetenzen, über die schon kleine Kinder (in Abhängigkeit von ihrer kognitiven Denkentwicklung) verfügen (vgl. Boelmann & König 2021, 52); es wird früh erlernt und müsste verstärkt gefördert werden. Wenn es auf diese Weise gelänge, ein Bewusstsein zu schaffen, das „endlich eine Kohärenz zwischen dem Wissen und dem Verhalten“ (Pape 2019, 188) der Subjekte herstellen wird, wäre die große Transformation einen entschiedenen Schritt vorangekommen – ein wichtiger Mosaikstein, der zur Vollständigkeit eines ökologischen Denkens beiträgt, welches sich aus den nun näher zu beschreibenden Wurzeln der kulturökologischen Literaturdidaktik ableiten lässt.

 

3. Wurzeln
3.1 Ecocriticism

Der Ecocriticism als kulturwissenschaftlicher Forschungsansatz bietet die Chance, mittels Analysen von Literatur und anderen Medien, die einen Fokus auf Umwelt-, Natur- und Nachhaltigkeitsthemen setzen, Texte ökologisch lesbar werden zu lassen. Durch die Übertragung des von Ernst Haeckel 1866 geprägten Begriffs ‚Ökologie‘, der sich ursprünglich auf den naturwissenschaftlichen Bereich (Biologie, Chemie, Physik, Geographie) bezog, erweitert der Ecocriticism das gesellschaftliche und kulturelle Verständnis des Natur-Kultur-Verhältnisses. Er geht von der Grundfrage aus zu klären, wie Kultur, Literatur und Sprache an der Gestaltung von Natur beteiligt sind. In diesem Beitrag ist es kaum möglich, das mittlerweile umfangreiche Forschungsgebiet angemessen zu skizzieren1, deshalb seien an dieser Stelle nur die wichtigsten Entwicklungslinien hervorgehoben, welche die große Bedeutung des Ecocriticism für die kulturökologische Literaturdidaktik unterstreichen. Heute ist es nicht nur in der Schule, sondern bereits im Elternhaus oder in der außerschulischen Bildung wichtig, kritisches Denken in Bezug auf Nachhaltigkeitsfragen bei jungen Leserinnen und Lesern zu fördern, indem sie lernen, Texte ökologisch zu deuten und das darin vorhandene Handlungspotenzial zu erkennen.

Als eine der Pionier*innen machte Karen Glotfelty früh darauf aufmerksam, dass der Ecocriticism drei Stadien umfasst: Erstens, Forschung zu literarischen und medialen Naturbildern, die bewusstseinsbildend wirken. Zweitens, Forschung zur literarischen Tradition, um „vergessene“ Texte neu zu entdecken und zu bewerten. Und schließlich drittens, Forschungen, welche die Bedeutung der Poesie für das Naturverständnis intensiv herausarbeiten (vgl. Glotfelty 1996, 28f). Besonders das erste Stadium, die Bewusstsein bildende Funktion von literarischen Naturbildern, nahm auf die Entwicklung der kulturökologischen Literaturdidaktik beträchtlichen Einfluss. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass sich der Ecocriticism zunächst an lehrerbildenden Universitäten entwickelte (vgl. Garrard 2012, 1) und dass seine Fragestellungen ursprünglich aus einem pädagogisch-didaktischen Kontext stammen: Welche Rolle spielt Literatur für die kulturelle Evolution und das Überleben der Menschheit, ist ökologisches Verstehen durch Literatur überhaupt möglich und wenn ja, dann auf welche Weise?

Der sogenannte First Wave-Ecocriticism, dominiert von didaktischen Zielen und an Praktiken der Literaturvermittlung orientiert, hat sich über zwei weitere „Wellen“ zu einem Sprache, Text und Interpretation verbindenden „Palimpsest“ entwickelt. Diese von Hubert Zapf geprägte Metapher konturiert Verfahren des Über- oder Neu-Schreibens, welche kreativ und mit der Literaturdidaktik eng verknüpft sind (vgl. Zapf 2016, 7). Der First-Wave-Ecocriticism widmete sich zugleich intensiv der Frage, ob, inwiefern und wie ökologisches Verstehen durch Literatur lehr- und lernbar ist. Dabei problematisierte er nicht nur überlieferte Dichotomien wie die zwischen Mensch und Kultur bzw. Mensch und Natur, sondern warf die Frage auf, wie es eigentlich dazu kam, Natur vor allem als eine restlos ausbeutbare Ressource zu sehen – und es ist dieses Denken und Verhalten, das maßgeblich zu der gegenwärtigen Natur- und Umweltkrise beigetragen hat und sich jetzt dringend wandeln muss.

Deshalb ist die Weiterentwicklung des Ecocriticism als Kulturtheorie, mit der sich die Didaktiken kultureller Fächer verknüpfen lassen, dringender denn je. Heute ist der Ecocriticism ein dynamischer und sich ständig verändernder Wissenschaftsbereich, der nicht nur in der Germanistik die Sicht der literarischen Umweltbetrachtung verändert (vgl. Bühler 2016, 46) und die Theorien und Praktiken der Literaturvermittlung beeinflusst hat. Zusammen mit dem umweltpolitischen Programm einer Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) hat der Ecocriticism in seinen übergreifenden, didaktisch-methodischen Auswirkungen viele Inhalte und die Lehr- und Lernmethoden des Deutsch- und Literaturunterrichts verändert.

3.2 Bildung für nachhaltige Entwicklung

Seit die Vereinten Nationen 2015 die weltweit geltenden Sustainable Development Goals mit 17 Zielen nachhaltiger Entwicklung in Kraft setzten, wurde die Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) zu einer dringenden Anforderung, die sich in der Folge auf die gesellschaftliche Rolle der Lehrkräfte ebenso auswirken sollte wie auf Inhalte und Struktur der Unterrichtsfächer und die diesen Wandel unterstützenden Lehr- und Lernverfahren. Seitdem tragen Lehrkräfte als Change Agents (DUK 2015, 20) eine große Verantwortung, wurden sie doch zu den Akteuren dieser Transformationsprozesse bestimmt. Mit dem Ziel einer Global Citizenship Education (GCE) veränderten sich nicht nur die Ansprüche an die Erziehung der nächsten Generation, sondern es wurden Weichen gestellt, um Bildung über mehrere Generationen hinweg nachhaltig auszurichten. Jede junge Generation muss nun mehr einschlägiges Wissen und entsprechende Kompetenzen erwerben, um ein klares Bewusstsein für die Notwendigkeit der Transformationen zur Nachhaltigkeit zu bekommen und entsprechende Handlungsstrategien zu entwickeln, damit sie in der Lage ist, zukünftigen lokalen und globalen Herausforderungen adäquat zu begegnen. GCE soll der Menschheit ermöglichen, gemeinsam an den Projekten zu arbeiten, die Klimawandel, Artensterben und ähnliche globale Probleme aufhalten können.

Nachhaltigkeitsbildung muss heute Elemente wie Entscheidungsfähigkeit und Handlungsabsicht beinhalten – beides wird durch die Beschäftigung mit Literatur gefördert. Die Partizipation der Schüler*innen an der Auswahl von Themen ist daher bereits konzeptionell zu integrieren. Daraus ergeben sich unmittelbare Einflüsse auf den Deutsch- und Literaturunterricht, vor allem eine Stärkung der Inhalte und Kompetenzen, die sich auch daran messen lassen müssen, inwiefern sie dazu beitragen „to making the world a better place for humanity“ (UNESCO 2017, Q 3/A 3). Fächerverbindendes Lernen wird von der Ausnahme zum Standard. Lernen muss systematisch in größere Zusammenhänge, in einen Weltmaßstab, eingebunden werden.

Diese Entwicklung korrespondiert mit konkreten bildungspolitischen Reaktionen auf die internationalen Vereinbarungen. So wurden Rahmenbedingungen für Bildungspläne neu justiert, das partizipative Lernen gestärkt, ein neues Wertbewusstsein geschaffen.2 Der gesellschaftliche Konsens ist groß, wie empirische Studien belegen.3 Ohne eine wertebasierte Erziehung kann Nachhaltigkeitsbewusstsein, das mit Handlungskompetenz verbunden ist, nicht an die kommenden Generationen vermittelt werden; das belegen mittlerweile übereinstimmend Untersuchungen aus den Bereichen Pädagogik (Brandl 2011, 7), Bildungsforschung (Rieckmann & Schank 2016, 67) und Schulentwicklung (Rohmann 2018, 13f).

Diese Einsichten führen zu einem Umdenken mit Blick auf die Kompetenzen, und neue Wege zum Erreichen der neuen Ziele entstehen, beispielsweise das EU-Bildungsprojekt A Rounder Sense of Purpose (RSP), das die einschlägige Sensibilisierung und Qualifizierung von Lehrkräften unterstützt. Die Förderung von u.a. Empathie sowie Werte- und Verantwortungsbewusstsein, die in enger Verbindung zu den 17 SDGs steht, gehört dazu. Grundständige Nachhaltigkeitskompetenzen dürfen nicht in Untergruppierungen zerfallen, damit das entsprechende Lernen nicht in zusammenhanglose Teilgebiete auseinanderbricht: „Such an approach of assessing individual ‚pieces of learning‘ runs counter to the whole notion of holistic thinking that is central to sustainable development.“ (RSP 2019) Vielmehr müssen ganzheitliche Lernprozesse gefördert werden, die fachliches Wissen integrieren. Auf Ganzheitlichkeit gerichtetes holistisches Denken hilft, Visionen für Veränderung zu entwickeln, um Transformation zu erreichen. Die Forderung nach Futures Literacy, von der UNESCO zu einem neuen universellen Bildungsziel bestimmt, macht darüber hinaus noch deutlicher, wohin die Zukunft des Lernens und Lehrens geht. Im Folgenden wagt dieser Beitrag daher einen Ausblick.

4. Ausblicke
4.1 Neue Kompetenzen für die Große Transformation

Die Notwendigkeit nachhaltigen Lernens und Lehrens ist nicht von der Digitalisierung zu trennen, vielmehr geht beides für eine gemeinsame Zukunft Hand in Hand. Der Wissenschaftliche Beirat globale Umweltveränderungen (WBGU), der seit vielen Jahren die jeweilige deutsche Bundesregierung berät, benennt drei Dynamiken, die, Wellen gleich, die Transformation zur Nachhaltigkeit gestalten: Digitalisierung für Nachhaltigkeit, nachhaltige digitale Gesellschaften und die Zukunft des Homo sapiens – das Ziel, auf dessen Weg wir uns bereits befinden: „In der Dritten Dynamik stellen sich Fragen über die Zukunftsfähigkeit sowie Identität des Menschen und menschlicher Gesellschaften im Verhältnis zur sich entwickelnden natürlichen und technischen Umwelt“ (WBGU 2019a, 7). Zur Bewältigung dieser weltweiten Herausforderungen sind gesellschaftliche Dialogprozesse zentral, so der WBGU weiter, und plädiert für die Einrichtung von „Diskursarenen“ (ebd.). Damit die Kinder und Jugendlichen befähigt werden, sich aktiv an solchen Zukunftsdiskursen beteiligen zu können, leistet der Deutsch- und Literaturunterricht in mehrfacher Hinsicht wertvolle Bildungsarbeit. Diese liegt nicht nur auf der Wissensebene, beispielsweise durch Förderung der allgemeinen Sprach- und Lesefähigkeiten und durch die Vermittlung umweltbezogener Inhalte, sondern auch im Bereich der Identitätsbildung und Identitätsreflexion einschließlich der damit zusammenhängenden sozialen Bedingungen und Veränderungen.

Wie oben bereits dargelegt, kann kein Kind im 21. Jahrhundert aufwachsen, ohne sich mit der Umweltkrise und der Digitalisierung zu beschäftigen, die somit unmittelbaren Einfluss auf die Identitätsbildung und Zukunftsfähigkeit gewinnen. Bildung für die digitalisierte Nachhaltigkeitsgesellschaft kann gar nicht früh genug konzipiert werden, zumal es noch viele Unsicherheiten in Bezug auf die Auswirkungen der radikalen Umbrüche gibt, von denen die Gegenwart geprägt ist. Vier Kompetenzen werden daher besonders relevant, die noch über die aus BNE bekannten und z.B. im RSP-Projekt reflektierten hinausgehen und zukünftige Bildungsinstrumente und -formate prägen können. Es sind dies die Transformations-, Nachhaltigkeits-, Antizipations- und Digitalkompetenzen (ebd., 25). Eine davon wird durch literarisch-ökologisches Lernen einzigartig gefördert: die Antizipationskompetenzen.

Sie sind speziell auf die Reflexion ausgerichtet, wie Theorien, Konzepte und Wirklichkeitsannahmen auf Zukunftsvorstellungen wirken und wie diese Vorstellungen von Zukunft wiederum die Handlungen und Entscheidungen der Gegenwart prägen. Beispiele sind die gezielte Suche nach abweichenden Sichtweisen, Sensibilität für strukturelle Macht etablierter Wissensbestände und Praktiken sowie Erfahrungswissen und Lernen durch Erleben oder Simulationen (ebd., 388).

Punkt für Punkt lässt sich nachweisen, inwiefern Literatur den Kindern und Jugendlichen Antizipationskompetenzen vermittelt:

• Literarische Zukunftsvorstellungen sind als Fiktionen zugleich konkrete Wirklichkeitsannahmen.

• So wirken sie auf Handlungen und Entscheidungen der Gegenwart ein, z.B. Dystopien als Warnliteratur.

• Literatur liefert anderes Wissen und ist mehrperspektivisch, sensibilisiert die Lesenden daher gegenüber der Macht etablierter Wissensbestände.

• Literatur ist der Ort schlechthin, um durch fiktionales Erleben und durch Simulationen zu lernen.

Digitalisierung wirkt disruptiv: Die Gesellschaft muss sich ihrer Dynamik anpassen. Der WBGU, eine wichtige Institution nachhaltigkeitsorientierter Bildungspolitik, widerspricht dieser Auffassung und definiert die Zeit des Umbruchs als eine Zeit der Chancen: Digitalisierung muss so gestaltet werden, „dass sie als Hebel und Unterstützung für die Große Transformation zur Nachhaltigkeit dienen“ (WBGU 2019b, 1) kann. Die obigen Ausführungen haben Perspektiven gezeigt, wie ein moderner Deutsch- und Literaturunterricht, gestützt von einer die neuen Kompetenzen berücksichtigenden Literaturdidaktik, hier fördernd wirken kann. Das ganze Bündel an Innovationen, Maßnahmen und Veränderungen lässt sich einem weiteren neuartigen Begriff zuordnen: Futures literacy. Was damit gemeint ist, darum geht es im nächsten Abschnitt.