Kulturelle Nachhaltigkeit lernen und lehren

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Primärliteratur

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Sekundärliteratur

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1 Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, 8. Buch, 5. Kapitel, hier zit. nach Goethe 2002.

2 Vgl. die Zusammenführung der drei Repräsentationen von “Culture in Sustainability”, “Culture for Sustainability”, “Culture As Sustainability” in einen interdisziplinären konzeptuellen Denkrahmen bei Dessein & Soini 2016 sowie die Analysen in Meireis & Rippl 2019.

3 Christian Morgenstern, „Die zwei Wurzeln“, hier zit. nach Morgenstern 2013, 32f.

4 Vgl. die Resolution der Generalversammlung, verabschiedet am 25. September 2015, in deutschsprachiger Übersetzung abrufbar unter https://www.un.org/depts/german/gv-70/band1/ar70001.pdf

5 https://www.bmbwf.gv.at/Themen/euint/ikoop/bikoop/sdgs.html

6 Vgl. https://anthropozaen.ph-noe.ac.at/

7 Vgl. die Beispiele auf https://anthropozaen.hypotheses.org/bzw. https://www.ph-noe.ac.at/de/forschung/forschung-und-entwicklung/anthropozaen/lernszenarien-publikationen

8 Vgl. die Zusammenfassung und Rückschau auf https://anthropozaen.hypotheses.org/666

9 Die lateinischen Bezeichnungen der Hörsäle an der PH NÖ erläutert Lošek 2020; der Text ist, vorgetragen von Burgschauspieler Robert Reinagl, auch nachzuhören unter https://www.ph-noe.ac.at/de/ph-noe/wir-ueberuns/rektorat/wir-gratulieren

10 Vgl. https://www.ph-noe.ac.at/de/forschung/forschung-und-entwicklung/anthropozaen/symposium

11 Vgl. das Booklet zum Download auf https://www.ph-noe.ac.at/de/forschung/forschung-und-entwicklung/anthropozaen/symposium

12 Die künstlerischen Impulse der Kinderbuchautor*innen Melanie Laibl und Michael Roher beim Symposium „Kulturelle Nachhaltigkeit lernen und lehren“ stehen als Interviews zur Verfügung unter https://anthropozaen.hypotheses.org/601 (Melanie Laibl, zu ihrem Buch So ein Mist) und https://anthropozaen.hypotheses.org/630 (Michael Roher, zu seinem Buch Nicht egal!).

13 Deutsche UNESCO-Kommission. Kultur und Natur. Vgl. https://www.unesco.de/kultur-und-natur [06.09.2021]

EINBLICKE I

Gabriele Rippl
Konzepte kultureller Nachhaltigkeit
1. Begriffsklärung: Kultur – Nachhaltigkeit1

Der vorliegende Beitrag dient der fachlichen Klärung des Begriffs ‚kulturelle Nachhaltigkeit‘, er beleuchtet seine Geschichte und stellt das Bedeutungs- und Definitionsspektrum des Begriffs vor. Vor dem Hintergrund des Nachhaltigkeitsdiskurses, samt der drei bekannten Säulen ökonomischer, ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit, sollen folgende zentrale Fragen beantwortet werden: Was ist die Rolle von Kultur im Zusammenhang mit Nachhaltigkeit? Und was muss man sich unter ‚kultureller Nachhaltigkeit‘ vorstellen? Erst die Klärung dieser Fragen liefert die Grundlagen für die bislang nicht erfolgten gesellschaftlichen Transformationen zur Nachhaltigkeit und eröffnet eine innovative, zukunftsorientierte Neugestaltung der Mensch-Natur/Umwelt-Beziehung. Zunächst werden im Beitrag die Begriffe ‚Kultur‘ und ‚Nachhaltigkeit‘ definiert – soweit dies angesichts ihrer langen Geschichte, Komplexität und den zahlreichen Bedeutungsvarianten im kleinen Umfang eines Aufsatzes überhaupt möglich ist. In einem weiteren Schritt werden der Begriff der ‚kulturellen Nachhaltigkeit‘ vorgestellt und schließlich einige zentrale Konzepte kultureller Nachhaltigkeit diskutiert.

‚Kultur‘ ist ein Begriff mit einer vielseitigen Geschichte und zahlreichen wertfreien sowie werthaltigen (d.h. normativen) Verwendungsweisen (einen ausgezeichneten Überblick liefert die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann 2006). ‚Kultur‘ stammt vom lateinischen Wort für ‚pflegen‘, colere, ab; lateinisch cultura bedeutet ‚Pflege‘ und ‚Landbau‘. Der Begriff ‚Kultur‘ wurde in Deutschland erst seit dem 18. Jahrhundert verwendet, zunächst als Fachterminus für Land- und Forstwirtschaft, bevor sich dann „etwa ab 1760 K[ultur] auch in der übertragenen Bedeutung“ ausbreitete und einem „Naturzustand“ gegenübergestellt wurde (Nünning 1998, 290). Heute findet der Begriff in diversen Bereichen Verwendung, die Verwendungsweisen benennen kategorial jedoch durchaus Unterschiedliches und reichen von etablierten Fachbezeichnungen (‚Bakterienkultur‘) bis zu vieldiskutierten, aber oft nicht einheitlich definierten Begriffen wie ‚Populärkultur‘ oder ‚Leitkultur‘ (vgl. A. Assmann 2006, 9). Generell lassen sich engere Begriffsdefinitionen von Kultur von weiteren unterscheiden (vgl. Meireis & Rippl 2019a). In einem engeren Sinne dient Kultur häufig als Synonym für ein gesellschaftliches Teilsystem, also die Literatur oder die bildenden Künste. Dagegen fassen weitere, universale Auffassungen2, die ihren Ursprung im 19. Jahrhundert haben, Kultur als „a process of spiritual and intellectual development“ einer Gesellschaft, als „a whole way of life“ einer Gruppe von Menschen, wie das der englische Kulturwissenschaftler Terry Eagleton (2016, 1) vorgeschlagen hat. Ein solch weiter Kulturbegriff umfasst mithin alles, was Menschen machen, wie sie ihr Zusammenleben organisieren, ihre Symbolsysteme, kollektiven Sinnkonstruktionen, Denk- und Empfindungsweisen, Werte, Rituale, Institutionen, künstlerischen Ausdruckweisen, technischen Errungenschaften, ihren Gebrauch von Medien usw. Mit diesen vielfältigen Dimensionen von Kultur setzt sich die Kulturwissenschaft auseinander (Bachmann-Medick 2006; Dürbeck et al. 2016).

 

Im Zuge transformativer Nachhaltigkeitsbemühungen wird als Problem erachtet, dass ‚Kultur‘ traditionell als Gegenbegriff zu ‚Natur‘ aufgefasst wird. Dieser Dualismus wird heute grundlegend hinterfragt, so dass sich im Englischen bereits ein neues Kompositum herausgebildet hat: ‚natureculture‘ (vgl. Latour 1993; Haraway 2003), welches Natur und Kultur nicht mehr als entgegengesetzte Bereiche auffasst, sondern die ökologische Verflechtung der biophysischen und kulturellen Sphäre unterstreicht. Damit werden neue Sichtweisen und Perspektiven eröffnet. Wichtig ist es nun, die „komplexen Interdependenzen von Naturgegebenem und Menschengemachtem zu analysieren“ (Zemanek 2018, 15), um Natur und Kultur epistemologisch zu rekonzipieren und anhand von innovativer Sprache, originellen Narrativen und frischen Bildern Nachhaltigkeit, Nachhaltigkeitsvisionen und unser Verhältnis zum Planeten Erde und seinem Ökosystem neu zu denken, zu diskutieren, zu formulieren und zu transformieren.

Der Begriff ‚Nachhaltigkeit‘ hat eine zunehmende Verbreitung und Bedeutung erst aufgrund der ökologischen Krise im 20. Jahrhundert und der einsetzenden Umweltbewegung in den 1970er-Jahren erlangt. Er hat jedoch eine lange Vorgeschichte, denn Vorformen finden sich bereits in der Antike und der Vormoderne, auch wenn der Fokus meist auf dem Zeitalter des ‚Anthropozäns‘ liegt, dessen Beginn meist mit dem Aufkommen der Industriellen Revolution um 1800 angesetzt wird (Schliephake et al. 2020, 9–10). Allgemein gesprochen steht der Begriff für ein auf die Zukunft ausgerichtetes Verhalten, welches auf Bewahren und Haushalten setzt (zur Wortgeschichte s. Grober 2013, 18–21). Als Schöpfer des Nachhaltigkeitsbegriffs gilt bekanntlich Hans Carl von Carlowitz, der in seiner viel beachteten Schrift Sylvicultura oeconomica (1713) eine pflegliche, d.h. nachhaltige Holznutzung empfahl, die mit Ressourcen haushaltet (Grober 2013, 10, 112–120, 122–126). Das Konzept ‚kulturelle Nachhaltigkeit‘ lässt sich durchaus daran anknüpfen, blickt man auf die ursprüngliche Wortbedeutung von ‚Kultur‘ im Sinne von ‚pflegen‘ zurück. Um Nachhaltigkeit zu beschreiben, wird (z.B. in christlichen, auch evangelikalen Kreisen) die biblische Schöpfungsgeschichte herangezogen, die den Menschen dazu ermahnt, die Schöpfung zu bewahren. Eine andere, nicht weniger einflussreiche Begriffsbestimmung liefert der viel zitierte Brundtland-Bericht Our Common Future/Unsere gemeinsame Zukunft der UNO-Kommission von 1987, der Nachhaltigkeit im Zusammenhang mit nachhaltiger Entwicklung als eine Entwicklung beschreibt, „welche die Bedürfnisse der gegenwärtigen Generation befriedigt, ohne die Fähigkeit zukünftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen“ (World Commission 1987, 43). Dies sind jedoch nur zwei der vielen Möglichkeiten, den Begriff zu fassen; eine verbindliche Definition des Begriffs ‚Nachhaltigkeit‘, die allen Verwendungsweisen gerecht würde, fehlt bis heute (Johns-Putra et al. 2017).

Zwar hat sich ‚Nachhaltigkeit‘ zu „einem höchst beliebten gesellschaftlichen Leitkonzept entwickelt“ (Kluwick & Zemanek 2019, 11), das omnipräsent ist, es gibt aber auch zunehmend Kritik an der inflationären Verwendung des Begriffs. Die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Stacy Alaimo erklärt den Erfolg des Begriffs ‚Nachhaltigkeit‘ bei Regierungen, in der Geschäftswelt, der Wissenschaft, den Universitäten, dem Städtebau und der Populärkultur, indem sie auf seine psychologische Funktion in unserem sozialen Gewissen verweist: Obgleich wir wissen, dass eine ökologische Katastrophe durchaus möglich ist, glauben wir jedoch nicht daran, dass sie tatsächlich stattfinden wird (Alaimo 2012, 559). ‚Nachhaltigkeit‘ wurde bereits wiederholt für die Gegenwart als trostspendendes Narrativ entlarvt, das jedoch in Wirklichkeit seine Gültigkeit angesichts der nicht rückgängig zu machenden Folgen von Ausbeutung und Zerstörung des Planeten längst eingebüßt hat (Horn 2017). Da Nachhaltigkeit ein dynamischer Prozess ständiger Transformation ist, sind übliche Konnotationen des Begriffs wie Bewahren und Haushalten ohnehin problematisch und führen zu konzeptionellen Problemen, weil sie einen Stillstand, eine Stasis anstreben, und den jetzigen Status quo in die Zukunft projizieren (Johns-Putra et al. 2017, 2). So stellt der Literaturwissenschaftler John P. O’Grady z.B. fest: „nothing stays the same is the very basis of history [and] evolutionary theory“ und deshalb kann es, so folgert er, keine ökologische Rechtfertigung für die Idee der Nachhaltigkeit geben (2003, 3). Dennoch gibt es gute Gründe, am optimistischen Begriff ‚Nachhaltigkeit‘ und an bedingt affirmativ-emphatischen Verwendungen wie ‚Bewahrung‘, ‚Zukunftsfähigkeit‘ und ‚Umweltfreundlichkeit‘ festzuhalten: zum einen, weil das Konzept der Nachhaltigkeit „für so viele Menschen in völlig verschiedenen Bereichen eine solch herausragende Bedeutung und Relevanz besitzt […] und sich nahezu alle in positiver Weise darauf beziehen“ (Schlechtriemen 2019, 28). Zum anderen, weil der Begriff, auch aufgrund seiner Präsenz im öffentlichen Diskurs und in den (Massen-)Medien, nicht nur in der Gesellschaft samt vieler gesellschaftlicher Teilbereiche, sondern heute zudem in der Politik eine zentrale Rolle spielt. Trotz aller berechtigten konzeptuellen Kritik kann heute nicht über Umweltschutz, Ökologie und das Überleben des Planeten Erde samt seiner Lebewesen verhandelt werden ohne Rückbezug auf den Begriff ‚Nachhaltigkeit‘ – in politischen Vereinigungen, NGOs, Unternehmen, Forschungseinrichtungen, Schulen und Universitäten ist er nicht nur eingeführt, sondern weit verbreitet –, auch wenn, je nach gesellschaftsrelevanter Agenda oder Fachrichtung, auf sehr unterschiedliche Verwendungsweisen des Begriffs zurückgegriffen wird.3

2. Kulturelle Nachhaltigkeit

Nachhaltigkeit ist ein normatives Konzept, das auf den sorgsamen und gerechten Umgang mit Ressourcen der Erde und folglich auf eine Balance von ökologischer Schonung, sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlichem Wachstum abzielt. Neben diesen drei ‚Säulen‘ der Nachhaltigkeit wird meist vergessen, dass der Begriff Nachhaltigkeit von Anfang an auch eine wichtige kulturelle Dimension hatte. Was aber ist genau der Beitrag, den Kultur und Kulturwissenschaft zur Nachhaltigkeitsdebatte leisten können? Wenn man davon ausgeht, dass die Intervention der Kulturwissenschaft die Nachhaltigkeitsdebatte verändert, wie sie in ökologischen, ökonomischen und sozialen Kontexten geführt wird, welche neuen Sichtweisen können erbracht werden? Wie kann sie im inter- und transdisziplinären Dialog mit anderen Fächern der Environmental Humanities/der Umweltgeisteswissenschaften (Heise et al. 2017) – etwa Literaturwissenschaft, Theologie, Philosophie oder Kunstwissenschaft – in Nachhaltigkeitsdebatten eine wichtige Rolle spielen? Die Klärung dieser Fragen liefert die Grundlagen für Transformationen zur Nachhaltigkeit und insbesondere für die Entwicklung neuer transformativer Bildungskonzepte samt transdisziplinärer Ansätze und Methoden im Bereich nachhaltiger Entwicklung und ermöglicht innovative Überlegungen zu einer zukunftsorientierten Neugestaltung der Mensch-Natur/Umwelt-Beziehung.

Zweifelsohne beeinflussen die eingangs diskutierten engeren und weiteren Verständnisse des komplexen Begriffs ‚Kultur‘, was man unter ‚kultureller Nachhaltigkeit‘ versteht, welche Rolle und Bedeutung man der Kultur und Kulturwissenschaft zumisst. Während ökologische, ökonomische und soziale Aspekte von Nachhaltigkeit seit dem Brundtland-Bericht von 1987 in öffentlichen und politischen Debatten als Themen präsent und mittlerweile auch in den Lehrplänen europäischer Universitäten und Schulen verankert sind, wird von kulturellen Dimensionen von Nachhaltigkeit bislang zu selten und meist nur im Zusammenhang mit sozialen Aspekten von Nachhaltigkeit im Sinne von ‚kulturellem Erbe‘, ‚kultureller Diversität‘ oder ‚regionaler kultureller Vielfalt‘ gesprochen. Erfreulicherweise reflektieren jedoch internationale Nachhaltigkeitsdebatten in den letzten Jahren zunehmend die Funktion von Kultur im Sinne eines weiter gefassten Begriffs. Während die von der UNESCO organisierte Intergovernmental Conference on Cultural Policies for Development in Stockholm (UNESCO 1998b), aber auch der UNESCO and UNEP 2002 Johannesburg Roundtable on Cultural Diversity and Biodiversity (UNEP 2003) sowie der Beschluss des Johannesburg Summit on Sustainable Development für eine UN Decade of Education for Sustainable Development (UNESCO 2002) Anregungen gaben und sich jedoch auf Themen wie Respekt für kulturelle Diversität und Kreativität konzentrierten (UNESCO 1998a, 13–14; UNESCO 1998b, 93–104; UNEP 2003), wurde die umfassende Bedeutung der kulturellen Dimension von Nachhaltigkeit erst durch die Hanghzou Declaration der UNESCO anerkannt: Sie erklärte die Absicht, die Kultur ins Zentrum der Politik nachhaltiger Entwicklung zu stellen (UNESCO 2013). Zwar hätten die korrespondierenden UN-Resolutionen hinsichtlich der Rolle von Kultur konkreter ausfallen und früher publiziert werden können (65/166, 2010; 66/208, 2011; 68/223, 2013; 69/230, 2014; 70/214, 2015; vgl. Gerber 2019), aber immerhin proklamiert die 2015 verabschiedete UN-Agenda 2030 Sustainable Development Goals (SDGs = Ziele für nachhaltige Entwicklung), darunter einige Ziele, die sich direkt auf Kultur in einem weiteren Sinne beziehen, etwa hochwertige Bildung und nachhaltige (auch künstlerische) Gestaltung von Städten.

Nicht nur politische global players, auch nationale Politiker*innen plädieren jetzt immer häufiger dafür, Kultur nicht nur als eine vierte Säule von Nachhaltigkeit, sondern vielmehr als den allumfassenden Horizont für jegliche nachhaltige Entwicklung zu verstehen. Der Schweizerische Bundesrat, um ein Beispiel zu geben, unterstrich in seiner Kulturbotschaft 2016–2020, dass politische Strategien bei der Förderung nachhaltiger Entwicklung deutlich stärker auf die Aspekte der Kultur und Kreativität ausgerichtet werden müssen.4 Nur durch das Einbinden von Kultur, so die Einsicht, kann der Wandel zu einer nachhaltigen Gesellschaft beschleunigt werden. Dass gerade die Kulturpolitik eine maßgeblichere Rolle bei der Erreichung nachhaltiger Entwicklung spielen sollte, indem sie kulturelle Praktiken und Rechte bewahren hilft, darauf hinarbeitet, dass kulturelle Organisationen und Industrien grüner werden, sich stärker an der Bewusstmachung in Sachen Nachhaltigkeit und der Prävention von Klimawandel beteiligt und schließlich auch zum Handeln und zur Änderung des Lebenswandels im Sinne der nachhaltigen Entwicklung auffordert – das fordern Nancy Duxbury, Anita Kangas und Christiaan De Beukelaer (2017, 214).

Die oben beschriebene Kritik am Nachhaltigkeitsbegriff ist der Interventionspunkt für die Kulturwissenschaft, die auf das kulturelle Defizit des Nachhaltigkeitskonzepts aufmerksam macht (vgl. z.B. LeMenager & Foote 2012; Meireis & Rippl 2019). Es gibt eine Reihe von Gründen, weshalb die Kulturwissenschaft in Nachhaltigkeitsdebatten unverzichtbar ist. Erstens lanciert sie die unerlässliche Diskussion darüber, welchen Typus einer nachhaltigen Gesellschaft oder Weltgemeinschaft man schaffen möchte (Johns-Putra et al. 2017, 4) und welche moralischen, ethischen und sozialen Optionen bestehen, um die ausgehandelten Nachhaltigkeitsziele (etwa soziale Gerechtigkeit, Rückbau aggressiver Formen des Kapitalismus, ausgeglichenes Verhältnis zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden) zu erreichen. Weil der naturwissenschaftlich-technologische Fokus die Nachhaltigkeitsforschung lange dominierte, wurden Fragen zu Machtgefällen, sozio-politischen Unterschieden, symbolischen Universen und kulturellen Werten kaum berücksichtigt. Nach Meinung von Forscher*innen wie Stacy Alaimo liegt dies daran, dass die Nachhaltigkeitsforschung auf einer Epistemologie beruht, die das Erkenntnissubjekt vom Erkenntnisobjekt trennt, d.h. auf einer Subjekt-Objekt-Dichotomie beruht. Solch traditionelle Modelle wissenschaftlicher Objektivität und Autorität zu hinterfragen, ist eine zweite zentrale Aufgabe der Kultur- und Geisteswissenschaften. Alaimo spricht in diesem Zusammenhang von „posthumanities“ (Alaimo 2012, 562) und knüpft damit an den ‚material turn‘ und Überlegungen von Rosi Braidotti an, die das Subjekt/menschliche Akteure nicht nur in soziale, sondern immer auch in nicht-menschliche Netzwerke eingebettet sieht (Braidotti 2006). Eine dritte Funktion kulturwissenschaftlicher Nachhaltigkeitsforschung bezieht sich auf die Überwindung einer reduktiven, auf die menschliche Sphäre bezogenen Nachhaltigkeitsdebatte, welche die nicht-menschliche Welt von ihren Überlegungen ausschließt (vgl. Alaimo 2012). Zudem hilft die ausgeprägte hermeneutische Kompetenz der Kulturwissenschaft hinsichtlich der kulturübergreifenden Bedeutung von Schlüsselbegriffen dabei, die Tradition und Tradierung von Wissensbeständen, Erkenntnis- und Wahrnehmungsmustern zu analysieren.

 

Wie unterschiedlich kulturelle Nachhaltigkeit heute verstanden wird, zeigen mehrere Publikationen. Ein Abschlussbericht des europäischen Forschungsnetzwerks (COST – European Cooperation in Science and Technology, Dessein et al. 2015) weist ebenso wie ein wegweisender Aufsatz, den Joost Dessein und Katriina Soini 2016 vorlegten, nach, dass Kultur ein wichtiger Faktor in Bemühungen um nachhaltige Entwicklung ist, da Kultur ökologische, soziale und ökonomische Aspekte von Nachhaltigkeit integriert. Besonders aufschlussreich ist auch die von Katriina Soini und Inger Birkeland vorgelegte Analyse verschiedener Verwendungen des Begriffs ‚kulturelle Nachhaltigkeit‘ in wissenschaftlichen Publikationen (Soini & Birkeland 2014; Banse et al. 2011), weil sie die Wichtigkeit kultureller Werte in den jüngsten Nachhaltigkeitsdebatten ins Zentrum rückt (Soini & Birkeland 2014, 214) und aufzeigt, dass kulturelle Nachhaltigkeit häufig sehr unterschiedlich verwendet wird, „from both narrow (culture as art and heritage) to broad (culture as a way of life; network of meanings)“ (Soini & Birkeland 2014, 218). Kultur wird zuweilen als Instrument aufgefasst, um ökonomische, soziale und ökologische Nachhaltigkeit zu erreichen (Soini & Birkeland 2014, 220); andere Forscher*innen verstehen kulturelle Nachhaltigkeit neben der ökonomischen, ökologischen und sozialen Nachhaltigkeit als vierte Säule der Nachhaltigkeit (vgl. Hawkes 2001; Krainer & Trattnigg 2007; Krainer & Heintel 2012). Für Hildegard Kurt und Bernd Wagner umfasst kulturelle Nachhaltigkeit „gleichberechtigt zu den drei Säulen Ökonomie, Ökologie, Soziales auch Kultur als quer liegende Dimension“ (2002, 13) und hat integrative Wirkung. Das heisst, dass kulturelle Nachhaltigkeit als Querschnittsthema der ökonomischen, ökologischen und sozialen Komponenten von Nachhaltigkeit verstanden wird, weil jede Art der Thematisierung immer kulturell vermittelt ist, d.h. auf bestimmten Wahrnehmungsmustern, Erkenntnismethoden, Wissensbeständen und Werten beruht. In diesem Verständnis ist Kultur nicht nur ein Instrument, sondern die notwendige Grundlage für die Erreichung nachhaltiger Entwicklungsziele, was schlussendlich zu einem neuen Paradigma in der Nachhaltigkeitsdebatte führt: „culture is considered in terms of a new, overarching concern or even a new paradigm in sustainable development thinking“ (Soini & Birkeland 2014, 221). Dieses neue Paradigma geht konsequent von der Naturzugehörigkeit des Menschen aus, was epistemologische Umorientierungen zur Folge hat. Hier liegt ein umfassender Kulturbegriff zugrunde, der nicht nur ‚kulturelle Vielfalt‘ und die Künste meint, sondern die ganze Lebensweise von Menschen im Netzwerk und Austausch mit ihrer Umwelt, ihrem Gebrauch semiotischer Systeme und Medien sowie ihre Konstruktionen von Welt und Werten. In diesem Sinne verstehen auch Torsten Meireis und Gabriele Rippl (2019) Kultur und schlagen vor, die kulturelle Dimension von Nachhaltigkeit nicht als vierte Nachhaltigkeitssäule aufzufassen, sondern Kultur als den alle anderen Dimensionen umfassenden Horizont zu verstehen. Gemäss Meireis und Rippl ist Nachhaltigkeit ohne Rückbezug auf „inner dimensions of sustainability“ (Horlings 2015), d.h. auf eine Wertedebatte und -orientierung, nicht zu denken, und Kultur damit der zentrale Faktor, wie Werte gebildet und vermittelt werden.