Kulturelle Nachhaltigkeit lernen und lehren

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2. Zu den jugendlichen Protestbewegungen damals und heute



Inwiefern ist das wiederkehrende Moment des Protestes, das sich in

Das Städtchen Drumherum

 in allgemeinem Einvernehmen auflöst, auf die heutige Zeit übertragbar? Der Diskurs um die „Jugend als Kraft politischer Erneuerung“ (Großegger 2017) scheint heute anders geführt zu werden, als noch vor einem halben Jahrhundert, gibt die wissenschaftliche Leiterin des Instituts für Jugendkulturforschung Beate Großegger zu bedenken. Ein wesentlicher Grund dafür ist die geänderte Arbeitsmarktsituation, die auch die Jugend vor neue Herausforderungen stellt. Herrschte noch zu Beginn der 1970er-Jahre nahezu Vollbeschäftigung in den deutschsprachigen Ländern, sind die letzten beiden Jahrzehnte von „Krisen“ (Weltwirtschaft, Flüchtlinge, Corona etc.) geprägt. Wiederholt wurde der jungen Generation ein Rückzug vom Politischen hin zum Privaten, verbunden mit Trägheit und Egoismus attestiert. An die Populärkultur angelehnte Formulierungen wie „Neo-Biedermeier“ oder „Generation Me“ stehen sinnbildlich für die Generationen Y und Z. Aufrufe zu mehr politischem Engagement blieben ungehört. Die Post-Millennials seien angepasster als ihre (Groß-)Eltern und stärker von einem Krisenbewusstsein geprägt: Sie „reagieren nicht etwa mit Gestaltungswillen oder Protest. Sie suchen nicht nach neuen Wegen. Und sie experimentieren auch nicht mit Selbstkonzepten, die in Abgrenzung zu den Werten und Lebensphilosophien des Etablierten entstehen.“ (Großegger 2017)



Diese Einschätzung findet sich in zahlreichen Texten der angewandten Sozialforschung. Noch 2013 kamen die Autor*innen der 16. Shell Jugendstudie (2010) zu folgendem Ergebnis: Besonders im deutschsprachigen Raum äußere sich politische Partizipation bei Heranwachsenden selten durch Protest auf der Straße, sondern fände ihren Ausdruck vielmehr in Anpassung und Geduld, verbunden mit einem von Individualismus geprägten Pragmatismus (vgl. Hurrelmann, Albert & Quenzel 2013, 345). Dem gegenüber stehen rezente Ereignisse, wie die seit 2018 von Kindern und Jugendlichen mitinitiierten Proteste „Fridays for Future“ oder auch die 2020 durch den Tod von George Floyd (1973–2020) ausgelösten Demonstrationen „Black lives matter“. Sie relativieren die Bewertung einer vornehmlich auf das Private konzentrierten Jugend. Die Folgeuntersuchungen aus den Shell Jugendstudien aus 2015 und 2019 zeichnen dementsprechend ein positiveres Bild der vermeintlich träge gewordenen Jugendlichen. Gesamt gesehen steige das Interesse zur politischen Mitbestimmung:



Einer Jugend, für die der Aufenthalt in der digitalen Welt mittels Smartphone stark die Lebenswelt bestimmt, machen Umweltzerstörung und Klimawandel Angst. Es bleibt aber eine deutliche Vielfalt anerkennende und tolerante junge Generation. Einer Generation, bei der heute ein Drittel einen Migrationshintergrund oder nicht die deutsche Staatsbürgerschaft hat, macht dabei Ausländerfeindlichkeit deutlich mehr Angst als die Zuwanderung nach Deutschland. (Albert, Hurrelmann, Quenzel & Schneekloth 2019, 489f.)



Doch ist das sich hier zeigende Umweltbewusstsein, ähnlich wie in den 1970er-Jahren, klassenübergreifend? Jüngere, auf den deutschsprachigen Raum konzentrierte, empirische Studien zeigten zudem den Einfluss der (oberen) Mittelschicht, betont der Soziologe Bjorn Milbradt. Noch immer gelinge es nicht, Politikbewusstsein und sozioökologisches Interesse in allen sozialen Gesellschaftsklassen zu erwirken: „Aus der Sicht von Demokratieförderung und politischer Bildung stellt sich einmal mehr die Frage, wie eigentlich all jene für Politik und gesellschaftliches Engagement zu gewinnen sind, die an solche Bewegungen nicht anschließen können oder wollen.“ (Milbradt 2020, 4)





3. Erstaunliche Parallelen: Anzeichen für eine anhaltende Aktualität von Kinderbüchern aus den 1970er-Jahren?



Gerade hier zeigt sich die Bedeutung dieses mittlerweile in 16. Auflage (2015) vorliegenden Kinderbuchs, das ganz zu Beginn „des roten Jahrzehntes“ (Koenen 2001) steht und einen besonderen Platz in der österreichischen Kinderliteraturgeschichte der Zweiten Republik einnimmt. Fast ließe sich diese Erzählung auf viele Initiativen, die von kindlichen bzw. jugendlichen Akteur*innen angeführt wurden, übertragen. In

Das Städtchen Drumherum

 spielen jedoch auch phantastische Elemente eine wichtige Rolle. So können die Kinder ihren Vater nicht von seinem Unrecht überzeugen. Erst durch das Eingreifen eines magisches Wesens, des Waldgeistes Frau Hullewulle, und vier aufeinander folgenden Traumszenen gewinnt dieser Einsicht: Es gelte den Lebensraum der Tiere zu schützen.



Träume sind wichtige Erzählbausteine der kinderliterarischen Phantastik, die, argumentiert der Literaturwissenschaftler Rüdiger Steinlein, vorwiegend als Narrativ im Sinne eines größeren Modells oder als Motiv auftreten. In

Das Städtchen Drumherum

 nimmt der Traum deutlich letztere Funktion ein: „Der Traum als

Motiv

 beruht auf der alten Überzeugung, dass Träume in bildhafter Verschlüsselung oder Verrätselung die Wahrheit – z.B. über die Zukunft des Träumers – aussagen.“ (Steinlein 2008, 72) Folglich unterstützt der Bürgermeister nun das Vorhaben der Kinder und stellt sich schützend vor den Wald. Auch das Miteinander der Generationen funktioniert wieder und der Bürgermeister wird sogar zum „Ehrenkind“ ernannt. Die Illustrationen verdeutlichen den Gesinnungswandel: Ein handgeflochtener Blumenkranz ersetzt den schwarzen Zylinder. Am Ende steht fast schon eine kleine Utopie: Die um den Wald herum erweiterte Stadt wird zum Vorbild für den internationalen Städtebau.












Abbildung 3: Ausschnitt des Covers: Der Bürgermeister als bedrohter Schmetterling. (© Verlag Jungbrunnen Wien)





Es ist bezeichnend für die 1970er-Jahre, Konzepte von Urbanität zu propagieren, deren Umsetzung lange Zeit fragwürdig schien. Das Mäandern zwischen magischen und realistischen Elementen findet sich ebenfalls in Mira Lobes Text. Gerade der Einsatz der phantastischen Figur betone die Fiktion. Für den Literaturwissenschaftler Ernst Seibert weist die Erzählung ein offenes Ende auf, denn „schließlich ist es nicht von der Hand zu weisen, dass die Vision einer um einen Wald herumgebauten Siedlung nicht tatsächlich so etwas wie eine Realutopie sein könnte.“ (Seibert 2005, 172) Gerade mit Blick auf einen gewachsenen Wald mag dies auch heute noch stimmen. Die in

Das Städtchen Drumherum

 entwickelte Grundidee ist jedoch gerade heute zeitgemäß: Die zunehmende Verstädterung wird per se nicht infrage gestellt, aber der Bedarf nach einer Stadtentwicklung im Sinne einer Re-Ökologisierung sehr deutlich gemacht. Der Vergleich mit neueren Projekten im europäischen Städtebau zeigt eine erstaunliche Aktualität des Kinderbuches: In Deutschland werden brachliegende Flächen im städtischen Raum dazu genutzt, neue Wälder entstehen zu lassen. Neuere städtebauliche Konzepte, wie sie etwa in Leipzig verwirklicht werden, weisen den „urbanen Wäldern“ durchaus zukunftsweisendes Potenzial zu (vgl. Rink & Arndt 2011). Die Bedeutung des Waldes für die Stadt wird auch im Sinne der zunehmenden Überhitzung in den Sommermonaten diskutiert. Ein aktuelles Projekt dazu, in dem der urbane Wald dargestellt wird, zeigt die Installation des Klima-Kultur-Pavillons in Graz (2021).












Abbildung 4: Am Ende wird der Zylinder wird durch einen Blumenkranz ersetzt. (© Verlag Jungbrunnen Wien)





Mira Lobes und Susi Weigels Geschichte hatte gerade für die österreichische Kinderbuchszene Vorbildcharakter. Das aufkommende Problembewusstsein für Fragen der sozioökologischen Transformation zeigt ebenso das Bilderbuch von Wolf Harranth (*1941)

Da ist eine wunderschöne Wiese

 (1972), in dem bewusst mit herkömmlichen Erzählmustern experimentiert wird. Auch hier wird die Sehnsucht der Stadtbewohner*innen nach mehr Grünraum thematisiert: Herr Timtim zeigt den Städter*innen eine grüne Wiese, die ganz im Gegensatz zu dem städtischen Grau steht und ideal zur Freizeitgestaltung anmutet. Die Urbanisierung schreitet rasch voran. Mehr und mehr Menschen kommen, das Grün wird in Parzellen geteilt, umzäunt, Geschäfte und eine Fabrik eröffnen. Doch die Idylle ist verschwunden: „Da denkt Herr Timtim zum erstenmal nach. Und alle anderen Leute denken mit ihm. Ganz still ist es. || Man hört nur den Lärm von der Straße und den Lärm aus der Fabrik.“ (Harranth 1972, 29) Um Erholung zu finden und dem Fabriks- und Straßenlärm zu entkommen, führt Herr Timtim die Menschen wiederum aus ihrem Wohnumfeld heraus, zu einer unbebauten grünen Wiese: „‚… da ist eine wunderschöne Wiese. Hier wollen wir bleiben.‘“ (Harranth 1972, 30) Das Ende nimmt den Anfang des Buches wieder auf, eine deutliche moralische Botschaft findet sich, anders als in

Das Städtchen Drumherum

, nicht: Ob die Menschen nun einen gewissenhafteren Umgang mit der Umwelt haben werden und was mit den bereits verbauten Flächen geschieht, wird nicht angedeutet.



Mit diesem offenen Ende zeigt sich deutlich, wie sehr die Trennlinie zwischen Kinder- und Erwachsenenliteratur uneindeutig gehalten wurde: Dies entspricht dem damals erhobenen Anspruch einer Literatur für Kinder, die diese auf die Zukunft vorbereitet und sie zu sozialpolitisch verantwortungsvollen Akteur*innen macht. Die im Text nicht versprachlichte Quintessenz („Denkt nach und macht es besser!“) ist daher Teil der literarischen Konstruktion: Dies ist bezeichnend für den Einfluss damals vieldiskutierter pädagogischer Ansätze (etwa von Jean Piaget, 1896–1980, und Lawrence Kohlberg, 1927–1987), der sich ebenso im Bereich der Kinderliteratur zeigte. Erst im Prozess der Auseinandersetzung, im gemeinsamen Sprechen über den moralischen Konflikt, kann das „Dilemma“ (Kohlberg) gelöst werden und somit ein höheres moralisches Entwicklungsniveau erreicht werden.

 





4. Wiederkehrende Motive im Nachhaltigkeitsdiskurs der 1970er-Jahre



Die 1970er-Jahre sind auch die Zeit eines neuen Miteinanders auf Seite der Autor*innen und Institutionen. Die akademische Etablierung der Literatur für die Jugend beschleunigte sich, wobei die internationale Vernetzung zunahm. Dafür steht etwa die Gründung der „International Research Society for Childrens’ Literature“ (1970). Für die (oftmals internationale) Zusammenarbeit stehen viele Anthologien, die damals entstehen und Schreibende aus unterschiedlichen Ländern versammeln. Der Verleger Hans Joachim Gelberg war selbst an diesen Prozessen beteiligt. Er nennt die größte Errungenschaft der Autor*innen dieser Zeit, eine „Literatur wirklicher Nähe“ (Gelberg 2015, 8) geschaffen zu haben: „Literatur der Erfahrung also, Literatur im Generationen-Dialog, Entwicklung sozialer Fantasie. Das Wagnis, Kindern eine Literatur vorzulegen, die Anspruch und Maßstab aus der Erwachsenenliteratur bezieht.“ (Gelberg 2015, 8) Engagiert waren viele Verlage tätig, für Deutschland stehen hier etwa Beltz-Gelberg, Bitter und Anrich, Ellermann, Hanser sowie Suhrkamp (vgl. Doderer 2015, 5).



In Österreich erschienen zahlreiche – damals als „fortschrittlich“ geltende Texte – bei Jungbrunnen und Jugend & Volk. Hier wurden die meisten Texte der Gruppe der Wiener Kinder- und Jugendbuchautor*innen veröffentlicht. Die Gründung dieses Kollektivs kann als eines der stärksten Signale für die Aufbruchsstimmung der 1970er-Jahre gedeutet werden. Sie stellt in der österreichischen Kinderliteraturgeschichte eine Zäsur dar, da sie auch als ein Widerstand gegen die Deutungshoheit etablierter Einrichtungen, wie dem Buchklub der Jugend, gesehen werden (vgl. Seibert 2015, 72). Verbunden mit der Eigeninitiative der Autor*innen war das Bemühen um eine Neudeutung der Kinderliteratur im literarischen Diskurs, fernab der Vorherrschaft institutioneller Settings und Regelungsversuche. Zum engsten Kreis dieses Kollektivs zählten neben Mira Lobe, Wilhelm Meissel (1922–2012), Vera Ferra-Mikura (1923–1997), Hans Leiter (1926–1990), Käthe Recheis (1928–2015), Ernst A. Ekker (1937–1999), Renate Welsh und Lene Mayer-Skumanz (*1939). Zeittypische Diskurse dürften bei der Themenauswahl eine wichtige Rolle gespielt haben. Den Einzelwerken der Autor*innen folgten bis in die 1980er-Jahre hinein zahlreiche Anthologien, in denen unterschiedliche Facetten des Nachhaltigkeitsdiskurses (u.a. Umweltschutz, Ressourcenknappheit, Afrika) aufgenommen wurden (vgl. Huemer 2015, 114). Dabei sind die Texte als Signal an eine junge Generation zu verstehen, das einen klaren Aufruf zur politischen Partizipation impliziert. Aber auch die Einzeltexte der Autor*innen, die in der Gruppe stark besprochen wurden, weisen „Empörung“ als ein zentrales Motiv auf. In

Die Zeiger standen auf halb vier

 (1987), einem der letzten preisgekrönten

2

 Kinderbücher des unter dem Pseudonym Hans Domenego schreibenden Autors Hans Leiter, wird die Welt aus Sicht eines hochbegabten Kleinkindes erzählt. Seine Wut richtet sich gegen die Erwachsenen:



Sagen Sie den afrikanischen Kindern, die morgen oder übermorgen an Hunger sterben werden: Euer Tod hat nichts mit Politik zu tun. Sagen Sie den Kindern, die wochenlang auf einem Floß übers Meer flüchten: Eure Angst hat nichts mit Politik zu tun. Vergessen Sie auch nicht die Kinder, die von Bomben verbrannt werden, von den Terror-Bomben der Attentäter und von den Terror-Bomben der Pflicht-Tuer in Militärflugzeugen, und erklären Sie ihnen: Eure Schmerzen haben nichts mit Politik zu tun. Und sagen Sie, bitte, den Kindern in den beiden Hälften der Welt: Der Hass, den man euch eingepflanzt hat, der hat nichts mit Politik zu tun. (Domenego 1987, 86)



Dabei findet sich in den Kinderbüchern, die im Kreis der Gruppe entstanden, ein deutlicher Appell, politisch mitzuwirken und nicht alles hinzunehmen. Der Vorwurf, solche Texte seien Radikalisierungsliteratur, wurde erhoben. Gerade Mira Lobes Roman

Die Räuberbraut

, dessen Veröffentlichung in die Zeit der RAF-Attentate fiel, löste heftige Kritik aus (vgl. Wolf 1978). Ökologie ist einer der vielen Themenkomplexe, der in

Die Räuberbraut

 angesprochen wird. Auch hier kommt dieses Thema in Verbindung mit dem Motiv der (jugendlichen) Empörung vor. Die Protagonistin durchlebt jedoch einen Wandel von einer Träumerin hin zu einer sozial engagierten Akteurin: Am Ende gründet sie ein Kollektiv und beschließt, gemeinsam mit ihren Freund*innen „wirklich-etwas-zu-tun“ (Lobe 1974, 199), sich also in ihrem sozialen Umfeld für eine gerechtere Gesellschaft einzusetzen.



Interessant ist die Selbsteinschätzung der in diesem Kollektiv Mitwirkenden, die, zumindest was die Kinderbuchpublikationen in Österreich anbelangt, oftmals eine Art Themenführerschaft übernommen haben. Literatursoziologische Vergleiche mit anderen Autorenkollektiven, in denen die unterschiedlichen Wechselwirkungen (Mitwirkende, Verlage, Werke u.a.) berücksichtigt werden, stehen bislang noch aus. Die Herausbildung eines sozialökologischen Bewusstseins ist jedenfalls vielen Texten dieser Gruppe eingeschrieben. Es gab zahlreiche Einzelveröffentlichungen, die ebenso erkennen lassen, wie sehr sich die Gruppenmitglieder untereinander ausgetauscht haben. Exemplarisch mag dies an dem Kinderbuch

Tante Tintengrün greift ein

 (1973) von Wilhelm Meissel gezeigt werden. Sowohl die Handlung als auch die Motive weisen frappierende Ähnlichkeiten zu

Das Städtchen Drumherum auf

.



Kurz sei der Plot an dieser Stelle skizziert: In den Städten Dinglstadt und Dunglstadt wird Stadterweiterung anvisiert, ein Flugplatz und etliche Hochhäuser sollen gebaut werden. Dies stellt jedoch eine Bedrohung für den idyllischen Wald dar, durch den ein kleiner Fluss läuft und der den Kindern bislang als Spielgrund diente. Sie sind es auch, die sich vehement gegen die neuen Baumaßnahmen wehren. Gemeinsam mit zwei Außenseiter*innen, Adelheid Tintengrün mit dem „Chlorophyllblick“ (Meissel 1973, 27) und dem lärmmeidenden Adalbert Seidelstroh, der über eine „Zeitstehstillmaschine“ (Meissel 1973, 29) verfügt, machen sie sich auf, den Wald zu retten. Anders als in

Das Städtchen Drumherum

 bleibt es jedoch nicht nur bei einem bösen Traum. Die Dystopie wird zunächst Wirklichkeit und den Naturgeräuschen weicht industrieller Stadtlärm:



Mittlerweile aber bauten die Männer von Dinglstadt und Dunglstadt eine Untergrundbahn und eine Brücke über den See, und Autobahnen und Schnellstraßen und normale Straßen. Die Autofahrer auf den Autobahnen winkten denen auf den Schnellstraßen und umgekehrt, und die Autofahrer auf den normalen Straßen winkten denen auf den Schnellstraßen und umgekehrt, so nahe lagen die Straßen nebeneinander, mit einem Wort, es gab schon mehr Straßen als Futterweiden und Wiesen und mehr Unterführungen und Überführungen und Einfahrten und Ausfahrten und Zufahrten und Abfahrten als Rübenäcker und Weizenfelder. (Meissel 1973, 64)



Der Lärm hindert die Erwachsenen jedoch an ihrer Arbeit: Die Zerstörung soll wieder rückgängig gemacht werden. Die rettende Idee stammt wieder von einem Kind – die Zeit wird auf magische Weise zurückgedreht. Aus Dank wird er von den etwas titelverliebten Erwachsenen zum „Professor für Naturzustandserhaltung“ (Meissel 1973, 94) ernannt. Die Kinder schreiben diese Bezeichnung auf einen Zettel und verbrennen ihn. Am Ende steht, wie bereits in

Das Städtchen Drumherum

, der Wald als locus amoenus, der Kindern und Tieren gleichsam ein Refugium bietet:



Einige liefen hinaus aus dem Wald, an dessen Rand ein schmaler Ackerstreifen war, der niemand gehörte. Dort holten sie die Erdäpfel. Einige Hasen waren darüber verärgert, weil sie gestört wurden, ein Eichelhäher schimpfte hinter den Erdäpfelklaubern her, der Geruch von Holzfeuer und Föhrenharz zog schwer und süß durch das Unterholz, und ein Kuckuck rief von weither. Die Bäume warfen lange Schatten, der Wind schaukelte hohe Gräser, einige Wespen surrten durch die Luft. Auch Schmetterlinge gab es. Es war schön. || Hoffentlich gibt es ihn noch, den Dinglstädter und Dunglstädter Urwald – recht lange, immer, in ewige Zeiten. (Meissel 1973, 94)



Die Darstellung des Waldes ist in beiden Kinderbüchern durchaus ähnlich. Dem Wald wird zudem eine klare Bedeutung zugewiesen: Er ist ein Rückzugs- und Spielort, an dem Kinder und Tiere quasi friedlich nebeneinander walten. Auch rezente deutschdidaktische Publikationen betonen das Potenzial dieses Bestandteils des Lernraums Natur für den Unterricht: Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf das jüngst erschienene Heft

ide. Informationen zur deutschdidaktik

, das sich schwerpunktmäßig dem Wald widmet (vgl. Esterl & Mitterer 2021, 5–10).



Tante Tintengrün greift ein

 zählt, wie

Das Städtchen Drumherum

 und

Da ist eine wunderschöne Wiese

, zu den erfolgreichsten Kinderbüchern mit sozioökologischem Anspruch der 1970er-Jahre. Sie zeigen noch deutlich die Aufbruchsstimmung der 1968er-Generation, die sich besonders stark im damals als „fortschrittlich“ bezeichneten Kinderbuch manifestierte. Alle drei waren Longseller und weisen durch ihre generationenübergreifende Bekanntheit einen allgemeinen hohen Wiederkennungswert auf, der erst heute, rund fünfzig Jahre später, nachzulassen scheint. Gemein ist den drei Texten, dass am Ende ein Ort in der Natur beschrieben wird, ein kindlicher Freiheitsraum, der bevormundungsfrei ist – wenn auch nicht frei von Erwachsenen. Solche Darstellungen sind geradezu exemplarisch und können auch als Sieg über den in der Kinderliteratur stark verfestigten „Traditionalismus“ (Ewers 2013) gesehen werden.





5. Abschließende Gedanken für die Anwendung im Grundschulunterricht



Die Natur als ehemals weithin unbekanntes Phänomen hat längst ihren bedrohlichen Charakter verloren, und zwar im Hinblick auf zahlreiche, furchteinflößende meteorologische Phänomene (wie Gewitter, Hagelsturm usw.) – die heute großteils natürlich erklärbar sind. Andererseits beschäftigt Natur heute den Menschen durch eine Bedrohlichkeit, die sich als Folge menschlichen Handelns in und an der Natur ergibt.



Umwelterhaltung und Klimaschutz sind, wie hier in Bezug auf historische Kinderliteratur abgehandelt, entscheidende Herausforderungen von heute. In seiner rasanten technischen Entwicklung eröffnet das Anthropozän, dieser kurze Abschnitt der Erdgeschichte, ungeahnte neue Möglichkeiten für die Spezies des Homo Sapiens: in Medizin, in Forschung und Wissenschaft, in Mobilität. Dies bringt dem Geschöpf Mensch, das wie kein anderes Wesen vor ihm die Erdgeschichte geprägt hat, gleichzeitig aber auch große Risiken: eine unkontrollierte oder kriegerisch eingesetzte Atomkraft, eine Überbevölkerung und ungerechte Ressourcenverteilung, eine künstliche Intelligenz mit ihren Möglichkeiten zur grenzenlosen Kontrolle des Individuums, und eben eine Zerstörung der Umwelt, ein Artensterben, einen Klimawandel, der zwangsläufig auf den Menschen zurückschlägt. Junge Menschen rechtzeitig mit diesem Thema zu befassen und sie zu gesellschaftspolitisch verantwortungsvollen Akteur*innen zu machen, ist eine vordringliche Aufgabe.



Diskutiert wurde im Rahmen dieses Artikels, inwieweit Kinderliteratur auch von vor fünfzig Jahren einen wertvollen Beitrag zur Bewusstseinsbildung bei Kindern leisten kann. In Österreich entstandene Bilder- und Kinderbücher aus vergangenen Epochen finden heute im Grundschulbereich wohl immer wieder, aber vielleicht nicht ausreichend systematisch Verwendung: Neuere Didaktisierungsvorschläge zur Nachhaltigkeit für den Deutschbzw. Sachunterricht greifen oft nicht auf ältere Kinderliteratur zurück (vgl. etwa Nosko & Plank 2020). Eine Didaktik, die auf generationenübergreifendes Literaturwissen verzichtet, beraubt sich jedoch selbst einer wichtigen Dimension, da sie sich dem Primat ständiger Erneuerung unterwirft. Der Vorwurf der Überalterung von Text und Bildern liegt nahe, lässt sich aber bei einer überlegten Auswahl entkräften. Literarästhetisches Lernen ist im Lernraum Schule an keine Altersstufe gebunden, bereits im Grundschulalter können Texte aus der historischen Kinderliteratur herangezogen werden. Die Auswahl erfordert jedoch Geschick: Sprache ändert sich nicht nur rein äußerlich (Rechtschreibung und Grammatik), auch die Benutzung gewisser Ausdrücke und Sprachbilder ist einem stetigen Wandel unterworfen. Die in den Medien oft sehr einseitig geführte Debatte um politische Korrektheit in Kinderbüchern müsste weitaus differenzierter geführt werden, indem bereits früh ein Bewusstsein für ihre Konstruktion, den Wandel in der sprachlichen und bildlichen Darstellung geschaffen wird. Konkrete didaktische Modelle stellen bislang ein Desiderat dar.

 



Historische Kinderliteratur wie Lobes und Weigels Bilderbuch können im Sinne einer größeren Sensibilisierung einen wichtigen Beitrag leisten, da in ihnen ein offener Protest in einer deutlichen Form gezeigt wird. Der Nachhaltigkeitsdiskurs lässt sich seit den 1970er-Jahren verstärkt in der österreichischen Kinderliteratur nachweisen. Dies wurde exemplarisch an Kinderbüchern, welche die sozioökologische Transformation behandeln, gezeigt. Dabei konnte (kindliche) Empörung als ein zentrales Motiv ausgemacht werden. Der Widerstand der Kinder richtet sich aber, und dies wurde in den ausgewählten Kinderbüchern deutlich, anders als heute vielmehr auf das unmittelbare Umfeld. Veränderung fängt, auch dies mag eine wichtige literaturdidaktische Erkenntnis sein, im Kleinen an. Dabei stellt sich gerade im Grundschulbereich die Frage, wie bei Kindern eine Bewusstseinsbildung für etwas geschaffen werden kann, das wir ständig auch zerstören. Einige Anhaltspunkte dafür liefern die hier vorgestellten Texte.



Nicht nur aktuelle Publikationen eignen sich zur Vermittlungsarbeit in der Primarstufe. Es gilt, auch im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur bei Grundschullehrkräften ein Sensorium zu entwickeln, das weit über tagesaktuelle Publikationen hinausreicht.

Tante Tintengrün greift ein

 und

Da ist eine wunderschöne Wiese

 können so nicht nur als Umweltgeschichten gedeutet werden, da auch das soziale Element, das Miteinander der Generationen schlussendlich zum Erfolg führt. Die unterschiedlichen grafischen Techniken in

Das Städtchen Drumherum

 – so werden Blätter etwa mittels eines Druckverfahrens als Bäume dargestellt – lassen sich im Unterricht nachahmen. Literarische Erfahrungen sollen im Sinne eines mehrdimensionalen Lernens nicht nur auf die Textarbeit konzentriert bleiben, sondern können so haptisch erfahrbar werden. Auch damit wird ein durchaus zeitgemäßer Ansatz im Sinne des literarischen Lernens bemüht: Ästhetische Erfahrung bleibt also keineswegs auf die reine Textebene beschränkt. Gezeigt werden konnte, wie sehr die Kinderliteratur um 1970 das Ernstnehmen kindlicher Anliegen in den Mittelpunkt rückte. Die sozioökologischen Debatten, die damals noch visionär wirkten, wie in

Das Städtchen Drumherum

 dargestellt, werden heute umgesetzt. Umwelterziehung hat eine starke politische Implikation, schließlich geht es um die Vermittlung von andauernden Werten.










Abbildung 5: Vision einer Stadt mit Wald in der Mitte. (© Verlag Jungbrunnen Wien)





Verwiesen wurde auch auf den hohen Einfluss der Theorien von Piaget und Kohlberg. Gerade im Bereich der politischen Bildung wurde bereits gezeigt, wie sehr sich Stufenmodelle wie die von Lawrence Kohlberg für den Unterricht eignen (vgl. Reinhardt 2013). Anwendungsmöglichkeiten für den Deutschunterricht, über den Elementar- bzw. Primarstufenbereich hinaus, sind naheliegend: Gerade Bilderbücher und Erstlesebücher sind in ihrer vermeintlichen Einfachheit mehrfachadressiert und verfügen über vielfältige didaktische Einsatzmöglichkeiten. Es wäre gewinnbringend, ältere Texte der Kinderliteratur auch in diesem Sinn wiederzuentdecken.



Diskutiert wurde darüber hinaus, ob die heutige Jugend – auch im Vergleich mit früheren Generationen – politikverdrossen sei. Anhaltspunkte dazu geben einige empirische Studien aus der Sozialwissenschaft. Stéphane Hessel machte in seinem Werk

Empört Euch!

 (2010) drei große Probleme für die Zukunft aus, die heute nichts an ihrer Aktualität eingebüßt haben: Nachhaltigkeit, Verteilungsgerechtigkeit sowie Terrorismus. Doch die Wirkung der streitbaren Schrift begrenzte sich im deutschsprachigen Raum auf mediale Debatten, meist geführt von einem interessierten Publikum. Demonstrationen auf der Straße stellen heute nicht mehr das alleingängige Protestmittel dar. Große Kundgebungen, die meist schon eine globale Dimension („Fridays for Future“, „Black lives matter“) haben, scheinen heute zwar mehr denn je ein adäquateres Mittel, um Empörung zu zeigen. Darüber hinaus bieten die digitalen Medien Jugendlichen eine Vielzahl an Möglichkeiten, sich zu organisieren und ihren Unwil