Kulturelle Nachhaltigkeit lernen und lehren

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3.4.1 Sachanalytische Zugänge

Das Meer tritt in beiden Geschichten als zentraler Akteur in Erscheinung, wird dabei allerdings konträr konnotiert. Jacks Wertschätzung gegenüber dem Meer sowie seine Schuldgefühle wegen des hineingefallenen Strohhalms vermitteln von Anfang an, dass es sich dabei um ein schützenswertes Gut handelt. Als Ausflugsziel zeichnet sich das Meer durch Weitläufigkeit und Ganzheitlichkeit aus, die Vater und Sohn ein gemeinsames Erlebnis jenseits des Alltags ermöglichen. Erst nach seinem Verschwinden wird das Meer auch als trügerische Fassade erkennbar, die über Dimensionen der Zerstörung hinwegtäuscht. Diese offenbaren sich auf Jacks Suche nach dem geliebten Element ebenso wie die Bedeutung des Meeres als bedrohter Lebensraum für eine Vielzahl an Lebensformen. Auch wenn Jacks verbale Interaktion mit dem Meer einseitig bleibt, verdeutlicht die Rückkehr des Meeres die Notwendigkeit, das anthropozentrische Weltbild zu relativieren und mit der Umwelt in Beziehung zu treten, um sie zu bewahren. Dass der Müll unter der Oberfläche des Meeres verbleibt, unterstreicht einerseits die Irreversibilität des Anthropozäns und deutet andererseits auf die regenerative Kraft der Natur hin. Demnach lässt sich das Meer insgesamt als Symbol für die bereits an vielen Stellen überstrapazierte Natur lesen, deren Gefährdung zwar nicht immer direkt sichtbar ist, die aber eine unverzichtbare Lebensgrundlage des Menschen darstellt.

Während das Meer in Der Tag, an dem das Meer verschwand also seiner titelgebenden Relevanz entsprechend von der ersten bis zur letzten Seite als Handlungsraum und Handlungsträger fungiert, stellt es in Die Fabel von Fausto die letzte Station von Faustos Machtgebaren dar. Es setzt die Reihe der immer größer und widerspenstiger werdenden Statussymbole fort und bildet gleichzeitig deren Ende. Die von Jack als positiv wahrgenommene Weitläufigkeit des Meeres geht hier mit einer Bedrohung einher, was durch Größenverhältnisse und Perspektiven sowie die von überall her ertönende Stimme zum Ausdruck gebracht wird. Obwohl Fausto das Meer nicht mehr zu Fuß im feinen Anzug aufsucht wie die anderen Naturelemente, sondern sich mit Schiff, gelbem Friesennerz und Südwester wappnet, ist er nicht in der Lage, die auf allen Erzählebenen transportierte Überlegenheit der Naturgewalt zu akzeptieren. Dass das Meer sich im Dialog mit Fausto nicht nur der Inbesitznahme verweigert, sondern das Recht auf Besitz an Liebe und Verständnis koppelt, legt nahe, dass letztlich die Natur die Bedingungen für den Menschen vorgibt und die Mensch-Umwelt-Verhältnisse dominiert. Faustos Untergang im Meer ist demnach die logische Konsequenz des anthropozentrischen Hochmuts und suggeriert gleichzeitig die relative Bedeutungslosigkeit des Menschen im natürlichen Kreislauf. Demnach kann das Meer als Symbol für die Übermacht der Natur gedeutet werden, durch die der Mensch in letzter Konsequenz in seine Schranken gewiesen wird.

In enger Verbindung mit dem Meer sind auch weitere Elemente der Geschichten symbolisch aufgeladen. Beispielsweise materialisiert Jacks Strohhalm den Kipppunkt, ab dem die Natur sich nicht mehr selbst regenerieren kann, und die Farbe Neonrosa steht für Faustos Besitzanspruch, der schließlich mit ihm im Meer versinkt. Weitere Bedeutungsdimensionen eröffnen zudem die Lebewesen und Naturelemente: bei Jack die Möwe als ebenso lästige wie schützenswerte Spezies, die Meerjungfrau als fantastische und intertextuell ambivalente Figur, der Wal als mächtige und dennoch beeinträchtigte Tierart sowie die Schildkröte als langlebige, aber bedrohte Art und bei Fausto die fragile Blume, das gefügige Schaf, der gleichgültige Baum, der nachgiebige See sowie der eigenwillige Berg.

3.4.2 Fachdidaktische Anknüpfungspunkte

Gerade weil sich die vielschichtige Symbolik des Meeres erst in der direkten Gegenüberstellung der Geschichten und im Austausch über Sinndeutungen erfassen lässt und das Verstehen von Symbolen und Metaphern „Irritationsmomente“ (Boelmann & König 2021, 117) voraussetzt, die in der Primarstufe noch nicht als solche bewusst sind, bietet sich dieser Baustein als gemeinsamer Abschluss der Unterrichtsreihe an. Dabei wird zunächst das Wort „Meer“ an die Tafel geschrieben und jedes Kind mit drei verschiedenfarbigen Post-its ausgestattet. Auf einem Post-it sollen eigene Assoziationen mit dem Meer aufgeschrieben werden (Symbol-/Metaphernverstehen, Niveaustufe I), auf dem zweiten Post-it die Bedeutung des Meeres für Jack und auf dem dritten die Bedeutung des Meeres für Fausto (Symbol-/Metaphernverstehen, Niveaustufe II). Diese Vorgehensweise ermöglicht es den Kindern, zunächst eigene Ideen zu entwickeln und erst im Anschluss in einen Austausch darüber zu kommen. Die Post-its werden in drei Spalten an die Tafel geklebt und von der Lehrkraft gebündelt. Darauf aufbauend können Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Bedeutungszuschreibungen in der Klasse und in den Werken im Rahmen eines literarischen Gesprächs diskutiert und Grundprinzipien metaphorisch-symbolischer Darstellung in Text und Bild erörtert werden. Wichtig ist dabei, die vorgeschlagenen Deutungen an den Werken zu prüfen und nicht haltbare Interpretationen ggf. mit entsprechender Transparenz auszusortieren.

Das gewonnene Wissen kann schließlich dadurch gefestigt werden, dass die Kinder als Symboldetektive tätig werden, indem sie eines der beiden Werke noch einmal genauer auf weitere mehrdeutige Elemente hin untersuchen und für eines eine Karteikarte erstellen, auf der wörtliche Bedeutung, zusätzliche Bedeutungsdimensionen (Symbol-/Metaphernverstehen, Niveaustufe I) und die übertragene Bedeutung im Werk (Symbol-/Metaphernverstehen, Niveaustufe II) vermerkt werden. Abbildungen der Naturelemente und Lebewesen können zusätzlich als Hilfestellung angeboten werden. So entsteht nach und nach eine gemeinsame Symbolkartei, die auch im Umgang mit anderen literarischen Werken erweiterbar ist.

4. Fazit und Ausblick

Dem Beitrag liegt die Hypothese zugrunde, dass das BOLIVE-Modell einen strukturierten fachdidaktischen Rahmen für die Verzahnung von literarischem und nachhaltigem Verstehen bildet und sich an Szenarien des Verschwindens zielführend zur Anwendung bringen lässt. Während die Grundkompetenzen der Handlungsebene (Handlungslogik und Figuren) konkrete Überschneidungen mit Teilkompetenzen der Gestaltungskompetenz aufweisen, tragen die Kompetenzen der Metaebene (sprachliche Mittel und Symbole/Metaphern) eher zur Nachhaltigkeitskommunikation und damit die Teilkompetenzen übergreifend zur Entwicklung von Gestaltungskompetenz bei. Die Auswahl der Werke hat sich für die theoretische Unterrichtskonzeption als durchweg ergiebig erwiesen, da sich damit in dem vorgesehenen identitätsorientierten Setting alle vier Grundkompetenzen und Niveaustufen systematisch abdecken lassen und sich zahlreiche Möglichkeiten für einen direkten Vergleich eröffnen. Dies ließe sich anhand weiterer Szenarien des Verschwindens noch ausbauen. Darüber hinaus sind in einem nächsten Schritt aber vor allem praktische Erprobungen notwendig, um die Tragfähigkeit der entwickelten Ideen zu prüfen und dazu beizutragen, dass die fiktiven Szenarien des Verschwindens bestenfalls dazu beitragen, realen Szenarien des Verschwindens entgegenzuwirken.

Literatur

Primärliteratur

Belli, Gioconda & Barbara Steinitz (2017). Als die Bäume davonflogen. Aus dem Spanischen von Catalina Rojas Hauser. Wuppertal: Peter Hammer.

Frey, Raimund (2020). Groona. Die letzte Insel. Bindlach: Loewe.

Haynes, Sam & Jago (2020). Der Tag, an dem das Meer verschwand. Aus dem Englischen von Gundula Müller-Wallraf. München: Knesebeck.

Jeffers, Oliver (2020). Die Fabel von Fausto. Aus dem Englischen von Anna Schaub. Zürich: NordSüd.

Klobouk, Alexandra (2012). Polymeer. Berlin: Onkel & Onkel.

Schade, Susan & Buller, John (2012). Thelonius’ große Reise. Aus dem Amerikanischen von Carolin Müller. München: Knesebeck.

Weisman, Alan (2007). Die Welt ohne uns. Aus dem Amerikanischen von Hainer Kober. München: Piper.

Sekundärliteratur

Boelmann, Jan & Klossek, Julia (2016). Dossier zum Bochumer Modell literarischen Verstehens. (https://www.ph-ludwigsburg.de/fileadmin/subsites/2b-dtsc-t-01/user_files/boelmann/Boelmann_Klossek_2016_Dossier_zum_Bochumer_Modell_literarischen_Verstehens.pdf, abgerufen am 21.02.2021)

Boelmann, Jan & König, Lisa (2021). Literarische Kompetenz messen, literarische Bildung fördern: Das BOLIVE-Modell. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.

Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung (2003). Lehrplan der Volksschule, Siebenter Teil, Bildungs- und Lehraufgaben sowie Lehrstoff und didaktische Grundsätze der Pflichtgegenstände der Grundschule und der Volksschuloberstufe, GrundschuleDeutsch, Lesen, Schreiben. (https://www.bmbwf.gv.at/Themen/schule/schulpraxis/lp/lp_vs.html#heading_______________________________________Pflichtgegenstaende_der_Grundschule_und_der_Volksschuloberstufe, abgerufen am 21.02.2021)

Combe, Arno & Gebhard, Ulrich (2007). Sinn und Erfahrung. Zum Verständnis fachlicher Lernprozesse in der Schule. Opladen, Farmington Hills: Barbara Budrich.

 

De Haan, Gerhard (2008). Gestaltungskompetenz als Kompetenzkonzept für Bildung für nachhaltige Entwicklung. In Inka Bormann & Gerhard de Haan (Hrsg.), Kompetenzen der Bildung für nachhaltige Entwicklung. Operationalisierung, Messung, Rahmenbedingungen, Befunde (S. 23–43). Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.

Frederking, Volker (2010). Identitätsorientierter Literaturunterricht. In Volker Frederking, Hans-Werner Huneke, Axel Krommer & Christel Meier (Hrsg.), Taschenbuch des Deutschunterrichts, Band 2 (S. 414–451). Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.

Klossek, Julia (2015). Diagnose, Modellierung und Förderung literarischer Kompetenz am Beispiel der Teilkompetenz „Charaktere“. Berlin: LIT Verlag.

Kruse, Iris (2007). Literarisches Lernen in der Grundschule. Einführung in das Themenheft. Grundschulunterricht 54/2007, 2–3.

Küchemann, Fridtjof (2021). Aber du liebst mich nicht einmal. FAZ 04.02.2021. (https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/kinderbuch/bilderbuch-kritik-die-fabel-von-fausto-von-oliver-jeffers-17065420.html, abgerufen am 21.02.2021)

Leubner, Martin & Saupe, Anja (2009). Erzählungen in Literatur und Medien und ihre Didaktik. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.

Leubner, Martin; Saupe, Anja & Richter, Matthias (2016). Literaturdidaktik. Berlin: DeGruyter.

Paefgen, Elisabeth (1999). Der Literaturunterricht heute und seine (un)mögliche Zukunft. Didaktik Deutsch 4, 7, 24–35.

Piper Verlag (2008). Alan Weisman: Die Welt ohne uns. Buchtrailer. (https://www.youtube.com/watch?v=2FviY5hUsD0, abgerufen am 21.02.2021)

Pissarek, Markus (2013). Merkmale einer Figur erkennen und interpretieren. In Anita Schilcher & Markus Pissarek (Hrsg.), Auf dem Weg zur literarischen Kompetenz. Ein Modell literarischen Lernens auf semiotischer Grundlage (S. 135–148). Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.

Spinner, Kaspar (2006). Literarisches Lernen. Praxis Deutsch (200), 6–16.

Spinner, Kaspar (2015). Elf Aspekte auf dem Prüfstand. Verbirgt sich hinter den elf Aspekten literarischen Lernens eine Systematik? Leseräume 2/2015, 188–194.

Waldt, Kathrin (2003). Literarisches Lernen in der Grundschule. Herausforderung durch ästhetischanspruchsvolle Literatur. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.

Abbildungen

Abbildung 1: Links aus: Jeffers, Oliver (2020). Die Fabel von Fausto. Aus dem Englischen von Anna Schaub. Zürich: NordSüd. – Rechts aus: Haynes, Sam (2020). Der Tag, an dem das Meer verschwand. Aus dem Englischen von Gundula Müller-Wallraf. München: Knesebeck. Copyright ©Sam Haynes 2020, Knesebeck Verlag.

Abbildung 2: Links aus: Haynes, Sam (2020). Der Tag, an dem das Meer verschwand. Aus dem Englischen von Gundula Müller-Wallraf. München: Knesebeck. – Rechts aus: Jeffers, Oliver (2020). Die Fabel von Fausto. Aus dem Englischen von Anna Schaub. Zürich: NordSüd. © Alle Rechte beim Verlag NordSüd, Zürich. Trotz intensiver Bemühungen der Autorin konnten die Bildrechte nicht letztgültig geklärt werden. Die betreffenden Urheber*innen mögen sich bitte an den StudienVerlag wenden.

1 Da die Bilderbücher beide nicht paginiert sind, aber einen überschaubaren Umfang aufweisen, wird auf die Angabe selbst festgelegter Seitenangaben verzichtet.

2 Sollte nur mit einem Werk gearbeitet werden, kann die subjektive Annäherung dadurch erfolgen, dass die Kinder ihre Lieblingsfigur aus dem Werk herausgreifen und die Konstellation von dieser Figur ausgehend anfertigen.

3 Diese ist im BOLIVE-Modell noch nicht konzipiert.

Georg Huemer
Empörung als zentrales Motiv im Nachhaltigkeitsdiskurs der Kinderliteratur
1. „Das verstehst du nicht …, weil du kein Kind bist.“

Mit einem Hauch von Ironie beginnt Mira Lobes (1913–1995) Bilderbuch Das Städtchen Drumherum (1970), das um das Thema Stadterweiterung kreist: „Die kleine Stadt lag dicht am Wald. Wo die Häuser aufhörten, fingen die Bäume an. Oder wo die Bäume aufhörten, fingen die Häuser an. Wie man will.“ (Lobe & Weigel 1970, 4)

Schon vor mehr als 50 Jahren waren es Kinder, die ein besonderes Sensorium für den Schutz des Naturraumes hatten. Dies wird auch in Lobes Werk, das sich vor allem an junge Leser*innen richtet, deutlich: Ein Bürgermeister ist fest entschlossen, das beschauliche Städtchen, in dem er lebt, zu verändern. Der Wald soll neuen Bauten weichen, größer und höher als die bisherigen. Eine Tiefgarage, ein Aussichtsturm mit Helikopterlandeplatz, eine größere Schule und ein Zoo sind angedacht. Doch die Pläne einer deutlichen Vertikalisierung des Stadtbildes missfallen den Kindern, die um ihre natürliche Spielstätte, den Wald, fürchten. Julius und Juliane suchen das Gespräch mit dem Vater, der gleichzeitig der Bürgermeister ist. Doch die Argumente werden nicht gehört.

Damit ist eine Situation beschrieben, die vielen jungen Menschen wohl vertraut ist. Meinen nicht auch heute Kinder und Jugendliche, dass ihre Argumente von den Erwachsenen nicht ausreichend gehört werden? Denken sie nicht, dass ihre Proteste zu oft ungehört verhallen? Gerade wenn es darum geht, wie die Natur geschützt werden könnte, ist es oft kindliche Empörung, die das Verlangen nach Veränderung zum Ausdruck bringt. Diesen Diskurs greift der vorliegende Artikel auf, wobei ein Fokus auf die in Österreich entstandene Kinderliteratur der 1970er-Jahre und Mira Lobe, eine ihrer zentralen Akteur*innen, gelegt wird.

Welche Bedeutung hatte das Thema Naturschutz in diesem Zeitraum? Der vorliegende Artikel verweist auf wichtige Veröffentlichungen dazu, untersucht aber auch die Protest-bewegungen junger Leute und ob bzw. wie sich diese bis heute entwickelt haben. Bei einem Vergleich werden erstaunliche Parallelen und Veränderungen sichtbar. Das Thema Nachhaltigkeit, das heute noch hochaktuell ist, erweist sich als wiederkehrendes Motiv der 1970er-Jahre.

Mira Lobes chronologisch aufgebaute Erzählung Das Städtchen Drumherum wird aus einer auktorialen Perspektive geschildert und diese ist mit einer klaren Botschaft am Ende versehen: Ein friedliches Nebeneinander von Mensch und Natur ist möglich. Im ersten Drittel des Kinderbuches, das 1970 zum ersten Mal veröffentlicht wurde und bereits kurz nach seinem Erscheinen mit mehreren Auszeichnungen1 bedacht wurde, findet sich die ausführliche Schilderung einer Tischszene. Sie folgt der Exposition, in der die handlungstragenden Figuren vorgestellt werden und das Bedrohungsszenario für den Wald entworfen wird. Der Bürgermeister, hier in der Rolle des (vermutlich alleinerziehenden) Vaters, bemerkt den Unmut seiner Sprösslinge. Im abendlichen Gespräch offenbart sich der schwelende Generationenkonflikt:

Der Bürgermeister saß mit seinen Kindern beim Nachtmahl. Julius stocherte im Essen herum, und Juliane schob den Teller fort. […] „Vati“, sagte Julius, „wir wollen mit dir über den Wald sprechen.“ „Da gibt es nichts zu sprechen. Mischt euch, bitte, nicht in meine Angelegenheiten.“ || „Es ist nicht nur deine Angelegenheit!“ sagen Julius und Juliane. „Es ist auch unsere. Sehr sogar.“ || Der Bürgermeister legte Messer und Gabel hin. || „Wollt ihr denn nicht, daß unsere kleine Stadt größer wird? Soll sie nicht wachsen und immer schöner werden? Alles wächst: Tiere und Bäume …“ || „Außer, wenn du die Bäume umhauen läßt und die Tiere vertreibst.“ „Das ist der Lauf der Welt“, sagte der Bürgermeister. „Das verstehst du nicht, Julchen, weil du ein Kind bist. Was habt ihr nur gegen neue Fabriken?“ || „Das verstehst du nicht, Vati, weil du kein Kind bist“, sagte Juliane. (Lobe & Weigel 1970, 14–16)

Ausdruck der Eskalation ist der Essensboykott, der an Beispiele aus der Weltliteratur wie Heinrich Hoffmanns (1809–1894) Struwwelpeter oder lustige und drollige Bilder (1845) denken lässt. Am Tisch ausgetragene Machtkämpfe haben bis heute ihren subversiven Charakter in der Kinderliteratur beibehalten, betont auch Cornelia Leingang mit Blick auf neuere Erscheinungen: „Oft spiegeln die dargestellten Mahlzeiten eine tendenzielle Auflösung der traditionellen Familie als Tischgemeinschaft wider.“ (Leingang 2015, 82) Wie beim zappelnden Philipp lässt sich hier ein anarchisches Bild erkennen, das gerade mit Blick auf den zeitgeschichtlichen Kontext durchaus mutig gewählt ist: Die Familie in Das Städtchen Drumherum besteht, so scheint es, nur aus drei Personen, entspricht nicht dem gängigen Modell der Kleinfamilie. Beim Abendmahl entfaltet sich in diesem Sinn keine befriedende Atmosphäre, der väterliche Wunsch nach einem harmonischen Tagesabschluss bleibt unerfüllt.

Eine Andeutung, ob es überhaupt eine weitere Erziehungsperson in der kleinen Familie gibt, findet sich im Text nicht. Die Kinder wiederum treten selbstbestimmt auf. Autorität ist also keine naturgegebene Sache, sondern soll basisdemokratisch verhandelt werden. Die elterliche Bezugsperson zeigt sich, anders als etwa noch in dem die biedermeierliche Gesellschaft abbildenden Struwwelpeter, um Verständnis bemüht: „‚Schmeckt es euch nicht?‘ fragte der Bürgermeister. ‚Dann schmeckt es mir nämlich auch nicht. Allein mag ich nicht essen.‘“ (Lobe & Weigel 1970, 14) Doch das auf Gespräch und Auseinandersetzung, nicht auf Strafe, beruhende Erziehungsmodell stößt in der besonderen Situation an seine Grenzen, immerhin repräsentiert der Vater als offizieller Stadtvertreter genauso die Anliegen seiner (erwachsenen) Wähler*innen. In den Illustrationen ist dies durch das dem Bürgermeister zugewiesene Attribut versinnbildlicht: Der schwarze Zylinder steht für die offizielle Autorität. Er kann aber auch als Symbol für das soziale Umfeld gedeutet werden, stand diese Kopfbedeckung doch lange Zeit geradezu prototypisch als Zeichen für das bürgerliche Establishment.

Ebenso wie die Illustrationen spielt der Text mit der Doppelrolle des Vaters. So wird der Bürgermeister beim Nachtmahl als „Vati“ angesprochen, was als Indiz für ein (klein)bürgerliches Milieu gedeutet werden kann. Er versteht das Anliegen seiner Schützlinge nicht. Es kommt zu der für die weitere Erzählung wegweisenden Aussage, der einzigen, die im Text fett markiert ist: „Das verstehst du nicht, Vati, weil du kein Kind bist.“ (Lobe & Weigel 1970, 16) Das Abendmahl ist die zentrale Textstelle für die Interpretation der Erzählung: Nicht die Vorstellungen des Vaters werden verwirklicht, sondern die Kinder setzen mit Selbstbestimmtheit und einer erstaunlichen Weitsicht ihre Vorstellung eines friedlichen Zusammenseins von Zivilisation und Natur um. Dazu müssen sie sich organisieren, was ferner geschieht: Sie gestalten Plakate und organisieren eine Demonstration, welche die geplanten Umbauarbeiten und die damit verbundene Zerstörung des Waldes aufhalten soll.

Abbildung 1: Beim Abendmahl kommen Konflikte zur Sprache. (© Verlag Jungbrunnen Wien)

Der kindliche Protest verweist auch auf den Entstehungshintergrund des Textes, die 1968er-Bewegung/en, allen voran für Umwelt, Frieden und Frauen. Im österreichischen Kinderbuch kam diese gesellschaftliche Revolution, die eine deutliche linkspolitische Haltung aufgriff, nicht nur bei der jüngeren Generation (wie Christine Nöstlinger, 1936–2018, Renate Welsh, *1937) zum Ausdruck, sondern vor allem bei Mira Lobe. Über nahezu ein halbes Jahrhundert war sie ein wesentlicher Teil der österreichischen Literatur und transformierte zeitgemäße Themen in prägnante Geschichten mit viel Sprachwitz. Daraus, und aus der kontinuierlichen Zusammenarbeit mit einigen Illustrator*innen und Verlagen, ergibt sich der hohe Wiedererkennungswert ihres literarischen Schaffens. Sie war in den 1970er-Jahren bereits eine etablierte Autorin, die mit Kinderbüchern wie Die Omama im Apfelbaum (1965) weit über Österreich hinaus erfolgreich war. 1973, ein Jahr nachdem ihr wohl erfolgreichstes Bilderbuch Das kleine Ich-bin-Ich (1972) erschienen war, feierte sie ihren 50. Geburtstag.

 

In diesem Zeitraum, der in eine der produktivsten Schaffensphasen Mira Lobes fällt, gelang es ihr wie keiner anderen Autorin, kindliche Protestbewegungen im österreichischen Kinderbuch zu verankern. Die Formierung eines Kinderkollektivs zu einer Bewegung, die vehement eine Gegenkultur fordert und dies auch willensstark manifestiert, ist so erst durch Mira Lobes Einfluss breitenwirksam in der zeitgenössischen österreichischen Kinder- und Jugendliteratur vertreten. Neben dem bereits genannten Städtchen Drumherum ließen sich die Kinderbücher Denkmal Blümlein (1971) und Willi Millimandl und der Riese Bumbum (1973) anführen, für die Jugendliteratur wiederum der Roman Die Räuberbraut (1974) nennen. Sie verdeutlichen, wie sehr kindliche Empörung über ein fehlendes Nachhaltigkeitsbewusstsein mit Beginn der 1970er-Jahre zu einem zentralen Motiv in Lobes Werk wurde.


Abbildung 2: Der Bürgermeister beteiligt sich schließlich am Protest der Kinder. (© Verlag Jungbrunnen Wien)

Die emotionale Entrüstung markiert deutlich den Übergang vom Reden zum Handeln und schafft die Grundlage für den Einsatz der Kinder für die Natur (Demonstration). Bei Lobe tritt die Auflehnung der Kinder in einer Verkettung mit anderen Themen (Umweltproblematik, Generationenkonflikt, Bildung eines Kollektivs etc.) auf, die fast eine logische Handlungskonsequenz auszulösen scheint und entscheidend zu der einfach wirkenden Erzählstruktur beiträgt. In diesem Sinn lässt sich Empörung als weit mehr als ein literarisches Motiv deuten, etwa als eine in der Literatur auftretende angewandte Kulturtechnik, die Rückschlüsse auf sozial- und kulturgeschichtliche Momente wie die literarische Produktion selbst zulässt. In diesem Zusammenhang sei auf den Band Empörung! Besichtigung einer Kulturtechnik (Millner, Oberreither & Straub 2015) verwiesen, der interessante sprach- und literaturwissenschaftliche Beiträge versammelt, allerdings keine Bezüge zur Kinderliteratur herstellt.

Die Entwicklung eines Modells, das die Inszenierung des kindlichen Widerstands als ein literarisches Narrativ mit einem mehrteiligen Handlungsmuster deutet, wäre mit Blick auf den Nachhaltigkeitsdiskurs der Kinderliteratur der 1970er-Jahre spannend. Wie Empörung im Kinderbuch beschrieben wird, ist bislang noch Gegenstand der Diskussion: Zu neueren Bilderbüchern finden sich Deutungsansätze, in denen die kindliche „Revolution“ zur literaturwissenschaftlichen Analysekategorie wird (vgl. Rinnerthaler 2019, 67). Diese Bezeichnung taucht in unterschiedlichen Zusammenhängen auf: Gerade mit Blick auf die Dichte der historischen Ereignisse ließe sich dieser Begriff mit dem Thema Ökologie verbinden. Auch der Historiker Joachim Radkau, der mit Die Ära der Ökologie (2011) ein vielbesprochenes Fachbuch vorgelegt hat, nennt die Ereignisse um 1970 eine „ökologische Revolution“ (Radkau 2011, 124). Solche historisch stark aufgeladenen Begriffe bergen freilich die Gefahr, bei der Analyse von Kinderbüchern Überinterpretationen zu evozieren. Gilt es in der Kinderliteratur ja nicht nur die literarästhetische Konstruktion zu erkennen, sondern vor allem didaktische und pädagogische Implikationen mitzudenken.