Kulturelle Nachhaltigkeit lernen und lehren

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2.2 Kreatives Schreiben

Die Erzählungen der Zweitklässler*innen entstanden im Zuge einer Unterrichtseinheit zum Kompetenzbereich Texte verfassen,1 in der das kreative Schreiben genutzt wurde. Eine Gemeinsamkeit der unter diesem Oberbegriff subsumierten didaktischen und methodischen Ansätze besteht darin, dass der Schreibprozess per se auf Anregungen, Auslösern, Strukturen und Spielregeln basiert und „primär auf den persönlichen Ausdruck und die Entfaltung der Phantasie“ abzielt (Spinner 1994, 46; vgl. auch Schuster 1995; Kohl & Ritter 2010). Aufgrund dessen ist das Konzept auch für den Anfangsunterricht besonders geeignet, in dem die Kinder idealiter erleben und erfahren, dass sich Schreiben keineswegs auf motorische Fertigkeiten, Zeilenhalten oder Korrektheit beschränkt, sondern es auch ein persönliches Ausdrucksmittel mit bedeutsamen, mitunter ästhetischen Funktionen darstellt.

Um die Heterogenität der Lerngruppe und die je individuellen kognitiven und schriftsprachlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten aller Schüler*innen zu berücksichtigen, wurde bewusst eine offene Schreibaufgabe mit ‚natürlicher Differenzierung‘ (vgl. Krauthausen & Scherer 2010) konzipiert. Sie lädt die Kinder dazu ein, entweder ein bekanntes Tiermotiv aufzugreifen und ein alternatives Ende zu entwerfen (z.B. ‚Wenn ich eine Möwe wäre, würde ich alle Länder aus der Luft bestaunen‘) oder sich von der persönlichen Phantasie und Neigung ausgehend einen eigenen Schreibimpuls beispielsweise in Form eines anderen Tieres, eines konkreten oder erfundenen Gegenstandes usw. zu suchen und sich von ihm zum Erzählen anregen zu lassen (z.B. ‚Wenn ich eine Uhr wäre, würde ich die Zeit anhalten‘).2 Somit erlaubt das Lernformat allen Beteiligten die Bearbeitung eines Themas unter Berücksichtigung ihrer individuellen Kompetenzniveaus, was sich kognitiv aktivierend, motivierend und gesprächsfördernd auf das Unterrichtsgeschehen auswirkt.

Zusammenfassend gesagt eignet sich das Bilderbuch als vielfältiger Gesprächs-, Schreibund künstlerischer Gestaltungsanlass in der Grundschule. Es animiert die jungen Literaturnoviz*innen zum Ausfabulieren kleiner „Was-wäre-wenn-Geschichten“, die ihnen aus dem kindlichen Spiel als „Prototyp späterer Übergangsphänomene“ (Habermas 1996, 324) vertraut sind, in dem die äußere Welt ebenfalls mit der inneren Realität überformt wird (vgl. Winnicott 1997; Neubaur 1987; für das literarische Lernen vgl. Abraham 1998, 2000). Sie können dabei auf das formelhafte Baumuster „Wenn ich ein*e … wäre, würde ich …“ zurückgreifen, das einerseits einen Sicherheit gebenden Rahmen für ihre individuellen Gedankenexperimente bietet, ihnen andererseits aber ausreichend Freiraum für divergente Lösungswege lässt (vgl. Abraham & Kupfer-Schreiner 2007, 20).

2.3 Dokumentarische Methode

Bei der Erforschung der Kindertexte und Bilder kommt die dokumentarische Methode zum Einsatz, die sich mit Bohnsack als „sozialwissenschaftliche Hermeneutik“ (2003, 550) klassifizieren lässt.3 Leitend für sie ist die methodologische Unterscheidung zweier Sinnebenen, die prinzipiell allen kulturellen Gebilden innewohnen und einander überlagern: Sprachliche Artefakte, menschliche Gesten, Bilder usw. lassen sich hinsichtlich ihres immanenten Sinngehalts analysieren. Er akzentuiert das, was wörtlich und explizit gesagt, geschildert oder dargestellt, d.h. „thematisch“ wird (Bohnsack 2001, 337). Im Gegensatz dazu erfasst der dokumentarische Sinngehalt die handlungsleitenden Orientierungen der Akteure, ihr implizites, ‚stillschweigendes‘ Wissen in Gestalt von „Relevanzen, Normalitätsannahmen, Weltsichten“ (Kleemann, Krähnke & Matuschek 2009, 160), die sich Mitglieder einer sozialen Gemeinschaft im Zuge ihrer Sozialisation angeeignet haben. Der dokumentarische Sinngehalt hebt auf die Herstellungsweise kultureller Gebilde ab, ihren modus operandi, weshalb es zu rekonstruieren gilt, „wie ein Thema, d.h. in welchem Rahmen es behandelt wird“ (Bohnsack 2011, 43; Hervorhebungen im Original).

Der erkenntnistheoretischen Differenz der beiden Sinnebenen tragen zwei Analyseschritte Rechnung. In der formulierenden Interpretation paraphrasiert der Forscher zunächst den immanenten, also den allgemein verständlichen und kommunikativ verfügbaren Sinngehalt, in diesem Fall das Was der Kindertexte und -zeichnungen. Dabei ist eine distanzierte Haltung gegenüber dem Datenmaterial erforderlich, die eine „Einklammerung des Geltungscharakters“ bedingt (Mannheim 1980, 80), denn es ist nicht von Interesse, ob etwas ‚wahr‘ oder ‚richtig‘ ist, sondern was sich darin über die Akteure und ihre Orientierungen manifestiert (vgl. Bohnsack 2014, 65). Im Mittelpunkt der reflektierenden Interpretation steht hingegen der dokumentarische Sinngehalt der Darstellungen. Der Forscher rekonstruiert das Gesagte, Geschilderte, Erzählte, das, was thematisch wird und somit den immanenten Sinngehalt, als Dokument einer handlungsleitenden Orientierung, die ihrerseits das schriftsprachlich oder bildlich Ausgedrückte (implizit) strukturiert. Bei diesem Vorgehen berücksichtigt der Interpret auch die eine Orientierung begrenzenden Horizonte, die entweder implizit in das Datenmaterial eingelassen sind oder die von den Akteuren expliziert werden. Daher geht der Forscher stets der Frage nach, worin Individuen das positive bzw. negative Ideal und Potenzial eines Sinnzusammenhangs sehen oder wie sie die Umsetzung einer Orientierung einschätzen (vgl. u.a. Przyborski 2004; Bohnsack 2014, 136 ff.).

Den gesamten Forschungsprozess mit der dokumentarischen Methode durchzieht die komparative Analyse. Sie gewährleistet, das Typische in Form homologer Muster zu rekonstruieren, statt ausschließlich fallbezogene Besonderheiten zu identifizieren. Außerdem gilt sie als „Königsweg des methodisch kontrollierten Fremdverstehens“ (Nohl 2009, 55), denn durch den Vergleich verschiedener Fälle ergeben sich empirische Vergleichshorizonte, mit denen die ‚Standortgebundenheit‘ der Forschenden zwar nicht eliminiert, wohl aber methodisch relativiert und kontrollierbar wird.4

3. Auswertungen

Die komparative Analyse der entstandenen Schülerprodukte belegt, dass die „Was-wärewenn-Frage“ die Kinder zu tiefgreifenden Gedankenexperimenten einlädt, in denen einige auch existenzielle Themen von Nachhaltigkeit adressieren, ohne dass die Lehrperson eine Beschäftigung mit ihnen intendierte. Darin offenbart sich, dass Sujets wie Umweltverschmutzung, Klimawandel, Urbanisierung und Armut in der Lebenswelt der Zweitklässler*innen omnipräsent sind und sie zutiefst beschäftigen. Wie die nachfolgenden Texte und Bilder bezeugen, benennen die Kinder diese globalen Herausforderungen nicht nur, sondern sie zeigen auch kreative Wege zu ihrer Lösung auf, in denen sich zugleich ihre alters- und entwicklungsspezifische Gedanken- und Gefühlswelt und ihre Sichtweisen auf die Welt materialisieren.

3.1 Umweltverschmutzung

Mehrere Kinder setzen sich in ihren Geschichten mit der Verschmutzung der Erde auseinander, die Nora5 so thematisiert:


Abbildung 1: Wenn ich ein Besen wäre, würde ich um die Welt reisen und ich würde den Müll zusammen kären. Dan were die Welt saudera. Es gidt zu fiel Müll. Das ist nicht gut für die umweld. (Nora)

In Noras Geschichte dokumentiert sich, dass die enorme Müllproduktion („zu fiel Müll“) kein länderspezifisches, sondern ein globales Problem darstellt, denn schließlich ist eine Reise ihrerseits als kehrender Besen „um die Welt“ notwendig, damit sich deren Situation verbessert und sie endlich wieder „saudera“ ist. Das Wechselspiel zwischen positivem und negativem Horizont tritt auch in ihrem Bild zutage, das im Unterschied zur Erzählung das imaginierte Handeln konkludiert: Die Sonne scheint und Müll ist weder auf einem der sieben Kontinente noch in den Ozeanen auszumachen, deren Unberührtheit und Sauberkeit auch die Verwendung der Farben Blau und Grün unterstreichen. Neben der Erdkugel befinden sich ein Besen und ein hoher Abfallhaufen, dessen unterschiedliche Schichten und Farben eine sorgfältige Mülltrennung nahelegen. Die Proportionen von Besen und Müllberg führen außerdem die schwachen Kräfte und enormen Anstrengungen des Mädchens vor Augen.

Auch andere Kinder befassen sich mit der Verunreinigung der Natur, worin sich andeutet, dass sie in ihrer Lebenswelt allgegenwärtig ist und ihnen Sorgen macht:


Abbildung 2: Wenn ich ein Wal wäre würde ich mit meinen maul alles mül einsameln. Und dan wren alle glüglig. Auch die Tiere die unter wasser leben. (Mascha)

Mascha legt das Augenmerk ausschließlich auf die massive Verschmutzung der Meere, die sie nach einer Verwandlung in einen (Grau)Wal gründlich zu reinigen gedenkt. Als Wal ließe sie sich wegen dessen Größe und Masse dabei von nichts und niemandem aufhalten, was die furchteinflößende orangene Augenfarbe noch zusätzlich verstärkt. Maßgeblich für die Wahl dieses Tieres scheint vorrangig sein großes „maul“ zu sein, das in Maschas Vorstellung überhaupt ausreichend Stauraum für die gesammelten Unmengen an Müll bietet. Anders als bei Nora ist der eigentliche Erfolg ihrer Idee nur schriftsprachlich und nicht bildlich erzählt, denn Mascha beabsichtigt mit ihrem Handeln, „alle“ Menschen und sogar „die Tiere die unter wasser leben“ endlich „glüglig“ zu machen.

 

3.2 Urbanisierung

Des Weiteren macht der Vergleich der Schülerprodukte evident, dass einige Kinder die fortschreitende Urbanisierung als erhebliche Gefahr für Menschen, Tiere und Pflanzen wahrnehmen:


Abbildung 3: Wen ich ein unweltschuzerin wäre, würde ich dafür Sorgen das nicht mer so file Heuser gebaut werden damit nicht so file Tire schdärben und damit nicht so file beume gefalt wärden damit auch die meschen amleben bleiben. (Luisa)

Im negativen Horizont steht für Luisa der Bau zahlloser Häuser („so file Heuser“), der alle Lebewesen auf der Welt bedroht, während seine bewusste Reduktion die zukünftige Existenz der Menschen („damit auch die meschen amleben bleiben“), Tiere („Tire schdärben“) und Pflanzen („beume gefalt wärden“) sicherstellt. Um dieser massiven Gefahr Einhalt zu gebieten, bedarf es unbedingt einer „unweltschuzerin“: In dieser Position würde sie „dafür Sorgen“, dass die scheinbar nicht gänzlich aufzuhaltenden Prozesse möglichst wenig Schaden anrichten, was sich in der mehrfachen Wiederholung „nicht so file“ dokumentiert. Ihr Bild zeigt mit vier (Hoch)Häusern die Urbanisierung der Städte, mit der sich Menschen, Tiere in Gestalt von Rehen und Möwen sowie Bäume unter einer gelb-roten, wütend wirkenden Sonne konfrontiert sehen.

Ähnliche Sichtweisen sind in Takumis Erzählung zu rekonstruieren:


Abbildung 4: Wenn ich ein Bürgameister wäre würde ich wenigar Häuser und strasen bauen. dann würden Tier und Flazen weiter leben. Flanzen machen gute Luft und die adgase kaput. (Takumi)

Um den Neubau von „Häuser[n] und strasen“ einzuschränken, entwirft sich Takumi als „Bürgameister“, der qua Amt die Autorität zur Einleitung der notwendigen Handlungsschritte innehat. Sie gelten dem Schutz der Tiere und speziell der Pflanzen, von denen er sich „gute luft“ – dargestellt mit blauen Wolken – verspricht, denn sie machen die „adgase kaput“. Seine Entschlossenheit macht auch der kleine bunte Bagger deutlich, der eine bereits errichtete „Autoban“ abreißt.

Eine ähnliche Idee hat Stella, wenngleich sie etwas andere Akzente setzt:


Abbildung 5: Wenn ich ein Gärtner wäre, würde ich: viele Blumen und Bäume flanzen. Das die Menschen gute Luft griegen Und die Bienen, weil die Bienen uns helfen: für das essen, und den Honig. Sie bestreuen die Blumen und die Bäume (Stella)

Handlungsleitend ist in Stellas Erzählung das implizite Wissen um das Wachstum der Städte, dem die Natur zum Opfer fällt. Als Gegenpol hierzu imaginiert sie sich als „Gärtner“, der Bäume und Blumen pflanzt und dadurch die Luftqualität („gute Luft“) nachhaltig verbessert. Ihr misst sie eine herausragende Bedeutung für das Leben der Menschen und insbesondere der Bienen zu, die maßgeblich an der Nahrungsmittelproduktion („für das essen und den Honig“) beteiligt sind und als unermüdliche Bestäuber von Pflanzen außerdem biologische Vielfalt schaffen. Diese spiegelt sich auch in ihrem Bild wider: Zu erkennen sind Bienen, bunte Schmetterlinge, Vögel, Käfer, Sträucher, unterschiedliche Blumen mit verschiedenen Blütenfarben und ein kräftiger Kirschbaum, deren Unberührtheit auch „Glück“ verheißen, wie die strahlende Sonne, das Lächeln des Mädchens und die Aufschrift der Gießkanne verraten.

3.3 Klimawandel

Die Erzählungen erlauben auch Rückschlüsse auf die Auseinandersetzung der Kinder mit den Folgen des Klimawandels, auf die Nanni so reagiert:


Abbildung 6: Wen ich eine Regenwoke were wurde ich die ganze Erd bereknen daa mit alle Blume Wasser krigen. Auf der Welt ist es zu warm die Erde ist Troken und das Gemüse bleibt klein und die Tiere im Walt ferdursten. (Nanni)

Ausgangspunkt von Nannis Erzählung ist die globale Erwärmung „der Welt“, die in ihren Augen schon zu weit fortgeschritten ist („zu warm“) und sich speziell in der Trockenheit der Böden niederschlägt („die Erde ist Troken“). Sie ist für Natur und Mensch besonders verhängnisvoll, weil „Tiere im Walt ferdursten“, „Blumen“ verdorren und „Gemüse“ nur kümmerlich wächst. Diese fatale Entwicklung kontrastiert sie mit der Idee, eine „Regenwoke“ zu sein, die alle mit lebensnotwendigem Wasser versorgt. Auch ihre Illustration macht das Wechselspiel von Horizont und Gegenhorizont sichtbar: Das entworfene ‚Ich‘ in Gestalt der mit Mund und Augen personifizierten Regenwolke findet sich genau in der Mitte der Zeichnung, was seine existenzielle Bedeutung für Mensch, Tier und Pflanze zusätzlich hervorhebt. Gleichzeitig unterteilt Nanni die Welt auch in ein regelrechtes Vorher und Nachher, dem sich jeweils eine Bildhälfte widmet: Während auf der linken, gerade „berekne[ten]“ Seite bunte Blumen sprießen, sind auf der rechten Seite ein kahler Baum, abgestorbene Getreidepflanzen und ein Hirsch zu sehen, der an einem fast ausgetrockneten Bach in sengender Hitze noch etwas Wasser trinkt.

Auch Elena legt das Augenmerk auf die klimatischen Veränderungen, für die sie die Sonne verantwortlich macht:


Abbildung 7: Wenn ich ein Got wäre, würde ich weniger Sonne machen. Das wäre besser vur Denn Schnee und die Aisberen und die piengoine. Sie brauche n Kaltes und Aisiches wetter. es get innen Nicht gut. wir können dann auch mer Schlietten faren am bärg. (Elena)

Weil sich die Erderwärmung und ihre Konsequenzen nur von einem „Got“ mit überweltlichen Kräften aufhalten lassen, spielt Elena mit der Übernahme dieser Identität, mit der sie „weniger Sonne machen“ würde. Von diesem Handeln erhofft sie sich einen erheblichen Temperaturrückgang und dadurch „Schnee“ sowie „Kaltes und Aisiches wetter“, damit „Aisberen“ und „piengoine“ überleben und Elena mit ihren Freunden („wir“) in Zukunft „mer Schlietten fahren am bärg“ kann. Ihr Bild gibt einen Einblick in ihre persönlichen Vorstellungen: Es wirkt, als wäre nach ihrem Eingriff in die Gesetzmäßigkeiten der Welt dermaßen viel Schnee gefallen, dass die Landschaft weitgehend unkenntlich geworden ist. Durch sie wandern „Aisberen“ und „Piengoine“, die wieder im sicheren Iglu-Zuhause mit massiven Eiswänden wohnen; möglicherweise haben Kinder („wir“) auch einen Schneemann gebaut, dessen Lächeln der Gemütsstimmung der Zweitklässlerin Ausdruck verleiht.

3.4 Armut

Äußerst häufig thematisieren die Schüler*innen Armut, die sie größtenteils in der Ferne, vornehmlich in Entwicklungsländern vermuten. Die Erzählung von Michal illustriert dies exemplarisch:


Abbildung 8: Wenn ich ein Affe wäre, würde ich alle Bananen für die Kinder sammeln. Alle haben Essen. (Michal)

Obwohl Michal den Ort seiner Geschichte nicht näher lokalisiert, ist eine (sub)tropische Region naheliegend, in der Bananenstauden wachsen und Affen leben. In diesem Szenario erscheinen Hunger und die besondere, gegebenenfalls der Körpergröße geschuldete Hilfsbedürftigkeit der Kinder implizit im negativen Horizont, für die Michal nach seiner Verwandlung in einen Affen auf Bäume klettern und Bananen „sammeln“ würde, damit sie endlich „Essen“ haben. Auch das Prinzip der gerechten Verteilung klingt womöglich in seiner Erzählung an, weil zuletzt „alle“ versorgt sind. Bei den Kindern ruft dies Freude und tiefe Zufriedenheit hervor, was sich an ihrer Gestik und Mimik ablesen lässt.

Offensichtlich ist dieses Sujet auch bei Mikko handlungsleitend:


Abbildung 9: Wenn ich ein Bäcker wäre, würde ich den ganzen Tag Brot backen für die armen Menschen auf der Welt. Ich würde es kostenlos verschenken und allen geht es gut. (Mikko)

Seine Geschichte legt dar, dass sich Armut speziell in Form mangelnder Nahrung und fehlender finanzieller Mittel zu ihrer Beschaffung („kostenlos verschenken“) kundtut. Da sie Mikkos Bild zufolge in allen Teilen der „Welt“ auszumachen ist und eine sehr große Zahl von „armen Menschen“ betrifft, bedarf es seinerseits der unermüdlichen Arbeit als Bäcker („den ganzen Tag Brot backen“) und einer fairen, durch Striche markierten Aufteilung des Brotes, um die Hungersnot einzudämmen. Der Erfolg drückt sich in den vielen fröhlichen Gesichtern und den hellen Farben der Erde aus.

Dass Armut im Verständnis der Kinder auch die unzulängliche Befriedigung anderer Grundbedürfnisse umfasst, elaborieren Mathilda und Linus:


Abbildung 10: Wenn ich eine Schneiderin wäre, würde ich schöne bunde Kleider nehen. Und dann würd ich sie mit dem farad zu Post bringen. Und die Post bringt die Kleider zu den amen Kindern. Und die Kinder würden mit den neuen Kleiden tanzen und lachen. (Mathilda)

Weil es „amen Kindern“ scheinbar vor allem an Kleidung fehlt, identifiziert sich Mathilda probeweise mit einer „Schneiderin“, um „schöne bunde Kleider“ zu „nehen“. Neben einer Hilfsbereitschaft insbesondere gegenüber Gleichaltrigen dokumentiert sich in ihrer Geschichte auch das implizite Wissen um die eingeschränkte kindliche Mobilität, der sie kurzerhand die Idee des Postversands entgegensetzt, indem sie die selbst hergestellten Artikel (umweltschonend) „mit dem farad zu Post bringt“, die sie wiederum umstandslos den Kindern zustellt. Es erweckt den Eindruck, als ob ihr Bild die Erzählung chronologisch wiedergibt: Auf der linken Seite ist eine Schneiderin zu erkennen, die einen Faden und ein Stück Stoff in der Hand hält, neben ihr hängt an einer Garderobe bereits ein kleines, mit rosafarbenen Herzen verziertes Kleid und auf dem Boden liegen Schere, Bügeleisen und Stoff. In der Mitte stehen das Postamt und das abgestellte Fahrrad, während rechts zwei Mädchen in bunten Kleidern einen Freudentanz neben dem erhaltenen, schon geöffneten Paket im Sonnenschein veranstalten.

Ein homologes Muster lässt sich in Linus’ Erzählung herausarbeiten, der Armut ebenfalls aus der Entfernung bekämpfen will und dessen Unterstützung primär Kindern zugutekommen soll:


Abbildung 11: Wenn ich ein Miljoner wäre, würde ich den amen kindern helfen. Ich würde essen drinken und spielzeug und stifte nach afrika schicken. (Linus)

Als „Miljoner“ wäre Linus in der Lage, „essen drinken und spielzeug und stifte“ zu finanzieren und den „amen kindern“ in „afrika“ zu schicken, damit Ernährung, Spiel und Bildung sichergestellt sind. Sein Bild macht die Spannung zwischen der Armut eines Entwicklungslandes wie „afrika“ und dem Reichtum einer hochentwickelten Industriegesellschaft auch optisch sichtbar, weil das überdimensionierte gelbe Postauto, das mit seiner Antenne und seiner Größe die Überwindung jeder Distanz signalisiert, an den bescheidenen Zelten hält, vor denen sich die Kinder fröhlich winkend und lautstark („Ju Hu“, „danke Hej“) für die kostbaren Geschenke bedanken.