Kultur- und Literaturwissenschaften

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Z serii: Kompendium DaF/DaZ #7
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2.2.1 TransdifferenzTransdifferenz

Die Begrenzungen und Widersprüche traditioneller Ansätze des interkulturellen Verstehens lassen sich – wie dargestellt – im Rahmen binärer Kulturkonzepte nicht aufheben. Meist scheitern sie an kommunikativen und kognitiven Vorbedingungen, die im Prozess des Verstehens eigentlich erst zu etablieren wären. Das begrenzt ihre Wirkungsmöglichkeiten bei der Umsetzung anspruchsvoller interkultureller Ziele. Die begrenzte Wirksamkeit binärer Systeme von Eigenem und Fremdem zeigt sich umso deutlicher dort, wo Bildungssysteme von authentischem Multikulturalismus und natürlicher Mehrsprachigkeit geprägt sind und die Berücksichtigung von variantenreicher authentischer Fremdheit konstitutiv für die Gesellschaft und das Bildungssystem ist. Das gilt vor allem für die Berücksichtigung der Mehrkulturalität und Mehrsprachigkeit als Gegenstände der Lehrpläne: Sie haben schließlich die Funktion, gesellschaftliche Verhältnisse – wie die ethnographische Zusammensetzung einer Bevölkerung und ihre Migrationsbewegungen – abzubilden. Das gilt aber auch als Bedingung des Lernens und der Wissensvermittlung: Allzu oft liegt Bildungssystemen – und damit auch dem Sprachunterricht – die Annahme zugrunde, dass die Schülerinnen und Schüler, also die Lerner, fremdsprachen- und fremdkulturunerfahren seien. Diese Annahme trifft heute aber zumindest im deutschsprachigen Raum nicht mehr oder nur auf einen Teil der Lerner zu. Lerner und Lehrkräfte leben heute zunehmend unter transkulturellen, multikollektiven Bedingungen, die sie reflektiert wahrnehmen oder unbewusst erleben. Umso erstaunlicher ist es, dass trotz dieser lebensweltlichen Realität in Bildungssystemen und Unterricht weitgehend unberücksichtigt bleibt, wie Menschen mit den durch Kulturen- und Sprachenkontakt auftretenden kognitiven Dissonanzen produktiv umzugehen haben.

Das Konzept der TransdifferenzTransdifferenz ist aus einer intensiven Auseinandersetzung mit diesem Kernproblem transkultureller Kommunikation entstanden. Die dargestellten Restriktionen und Widersprüche kulturhermeneutischer Ansätze vom Verstehen des Eigenen und des Fremden können damit – so das Ziel – überwunden werden. Der Normalität des Fremden als Katalysator für Lernen wird zur Geltung verholfen.

Lag zu Beginn der Entwicklung des Konzeptes der TransdifferenzTransdifferenz, das vor allem durch Breinig und Lösch (2006) geprägt wurde, der Fokus noch auf dem Verstehen, mit dem ähnlich dem Gadamerschen Konzept der Horizontverschmelzung (Gadamer 1975 [1960]) eine „Verflüssigung der Differenzen“ (Allolio-Näcke & Kalscheuer 2005: 21) einherging, so rückten nach der Kritik an der Fokussierung auf das Verstehen auch Nichtverstehen und Missverstehen ins Blickfeld. Diese neue Ausrichtung machte es möglich,

die Aufmerksamkeit auf die Differenzen zu legen, womit wiederum eine wichtige Voraussetzung für den Zugang zu einer ‚produktiven TransdifferenzTransdifferenz‘ gegeben war. (Allolio‑Näcke & Kalscheuer 2005: 21)

Dem Transdifferenzansatz geht es also wie der skeptischen Hermeneutik oder dem Modell des ethischen Universalismus darum, die durch die Dynamik der Figuration und Transkulturation entstehenden Differenzen anders zu denken, sie nicht auflösen zu müssen (vergleiche Allolio‑Näcke & Kalscheuer 2005).

In einem allgemeinen Sinn – und im Anschluss an die Bedeutung ‚quer, hindurch‘ der Vorsilbe ‚trans‘ – bezeichnet Transdifferenz all das Widerspenstige, das sich gegen die Einordnung in die Polarität binärer Differenzen sperrt, weil es gleichsam quer durch die Grenzlinien hindurch geht und die ursprüngliche eingeschriebene Differenz ins Oszillieren bringt, ohne sie jedoch aufzulösen. (Lösch 2005: 27)

Differenzen sind vorübergehende Erscheinungen, die instabil werden. Sie haben eine orientierungsstiftende Funktion, sollen in dieser Funktion erhalten bleiben und durch eine Komponente Transdifferenz ergänzt werden (siehe Allolio-Näcke & Kalscheuer 2005: 17).

Mit der Begrifflichkeit von Differenz und Transdifferenz wird gleichzeitig versucht, die Unbestimmtheit und Veränderbarkeit kultureller Erscheinungen so zu fassen, dass die „dialogische Qualität von kollektiven Identitätsnarrationen“ (Hildebrandt 2005: 351) weder zu einer normierenden Synthese noch zu einer Auflösung von Differenzen, wie in der traditionellen interkulturellen Hermeneutik, führt. Insgesamt erfolgt hierbei eine „Umstellung auf ein dynamisches Identitätskonzept, in dessen Zentrum die Frage danach steht, ‚wer ich werde‘“ (Allolio-Näcke & Kalscheuer 2005: 18), und nicht, ‚wer ich bin‘. Die kontinuierlichen Austausch- und Änderungsprozesse von Kulturen führen damit zu einer Komplexitätssteigerung postnationaler Identitäten und ermöglichen trotz zunehmender Fragmentarisierung des Selbst die „Teilhabe an mehreren Kollektiv-Intersubjektivitäten“ (Hildebrandt 2005: 351).

Wie sich die Fragmentarisierung, das heißt die Komplexitätssteigerung und Veränderung im kognitiven Apparat, verstehen lässt, soll im Folgenden anhand eines Modells dargestellt werden, mit dem die Entwicklungen messbar und darstellbar werden.

2.2.2 Veränderung und Koordination kognitiver Schemata und Modelle

Viele der zuvor dargestellten Ansätze aus der Erwerbslinguistik, der Psycholinguistik und der Landeskundeforschung behandeln Wissenserweiterungen und Veränderungen zwar gezielt und viele Lehrpläne sprechen diese Änderungen als Desiderate des Unterrichts direkt an, bleiben aber in Bezug auf die Einlösbarkeit und Messbarkeit eher vage. Wenn aber die Wissensgenerierung und – wie etwa bei den Stereotypen im Landeskundeunterricht – die Veränderung von Einstellungen, Schemata und Modellen explizit angemahnt wird, dann sollte auch konkretisierbar sein, wie das geschehen kann, welche Ergebnisse zu erwarten wären und wie der Prozess im Unterricht gegebenenfalls gesteuert oder begleitet werden kann. Wohlgemerkt, die Veränderungen mentaler Modelle und Schemata betreffen prinzipiell Spracherwerb, Sprachmanagement und Transkulturation (und damit auch die Landeskunde) gleichermaßen.

Die Fähigkeit, sich neues Wissen anzueignen, das heißt, sich mit Fremdem auseinanderzusetzen, ist eine essentielle (instinktive) Grundlage der menschlichen Existenz und gehört zur Grundausstattung jedes Menschen. Durch Sozialisation und Enkulturation ist ein Rahmen gegeben, der für die Abstimmung und Viabilisierung von Wissensbeständen verantwortlich ist. Sozialisationsagenten wie die Eltern, die Schule, die Freunde und Kollegen (das Umfeld) haben somit einen entscheidenden Einfluss auf den Prozess des Wissenserwerbs und damit gleichermaßen Auswirkungen auf die Agenten. Gesteuert wird dieser Prozess durch pragmatische, ökologische und ökonomische Prinzipien.

Die Prozesse der Wissenskonstruktion können im kognitiven Sinne als Entwicklungs- und Veränderungsprozesse mentaler Schemata und bereits etablierter mentaler Modelle aufgefasst werden. Insofern können auch der Spracherwerb, die Interaktion von Sprachen bei Mehrsprachigen und die Prozesse der Transkulturation als Entwicklungen und Veränderungen mentaler Modelle und Schemata aufgefasst werden. Wissen wird erworben, konstruiert und ändert sich ständig. Es wird in unterschiedlichem Ausmaß von Mitgliedern verschiedener Gemeinschaften geteilt und ist ihnen zugänglich. Wissen umfasst enzyklopädische, prozedurale und emotionale Komponenten. Ein Individuum, das sich neues Wissen aneignet, verändert die bestehende Basis, ohne sie jedoch notwendigerweise aufzulösen.

Die Frage ist, wie sich mentale Modelle erforschen und darstellen lassen und wie sich die Änderungen messen lassen.

Schematheorien bieten für die Darstellung der dynamischen Wissenskonstruktion und ‑umstrukturierung, die auch zur Ausbildung sich verfestigender Schemata in mentalen Modellen führen kann, einen operationablen Rahmen an. Es zeigt sich dabei zum einen, dass sich mentale Modelle durch Wiederholungen etablieren und stabilisieren können, dass aber externe, deklarative Information zur Veränderung der Schemata und Modelle von Nutzen sein kann. Eine Effizienzsteigerung bei der Veränderung mentaler Modelle lässt sich vor allem dann erreichen, wenn die neue Information an die vorhandenen subjektiven mentalen Modelle andockt.

Wie die Messung der Modellveränderungen (Wissenserwerb) erfolgen kann, versucht Ifenthaler (2006) im Rahmen des HIMATT-Projektes (Highly Integrated Model Assessment Technology and Tools) mit Konzeptkarten computertechnisch zu operationalisieren. Der Ablauf der Schemaaktivierung in Folge einer Aufgabenstellung kann hierzu vereinfachend folgendermaßen dargestellt werden:


Abbildung 2.2: Prozessmodell zur Veränderung mentaler Modelle und der Restrukturierung kognitiver Schemata nach Ifenthaler (2006)

Bei Passgenauigkeit führt die Aktivierung der Schemata unmittelbar zur Lösung (AssimilationAssimilation). Ist die Schemaaktivierung nicht ausreichend zur Bearbeitung der Aufgabe, erfolgen Reorganisations- und Revisionsprozesse der Schemata und mentalen Modelle (AkkomodationAkkomodation). Durch diese Prozesse kann ein Schema erweitert (accretionaccretion) oder angepasst (tuningtuning) werden. Genügen diese Prozesse nicht für die Lösung der Aufgabe oder sind die mentalen Modelle nicht adäquat, setzen Reorganisationsprozesse der mentalen Modelle ein. Diese können zu einer Revision der Modelle und damit zu einer Lösung führen, aber auch erfolglos bleiben. Die Erfolgsaussichten für die Lösung einer Aufgabe lassen sich erhöhen, wenn alternative Schemata und Modelle bereits zur Verfügung stehen. Auch diese können zu einer unmittelbaren Lösung der Aufgabe führen oder in die Reorganisationsprozesse einfließen.

 

Schemata sind zwar empirisch nicht immer leicht zu fassen (Ifenthaler 2010), ihre Entstehungsprozesse, ihre Funktionen und ihre Veränderbarkeit lassen sich modellhaft dennoch gut darstellen. Am Beispiel der Schemaveränderungen bei Wechselpräpositionen durch eine animierte Grammatik (siehe Band »Sprachenlernen und Kognition«, Kapitel 2) konnte gezeigt werden, wie sich mittels der heute bereits verfügbaren Instrumente weitreichende Konsequenzen mentaler Modellierungen messen lassen. Mit diesen Instrumenten lassen sich auch die orientierenden und kategorisierenden Funktionen von Vorurteilen und Stereotypen wie auch deren Veränderbarkeit abbilden.

In vorherigen Lerneinheiten wurde bereits illustriert, wie die kognitiven Kategorisierungen der Lerner durch kulturspezifische mentale Modellierungen beeinflusst werden. Dabei ist davon auszugehen, dass die kognitiven Kategorien weniger universell ausgeprägt sind, als verbreitet angenommen wird. Sie sind variabel, abhängig von kulturspezifischen semantischen Eigenschaften und spielen eine entscheidende Rolle in der Entwicklung allgemeiner kognitiver Fähigkeiten.

Rather than cognitive categories being universal and giving rise to universal semantic categories, as is typically supposed, it seems that cognitive categories are variable and they align with crosslinguistically variable semantic categories. This work therefore contributes to the emerging view that language can play a central role in the restructuring of human cognition. (Majid, Bowerman, Kita, Haun & Levinson 2004: 113)

Gumperz und Levinson (1996) postulieren, dass diese kulturspezifischen Denkmodi im (ontogenetischen) Spracherwerb für das Sprechen erworben werden. Die Denkmodi reflektieren die linguakulturellen Differenzen und beeinflussen die kognitive Kategorisierung.

In this theory, two languages may ‘code’ the same state of affairs utilizing semantic concepts or distinctions peculiar to each language; as a result the two linguistic descriptions reflect different construals of the same bit of reality. These semantic distinctions are held to reflect cultural distinctions and at the same time to influence cognitive categorization. (Gumperz & Levinson 1996: 7)

Die Aufgabe, die Schemata verschiedener Provenienz in den gleichen kognitiven Strukturen zu vereinbaren und mittels kognitiver Prozesse zwischen ihnen vermitteln zu müssen, also Kategorisierungen unterschiedlicher Art nebeneinander zu verwalten, die gleichzeitig veränderbar sind und sich gegenseitig beeinflussen können, kann der Lerner beziehungsweise die Sprecherin oder der Sprecher lösen, wenn der Wissenszuwachs nicht zu einer Auflösung bestehender Modelle führt. Der Ansatz der Entwicklung konzeptueller Modelle geht zwar von einer Akkomodation bestehender Schemata und Modelle aus, steht aber nicht im Widerspruch zur Koexistenz und Interdependenz verschieden geprägter mentaler Modelle. Vergleiche auch Slobin (1996) und die kognitive Anthropologie von Goodenough (1970) und Goodenough (1964).

Wie gezeigt wurde, löst der Transdifferenzansatz das Problem der kognitiven Dissonanz nicht durch ein binäres System oder eine dritte oder höhere Qualität, sondern durch ein dynamisches Nebeneinander mehr oder weniger interagierender und temporärer Positionen und Einstellungen. In den Modellen von der Drittkultur (Bhabha 1994) oder dem Dritten Ort (Bennett 1993; Kramsch 1996) kommt diese Dynamik weniger zum Tragen und ist dort auch nicht unter kognitiven Aspekten behandelt worden. Nach dem Transdifferenzansatz stören die Differenzen die binäre Ordnung, aber substituieren sie nicht, sondern komplementieren sie (Lösch 2005: 28). Durch die dynamische Integration des Fremden in bestehende und sich verändernde Wissensbestände wird die binäre Trennung in Eigenes und Fremdes obsolet. Zwar sind unterschiedliche Wissensbestände identifizierbar, aber weder bleibt die Trennung bestehen noch muss es zu einer diffusen Hybridisierung kommen.

Die daraus entstehende transkulturelle Qualität der Wissensorganisation, die sich in Transdifferenz manifestiert, entwickelt sich nicht global, sondern selektiv nach Bedarf und Disposition in Domänen (ProvinzenProvinzen). Bemerkenswert daran ist, dass sich die Entwicklung transkultureller Kompetenzen als Komponente des Wissenserwerbs im Bereich dieser besonderen Interessen oder Interessensinseln bei günstigen Bedingungen sukzessiv sowohl auf andere Provinzen übertragen als auch auf globale Kompetenzen ausdehnen lässt. Das Funktionieren dieses sukzessiven Transferprozesses illustriert van Es (2004) am Beispiel der Entwicklung transkultureller Erscheinungen in Provinzen – wie der Musik – und ihrer anschließenden Übertragung auf andere Provinzen – wie den Sport oder die Mode –, bevor sie zu einer globalen Erscheinung werden. Provinzen können zu Themen wie Arbeitsplatz und Beruf, Sport, Musik, Folklore oder wissenschaftlichen Themen oder jedem anderen beliebigen Themengebiet gebildet werden.

Die Übertragung von transkulturellen Kompetenzen, die in einer Provinz erworben und praktiziert werden, auf andere Bereiche geschieht nicht automatisch. Auch sie bedarf der Vermittlung, Reflexion und Einübung. Nicht in der Einebnung oder Vermeidung dieser komplex erscheinenden Prozesse liegt die Aufgabe des Fremdsprachenunterrichts. Vielmehr ist er mit einer größeren Herausforderung konfrontiert, nämlich mit der Aufgabe, auch diese natürlichen Prozesse mit der richtigen Relevanz und Größe der ProvinzenProvinzen (Themen, Interessensgebiete) und dem richtigen Anspruchsniveau (Aufgabenstellungen) operationabel zu machen.

Die im Transdifferenzansatz angelegte multiple und dynamische Perspektivierung und die daraus resultierende Veränderung kognitiver Modelle lässt sich gerade in der Arbeit mit literarischen Texten und anderen Textgattungen nutzbar machen, und zwar dann, wenn die Lesart von Texten, das heißt die Perspektive auf eine Geschichte wie bei dynamischen Hypertexten erfolgt.

2.2.3 Konstruktion und Relationalität des Fremden

Die für die Einnahme einer anderen Perspektive nötige Veränderung der Einstellung gegenüber dem Fremden verlangt Bochner (1982) zufolge eine Umstrukturierung der kognitiven Kategorien der Individuen, wodurch sie tatsächlich „andere Menschen“ würden. Essentiell ist dabei laut Brière, dass interkulturelles Versteheninterkulturelles Verstehen als die Fähigkeit verstanden wird, das Fremde tatsächlich als kulturelles Subjekt und nicht als kulturelles Objekt zu betrachten (Brière 1986: 204). Wendt (1996) spricht hier von „mentalen Interpretaten“. Mit dieser Definition zeigt sich, dass Innen- und Außenperspektiven nicht fixierte („wahre“) Perspektiven sind, sondern auf Konstruktions- und Produktionsprozessen basieren, die vom gleichen kognitiven System des Lerners bewältigt werden.

Interkulturelles Lernen beruht […] auf der Einsicht, dass die eigene Wirklichkeit und die des anderen Konstruktionen sind und keiner die ‚wahre‘ Wirklichkeit besitzt. (Wendt 2000: 28)

Hieraus ergibt sich ein Modell der interpretativen Gemeinschaften, das selbständiges Handeln für Interpretation und Kompetenzmanagement erfordert. Es braucht die notwendige Strategienkompetenz (das savoir comprendre, Byram 1997) beziehungsweise eine „kritische Kompetenz“ (Roche & Roussy-Parent 2006; Roche & Webber 1995), die zum Beispiel die Auswahl, Bewertung und Kontextualisierung des Wahrgenommenen regelt (vergleiche Lösch 2003).

Krusche stellt in diesem Konstruktions- und Managementprozess die eigentlich relationale Qualität der diffusen Kategorie ‚Fremdheit‘ in den Fokus, die auf „Differenzen, Distanzen, Verschiedenheiten, Unterschiede“ (Krusche 1985a: 13) gerichtet sei. Nicht das Fremde an sich stehe im Mittelpunkt, sondern der Bezug zum Eigenen (Alterität). Zwangsläufig entstehen aus diesem relationalen Konzept Be- und Verfremdungen, die es gelte, im Sprach- und Literaturunterricht konstruktiv zu nutzen. Wie dieses relationale Konzept mittels verschiedenster Textgattungen, von der konkreten Poesie bis zu Romanen, umgesetzt werden kann, illustriert Krusche an einer umfangreichen Sammlung von Materialien für den Unterricht (Esselborn 2010, Krusche & Krechel 1984).

2.2.4 Zur Rolle literarischer Texte und anderer (medialer) Textgattungen

Mit literarischen Texten als Verdichtungen komplexer kultureller Systeme und mit unterdeterminierten lyrischen Texten als Impulse für kreative Denk- und Versprachlichungsprozesse wird versucht, eigene und fremde Kulturen zu rekonstruieren oder zu ergründen. Konkrete Poesie eignet sich unter anderem deshalb so gut, weil inhaltsschwere und aussagekräftige Texte auch von Lernern produziert werden können, die noch nicht über ein reichhaltiges Inventar sprachlicher Strukturen verfügen. Ähnlich ist auch in Literacy-Programmen – oft bereits im vorschulischen Alter – der Übergang vom Zuhören und Lesen zum eigenen Erzählen konstitutiv angelegt.

Nach dem Verfahren von Ehlers ist zwischen „innerer und äußerer Kontextualisierung“ zu unterscheiden, bei dem eine einem Text zugrundeliegende Situation zunächst in eine konzeptuelle Repräsentation (innere Kontextualisierung) umgewandelt und dann in Beziehung zu ihren nichtsprachlichen Kontexten (äußere Kontextualisierung) gesetzt wird (Ehlers 1989: 179f). Aus diesem an die Prinzipien der Rezeptionsästhetik angelehnten Verfahren ergibt sich eine Vermittlung zwischen zielkulturellem Konstrukt und der Interpretation des Lerners. Die wechselseitigen Vermittlungsprozesse, die im Wesentlichen auf der Interpretation des Betrachters beziehungsweise der Betrachterin oder des Lerners basieren, führen nur bedingt zu einer Rekonstruktion der Situation im Sinne zielkultureller Normen, sondern tragen zu der Ermittlung der ‚kulturellen Bedeutung‘ eines Konzeptes bei. Um Beliebigkeit zu verhindern, bedarf es dazu unter Umständen der Hilfe von außen, da eine konzeptuelle Repräsentation von kulturspezifischen Modellen abhängig ist.

Ein vergleichendes Verfahren zur Erarbeitung literarischer Texte mittels Hypo- und HypertexteHypo- und Hypertexten schlagen Nolden und Kramsch (1996) vor. Die kulturspezifisch geprägten und idiosynkratisch realisierten Perspektiven auf eine Geschichte lassen sich auf der Basis von grundlegenden, unter Umständen aus den Vorsprachen bekannten Konzepten und Texten (Hypotext) in selbst produzierten Hypertexten der Lerner wiedergeben (vergleiche Genette 1982). Hypo- und Hypertexte können im Anschluss – wie bei den digitalen Ethnographien – verglichen werden und als Grundlage für interkulturelle Reflexionen dienen. Lernerproduktionen zu Grimm- oder Anderson-Märchen, die in das Stamminventar vieler internationaler Erzählkulturen eingegangen sind, sind hierfür gute Illustrationen.

In den Fassungen der Studentinnen des Fortgeschrittenen-Deutschkurses einer kanadischen Universität auf der begleitenden Webseite zeigt sich, dass die von ihnen produzierten Varianten Ableitungen einer konventionalisierten englischsprachigen Übertragung (Little Red Riding Hood) der Grimm’schen Vorlage (Rotkäppchen) sind. Den Studentinnen waren ebenfalls Versionen der Grimm’schen Vorlage bekannt. Diese Ableitungsvariation kann folgendermaßen dargestellt werden (vergleiche dazu auch die Fassungen von Rotkäppchen in der Verwaltungs-, Chemiker- oder Linguistensprache bei Ritz 2000):


Abbildung 2.3: Hypertextvarietäten (Ableitungen) mit unterschiedlichen Schnittmengen der Varietäten untereinander und mit dem zugrunde liegenden Hypotext am Beispiel von Rotkäppchen-Variationen im Englischen

Nicht berücksichtigt in der Darstellung sind jedoch Mischformen aus den beiden Hypertextsequenzen, die je nach Disposition der Produzentin oder des Produzenten beliebig konstruiert werden können. Das Verfahren entspricht dem, was Wendt (1996) als Ansatz der semantischen Intertextualitätsemantische Intertextualität bezeichnet.

Das Modell von Nolden und Kramsch (1996) lehnt sich damit an textwissenschaftliche Perspektiven an, in denen Kultur als eine semiotische Konstellation von (Hyper-)Texten betrachtet wird, über die ein Ausgleich verschiedener Wissensbestände – über kulturelle Grenzen hinweg – bewirkt werden kann.

Für die Behandlung unterschiedlicher Textgattungen und ihrer medialen Realisierungen sowie als Instrument für die Bearbeitung von Texten und die Darstellung unterschiedlicher Perspektiven (Konstruktionen) bieten sich zunehmend elektronische Medien an. Die besondere Eignung elektronischer Medien und die Bedingungen ihres Einsatzes weisen einige Studien zum Medieneinsatz beim interkulturellen Lernen und Kommunizieren aus:

 

 Die Studien von Beers (2011), Goldman-Segall (1998) und Fischhaber (2002) zur digitalen Ethnographie erläutern die Grundlagen konstruktionistischen interkulturellen Lernens und illustrieren sie anhand verschiedener Lernprojekte, zum Beispiel am kulturkontrastiven Thema Wasserwelten (Beers 2011).

 Mit der Bewusstmachung medialer Einflüsse auf Wahrnehmung, Wahrheitsabbildung und Kommunikation beschäftigen sich unter anderem Kramsch und Andersen (1999). Anhand einer medial vermittelten Gerichtsverhandlung in Südamerika zeigen sie die durch kulturelle Prädispositionen geprägten Zensur- und Vorverurteilungsmechanismen auf und geben Hinweise auf die Nutzung des Verfahrens in der Sprach- und Kulturvermittlung.

 Schlickau (2009) liefert instruktive Einblicke in die – oft subtile – interkulturelle Gestaltung und Wirkung elektronisch vermittelter Werbung und in die Prozesse ihrer Rezeption.

 Die kulturspezifischen Präferenzen beim online-vermittelten Lernen erforschen unter anderem Reeder, Macfadyen, Roche & Chase (2004), Roche & Macfadyen (2004) und Chase, Macfadyen, Reeder & Roche (2002). Dabei gelingt es ihnen unter anderem, Kulturspezifika der öffentlichen versus privaten Kommunikation beim Lernen im Cyberspace herauszuarbeiten.

 Die Arbeit von Todorova (2009) relativiert optimistische Annahmen zur Kulturspezifik des online-gestützten Lernverhaltens und zeigt, dass die beobachteten Leistungsunterschiede stärker von individuellen motivationalen Variablen als von kulturspezifischen Lerndispositionen beeinflusst sind.

 Verschiedene – bereits dargestellte – Internetportale bemühen sich um den interkulturellen Austausch mittels elektronischer Kommunikationsmittel (E-Tandems, Cultura) und nutzen die Portale gleichzeitig für Forschungszwecke.

 Elektronische Hypertexte haben sich als besonders geeignet zur Darstellung der Dynamiken von Textrezeption und Textproduktion erwiesen (siehe Band »Sprachenlernen und Kognition«, Lerneinheit 5.3).