Kultur- und Literaturwissenschaften

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Z serii: Kompendium DaF/DaZ #7
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1.3.3 Das 5-Phasenmodell der interkulturellen Sprachdidaktik

Den Weg zur Horizontverschmelzung als Kernelement der interkulturellen Hermeneutik betrachten die interkulturelle Sprachdidaktik und verwandte Ansätze als graduell bewältigbaren Prozess der Annäherung. An Modellen der sukzessiven Annäherung an das Fremde orientieren sich unter anderem die Lehrwerke Sichtwechsel (Hog, Müller & Wessling 1984), Typisch Deutsch? (Behal-Thomsen, Lundquist-Mog & Mog 1993) und Für- und Widersprüche (Roche & Webber 1995), die bemerkenswerterweise alle aus der gleichen Epoche stammen, aber keine Nachfolger gefunden haben. Ihre Fortsetzung finden die Ansätze der interkulturellen Sprachdidaktik in der stärkeren Fokussierung auf Aspekte der Transkulturation (Ehrhardt 2009; Reimann 2008; Rieger 2008; Engelbert 2008; Birk 2008; Brunnhuber 2008; Janich 2002; Agar 1994). Wie man sich den Annäherungsprozess vorstellen kann, illustriert das 5-Phasenmodell der interkulturellen Sprachdidaktik. Es bietet eine Orientierung für eine Vorgehensweise, die zu multiperspektivischem Lernen führen soll und mit mehr oder weniger unterrichtlicher Steuerung eingesetzt werden kann. Sein Ablaufschema liegt dem Lehrwerk Für- und Widersprüche (Roche & Webber 1995) zugrunde. Das Modell impliziert, dass die präsentierten Themen auf das Interesse der Lerner stoßen und somit authentische (für die Lerner relevante) Prozesse der intellektuellen Auseinandersetzung mit interkulturellen Thematiken auslösen, die die Ausgangskultur und -sprache der Lerner mitberücksichtigen. Über verschiedene didaktische Schritte lässt sich der Fremdheit erschließende Zugang (neben anderen) operationalisieren. Dabei ist eine unterrichtsmethodische Reduzierung oder Auflösung der Fremdheit weder Bedingung noch Ziel des Verfahrens.

Trotz verschiedener Ähnlichkeiten zu Bennetts Modell von interkultureller Kommunikation (1993) handelt es sich beim 5-Phasenmodell nicht um eine Ableitung davon. Der Zugang zum Fremdverstehen erfolgt nicht global, sondern in Teilbereichen, wie es für didaktische Verfahren üblich ist. Die Stufen des 5-Phasenmodells der interkulturellen Sprachdidaktik gestalten sich folgendermaßen:


Phase Aktivitäten
1. Aktivierungsphase Formulierung der ersten Reaktionen auf das Thema Herstellung der Relevanz Aktivierung des Vorwissens
2. Thematische Differenzierungsphase Herausforderung oder Bestätigung eigener Ansichten, Meinungen und Einstellungen der Lerner weitere Exploration
3. Strukturelle Differenzierungsphase Bearbeitung der Aufgaben des Themas anhand diverser Hilfestellungen
4. Expansionsphase Vervollständigung der thematischen Differenzierung Einbringen und Sammeln neuer Perspektiven Erweiterung der inhaltlichen Diskussion
5. Integrationsphase Erläuterung kontroverser Perspektiven Hervorhebung der sprachlichen Variation in unterschiedlichen Textsorten

Tabelle 1.1: Die Stufen des 5-Phasenmodells

1 Die Aktivierungsphase (Vorentlastung) ermöglicht es den Lernern, ihre ersten Reaktionen auf das Thema einer Lerneinheit zu formulieren und zu ordnen sowie die Relevanz für sich herzustellen. Die wichtigsten sprachlichen und konzeptuellen Fragen, die bei der Durchführung der Aufgaben eine Rolle spielen könnten, werden bearbeitet, und Hilfen werden zur Verfügung gestellt. Vorwissen wird aktiviert, meist durch Assoziationen. Die Lerner können aktiv an der Findung und Formulierung des Themas beteiligt sein.

2 Die thematische Differenzierungsphase (in Form eines ersten Haupttextes, einer ersten Aktivität oder einer Sammlung von kürzeren Texten) gibt eine bestimmte Perspektive zum Thema wieder, die die Ansichten, Meinungen und Einstellungen der Lerner herausfordert oder bestätigt und damit zu weiterer Exploration führt. Das Thema und ein angemessener Behandlungsmodus werden somit gleichzeitig etabliert. Wichtige sprachliche Mittel zur Lösung der anstehenden Aufgaben werden zur Verfügung gestellt. Assoziatives Denken und Vergleichen werden gefordert und gefördert, um so Reflexionen auszulösen und zu ersten Schlussfolgerungen zu führen.

3 Die strukturelle Differenzierungsphase (Kontextualisierung / Spezialisierung) stellt verschiedene Hilfsmittel zur Bearbeitung der Aufgaben des Themas zur Verfügung: Informationsquellen (inklusive Internetrecherchen), Methoden, Techniken und Strategien für den vertieften Umgang mit dem Thema wie zum Beispiel Grammatik, Wortschatz und Lernstrategien. Auch diese Hilfsmittel werden interkulturell vermittelt und erarbeitet, und zwar, soweit möglich, mit thematischem Bezug auf die entsprechende Lerneinheit. Teile dieses Abschnittes können auch als „Auszeiten“ für grammatische oder strategische Vertiefungen arrangiert werden. Stärker strukturierte Formen des Denkens, wie das konzeptuelle (bedeutungsbezogene) und taxonomische (ordnende) Denken, treten dabei in den Vordergrund.

4 Die Expansionsphase vervollständigt die thematische Differenzierung in Bezug auf Information, Spezifik beziehungsweise Perspektive. Hier werden neue Perspektiven eingebracht und versammelt, um damit die (inhaltliche) Diskussion zu erweitern und um die bestehenden Perspektiven der Lerner weiter entwickeln zu helfen. Zusätzliche Vergleiche und Reflexionen werden initiiert. Deduktives Denken tritt hierbei in den Vordergrund. Das sprachliche Repertoire wird durch zusätzliche Begriffe und Strukturen verfeinert und entsprechend geübt.

5 In der Integrationsphase (Gegenüberstellung) wird das zuvor erreichte Diskussions- und Wissensniveau weiteren, auch deutlich kontroversen Perspektiven gegenübergestellt, und zwar nach Möglichkeit mit gleichzeitigem Blick auf die sprachliche Variation in unterschiedlichen Textsorten. Die sprachliche Formulierung der verschiedenen Perspektiven sollte mit Ausnahme der rezeptiven Fertigkeiten möglichst nicht über das sprachliche Niveau der Lerner hinausgehen. Die Lerner sollten die Materialien aber selbständig nutzen und ihre eigenen Ansichten mit dem entsprechenden Selbstvertrauen und der nötigen sprachlichen Sicherheit vertreten können. Der Grad des deduktiven Denkens soll dabei erhöht werden.

Die fünf Phasen werden durch zahlreiche Referenzmaterialien, also die Nutzung von Wörterbüchern, Grammatiken, Adressen, Internetquellen, weiteren Lesetexten und ähnlichem ergänzt, die für das selbständige Lernen nötig sind. Der Umfang der Phasen ist variabel. Er kann entsprechend den Bedürfnissen der Lerner und der Lernziele angepasst werden. Alle Phasen basieren auf bedeutungstragenden Beziehungen. Assoziative Denkformen werden zunehmend durch deduktive ersetzt, je weiter die Lerner in den Phasen fortschreiten. Das vierstufige Modell des interkulturellen Sprachunterrichts von Byram und Morgan (1994: 50) enthält ebenfalls systematisierte Didaktisierungsvorschläge (vergleiche auch Witte 2006) zur Progression im interkulturellen Unterricht).

Aus der Darstellung der verschiedenen kulturvermittelnden Ansätze werden unterschiedliche Schwerpunkte und Ziele deutlich. Neben traditionellen faktenorientierten und vorwiegend auf die Rekonstruktion denotativen Wissens ausgerichteten Verfahren, mit verschieden starker linguakultureller Orientierung, finden sich zunehmend Ansätze, die in unterschiedlichem Maße konstruktivistische Aspekte des Fremdverstehens berücksichtigen. Wie diese mit Prozessen der Transkulturation vereinbar sind, soll im folgenden Kapitel behandelt werden.

1.3.4 Zusammenfassung

In dieser Lerneinheit ging es darum, die Relevanz der interkulturellen Hermeneutik für die Sprach- und Kulturvermittlung kritisch zu reflektieren. Dabei zeigt sich, dass die wesentlichen Konzepte der Hermeneutik oft leichtfertig und nicht gut verstanden herangezogen werden, um didaktische Verfahren zu begründen. Die Begriffe das Eigene und das Fremde oder Perspektivwechsel und ähnliche signalisieren ein mangelndes Verständnis für die kognitive Umsetzbarkeit anspruchsvoller Lehrpostulate. In dieser Einheit haben Sie

 die theoretischen Grundlagen der interkulturellen Sprachdidaktik und eine Reihe einschlägiger Referenzen kennengelernt;

 verschiedene Ansätze zur Kulturvermittlung und Landeskunde im Fremdsprachenunterricht kritisch reflektiert;

 Illustrationen von Lehrmaterialien und einen mehrstufigen Vermittlungsansatz für die Praxis kennengelernt und kritisch begutachtet.

1.3.5 Aufgaben zur Wissenskontrolle

1 Was verbirgt sich hinter dem paradox klingenden Begriff Inkompetenzkompensationskompetenz?

2 Was besagen neuere Studien zum Austausch von Schülern und Studenten in Bezug auf die Entwicklung interkultureller Kompetenzen?

3 Illustrieren Sie anhand des 5-Phasenmodells, wie ein Annäherungsprozess durch multiperspektivisches Lernen in der interkulturellen Sprachdidaktik möglich ist.

4 Welches sind die in dieser Lerneinheit deutlich gewordenen unterschiedlichen Schwerpunkte der kulturvermittelnden Ansätze?

 

2 Transkulturation und Transdifferenz

Interkulturelle Kommunikation ist ein etablierter Begriff in der Alltagssprache, in Lehrplänen, in vielen wissenschaftlichen Disziplinen und in populären Firmentrainings. Dennoch ist nicht klar festgelegt, was genau damit gemeint ist. War es in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts notwendig, in der aufkommenden postkolonialen, zunehmend multikulturell geprägten Zeit auch passende Begriffe zu besitzen, so sind zunehmend Zweifel an der Umsetzbarkeit multi- und danach interkultureller Gesellschaftsmodelle aufgetreten. Das hat vor allem mit der Erkenntnis zu tun, dass Kontakt alleine noch keinen Austausch und kein Verstehen bewirkt, sondern oft sogar die Gegensätze verschärft. Im Zuge dieser Diskussion lassen sich unterschiedliche Strömungen feststellen: die eine, die munter einem vagen Multi- und Interkulturalismus-Konzept verschrieben ist, dessen hermeneutische Prämissen um das Fremde und Eigene, Perspektivenwechsel und Toleranz kreisen. Eine andere, die gerade diese hermeneutischen Prämissen hinterfragt und sich damit auch von den frühen Begrifflichkeiten der Debatte distanziert. In diesem Kapitel geht es darum, dieser zweiten Strömung Platz einzuräumen. Es wird daher dargestellt, welche Weiterentwicklung das Konzept der Transkulturation und das der Transdifferenz gegenüber statischen Modellen der kulturellen Begegnung darstellen, inklusive dem der Transkultur. In diesem Zusammenhang wird auch das vermeintliche Gegenstück zu interkultureller Kommunikation, die Verwendung eines vermeintlich universellen, linguakulturunabhängigen Instrumentes beleuchtet, wie es in einer Lingua Franca gegeben scheint. Im Mittelpunkt der Behandlung steht die Frage, wie sich individuelle Identitätskonstruktionen mit vorherrschenden gesellschaftlichen vereinbaren lassen, ohne dass es zu Auflösungserscheinungen kommen muss (Lerneinheit 2.1). Lerneinheit 2.2 stellt die Grundlagen des Verstehensmodells Transdifferenz ausführlich dar. Lerneinheit 2.3 befasst sich schließlich mit der Rolle der Lingua Franca als Instrument in Wissenskulturen und Wissenschaftssprachen.

2.1 Kulturtransfer und Identität

Jörg Roche

Wer mit Sprache kommuniziert, nimmt bekanntlich unterschiedliche Rollen an, weil er damit Unterschiedliches ausdrücken kann. Über diese in sozialer Interaktion ausgehandelten Rollen konstituiert ein Sprecher also unterschiedliche Identitäten. Wie aber verändern sich diese Rollen über sprachkulturelle Grenzen hinweg, wie lassen sie sich nebeneinander organisieren, ohne zu Interferenzen oder Konflikten zu führen? Die Frage der sozialen Identität eines Sprechers führt gleichzeitig zu grundsätzlichen Fragen des Kontaktes und Austausches von Kulturen. Inwiefern führt der Kontakt zu Konvergenzen, inwiefern zu Divergenzen? Handelt es sich dabei um Eigenschaften oder Zustände, wie es die Bezeichnungen Transkultur beziehungsweise transkulturell suggerieren oder eher um dynamische Prozesse der Transkulturation? Wie lassen sich diese ergebnisoffenen Prozesse sinnvoll im Unterricht einsetzen?

Lernziele

In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie

 die Konstitutionsprozesse sozialer Identität durch Sprache verstehen;

 die Mechanismen der mehrfachen Kollektivzugehörigkeit von Sprechern kennenlernen;

 die Prozesse von Konvergenz und Divergenz in transkultureller Kommunikation erkennen;

 die Konzepte Transkultur und Transkulturation kritisch betrachten;

 sich mit der skeptischen Hermeneutik als didaktischem Ansatz des Fremdsprachenunterrichts auseinandersetzen.

2.1.1 Kommunikative Steuerung sozialer Identitätsprozesse

Mit der Sprache konstruieren Sprecher und Sprecherinnen ihre Rolle in der sozialen Interaktion und kommunizieren diese an ihre Gesprächspartner beziehungsweise Gesprächspartnerinnen und die Außenwelt. Quist und Jørgensen (2009: 386) weisen darauf hin, dass selbst die “most monolingual speakers” Code-Wechsel betreiben, um damit den Wechsel von einer Rolle zur anderen zu markieren. Dieser Wechsel muss nicht situativ oder kontextuell, sondern kann auch metaphorisch sein. Unzählige Studien verweisen auf den Zusammenhang von Sprache und Identität und den identitätsstiftenden Charakter der Sprache bei Mehrsprachigen: Pavlenko (2006); Pavlenko & Blackledge (2004); Panayiotou (2004); Piller (2002); Bamberg (1997). Eine Zusammenfassung qualitativer und quantitativer Studien findet sich in Dewaele (2009), ein Überblick über die Forschungsentwicklung in Baquedano‑López & Kattan (2007).

Die soziale Konstruktion kann ihren Ausdruck in unterschiedlicher sprachlicher Form finden oder sie kann durch Registermarkierungen unterstützt werden. Zu den Markierungen gehören syntaktische, morphologische oder phonetische Markierungen. Quist und Jørgensen (2009) zeigen, wie etwa durch den Wechsel von einem labio-dentalen /w/ zu einem dentalen Verschlusslaut /v/ in dänischer Jugendsprache eine Markierung als ausländisch beziehungsweise Ausländer oder Ausländerin entsteht und welche Folgen diese sprachliche Identitätskonstruktion bewirkt. Hierzu gehören etwa auch lexikalische Markierungen eines Registerwechsels: zum Beispiel in der deutschen und dänischen Kanaksprak isch schwör oder Dänisch jeg sværger, (Quist & Jørgensen 2009: 383) im Sinne von ‚ehrlich‘, ‚ich sags dir doch‘ oder ‚wonn isch dirs doch saach‘ (Hessisch). Nicht jeder Sprecher oder jede Sprecherin greift jedoch auf diese Konstruktionsmittel zurück. Die Markierung des Wechsels verlangt eine Bereitschaft, Sensibilisierung, und persönliche Anlage und Kompetenz für die Konzeptualisierung beim Sprecher, eine hinreichende Salienz in der Kommunikation sowie eine entsprechende Einschätzung der sozialen Bedeutung durch den Sprecher. Auer und Dirim (2003) zeigen in ihrer Studie, wie Jugendliche in Hamburg Strategien zur Identitätskonstruktion und Markierung von Gruppenzugehörigkeiten verwenden. Dabei spielt es keine Rolle, ob die aus einer der beteiligten Sprachen entlehnten Elemente reale Wörter oder Chunks dieser Sprache sind. Sie können auch als Anlehnungen an diese Sprachen zur Markierung der Fremdsprachigkeit oder eines Identifizierungs- oder Distanzverhältnisses zu einer Sprache verwendet werden. Damit kann man sich von dieser Sprache oder von einer Gruppe abgrenzen, der man die Sprache zuordnet, zum Beispiel indem man sich über sie lustig macht (vergleiche Hinnenkamp 2003). Jørgensen (2004) nennt dieses Verfahren languaginglanguaging und Wächli (2005) bezeichnet den Vorgang der Neu- oder Umbenennung mittels fremdsprachiger Elemente in Anlehnung an Kreolisierungsprozesse der Relexifizierung relexicalisationrelexicalisation. Auch als foreignizingforeignizing kann man dieses Verhalten bezeichnen (siehe Abschnitt 3.3.1 und Lerneinheit 4.3).

Wie Lo (1999) anhand des heteroglossischheteroglossischen Verhaltens asiatischer Jugendlicher in Los Angeles zeigt, bedarf es aber trotz der genannten sprachlichen Identifikationsmittel immer noch der Ratifizierung und Legitimierung der sozialen Rolle der Jugendlichen durch das soziale Umfeld. Die soziale Legitimierung ergibt etwa die Aufnahme in die Ingroup und die Übernahme bestimmter Rollen. Wo sprachliche und soziale Identität nicht korrespondieren, bedarf es oft weiterer Legitimierungsprozesse.

2.1.2 Kollektivzugehörigkeit als Ausdruck von pluraler Identität

Wie lassen sich die pluralistischen Rollenzuschreibungen eines Individuums darstellen und vereinbaren? Hansen (2011) entwickelt hierzu ein Modell, das versucht, die intragesellschaftliche Heterogenität so abzubilden, wie es im Bereich der Soziolinguistik die Variations- und Registerforschung tut (vergleiche auch die Prolegomena von Lüdi 2003 zu den mehrsprachigen Repertoires und pluriellen Identitäten von Migranten).

Hansen (2011) unterscheidet aus guten Gründen systematisch zwischen dem traditionellen ethnologischen und einem wissenschaftlichen Kulturbegriff, für den er das Konzept des Kollektivs verwendet. Das Kollektivsystem sei demnach nicht als fertiges System vorhanden, sondern bilde sich aus ungeplanten Konventionen der Beteiligten und könne sich beliebig differenzieren und proliferieren, sei also dynamisch. Normen und Standardisierungen der Kollektive entstehen aus Konventionen, die sich ihrerseits aus präkollektiven Elementen entwickeln. Die Gültigkeit der Normen für ein bestimmtes Kollektiv konstituiere keine Gültigkeit für andere. Individuen gehören nicht nur einem Kollektiv, sondern einem System der Multikollektivität an. Die Identität eines Individuums entsteht somit aus dem Profil der verschiedenen Subkollektive, zu denen ethnische Kollektive, also auf pankollektiven Komponenten wie Nationalität, Religion, Sprache oder ethnischer Gruppe basierende Schicksalskollektive, und Interessenskollektive wie Arbeit und Freizeit gehören. Hansen unterscheidet ferner zwischen verschiedenen Ebenen von Kollektiven, nämlich denen des ersten Grades, die Individuen betreffen, und denen des zweiten Grades, die die Organisation verschiedener Kollektive untereinander bezeichnen. Jedes Kollektiv bildet auf diese Art eine eigene Kultur aus. Hansens Kulturmodell teilt Nationalkulturen damit in eine flexible, untereinander organisierbare Menge von Kollektiven auf, die mehr oder weniger deutlich trennbar bleiben. So erlaubt das Modell, Individuen als multikollektiv auszuweisen. Wie das Individuum diese Dynamik kognitiv verarbeitet oder transkollektiv organisiert, klärt es nicht.

Ein ähnliches Kollektivitätsprinzip, das das Management der Kollektive aber stärker in den Blick nimmt, stellt die Cultural Theory von Douglas (1992) dar. Es differenziert die Kollektive dadurch, dass neben die Kollektivitätsdimension (group) eine Individualitätsdimension (grid) tritt. Mit der group dimension nehmen die Gruppenbindung und die damit verbundenen Schwierigkeiten des Zugangs (durch steigende Anforderungen) zur Gruppe zu, mit der stärkeren Zuordnung zur grid dimension steigt die Einschränkung der individuellen Wahlmöglichkeiten des Zugangs zu Gruppen. Nach Karmasin (2002: 840) ergeben sich daraus vier prototypische Kulturen: die Individualisten, die Fatalisten, die Egalitären und die Hierarchisten.

Die prototypischen Kulturen lassen sich wie folgt genauer charakterisieren (Karmasin 2002: 846):


Abbildung 2.1: Einteilung von Kollektiven nach Individualitäts- (Grid) und Gruppendimension (Group) in der Cultural Theory nach Douglas (Karmasin 2002: 840)

Dieses Modell sieht starke (interne) kollektive Normierungen (Viabilisierungen) der Gruppe im Sinne von Wendt (1996) vor, die aber kaum externen Restriktionen der Gesellschaft unterliegen. Es handelt sich um ein Modell, in dem die Gruppenzugehörigkeit von sozialen und kommunikativen Prozessen gesteuert wird und das, wie auch das Modell von Hansen, multiple Zugehörigkeiten zu und Ausprägungen von Kollektiven erlaubt. Die Dimensionen sind dynamisch veränderbar. Durch die Zugehörigkeit zu verschiedenen, unter Umständen konträren Kollektiven entstehen jedoch auch Probleme der Zuordnung und Vereinbarkeit. Wie die daraus entstehenden kognitiven Dissonanzen vom Individuum bewältigt werden können, wird in dem Modell nicht geklärt.