Kompetenzorientierter Unterricht auf der Sekundarstufe I

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

4 Zur Herkunft und weiteren Bestimmung von Kompetenz

Die Auseinandersetzung mit dem Kompetenzbegriff ist schon älter (zusammenfassend: Bach 2013, 15–21). Als Folge der zumindest teilweise ernüchternden Ergebnisse wird die Diskussion seit PISA – vor allem bezogen auf den Unterricht in der Schule – intensiver und gleichzeitig kontroverser geführt. Sie widerspiegelt sich in sehr vielen wissenschaftlichen und weiteren Publikationen wie dem Lehrplan 21 und den Bildungsstandards in Deutschland und der Schweiz. In fast jedem Fachbereich spielt der Begriff heutzutage eine Rolle. Kaum ein Begriff prägte in den letzten Jahren die Sozial- und Erziehungswissenschaften derart wie der Begriff «Kompetenz» (Bach 2013, 15). Klieme und Hartig (2007) sprechen von einem Modebegriff. Weitere Autoren verweisen auf seine inflationäre Verwendung (z.B. Arnold u. Schüssler 2008; Bodensohn 2003; Weinert 2001). Kritisiert werden seine Unschärfe und die Traditionslosigkeit, mit welcher er verwendet wird. Gefragt wird sogar, «ob die Begriffe ‹Kompetenz› und ‹Kompetenzentwicklung› nicht lediglich eine neue Begriffsmode im Reigen einer sich hochschaukelnden Fachrhetorik» seien (Arnold 2002, 27). Weitere lehnen den Begriff für die Schule ganz ab (Koch 2013).

Gleichwohl ist der Begriff selbstverständlich nicht beliebig definierbar: «Wer ihn nutzt, stellt damit heraus, dass er Fähigkeiten und Bereitschaften (a) im Blick auf konkrete Situationen und Aufgaben betrachtet und zugleich (b) ihre Anwendbarkeit in einer Vielzahl solcher Situationen und Aufgaben unterstellt» (Klieme u. Hartig 2007, 14). In der Lehrerbildung kommen Standards, die Kompetenzen beschreiben, seit den 1990er-Jahren vor, in der Schweiz auch verbunden mit dem Nationalen Forschungsprogramm 33 «Wirksamkeit unserer Bildungssysteme», insbesondere der in dessen Rahmen durchgeführten Untersuchung von Oser und Oelkers (2001) zur Wirksamkeit der Lehrerbildungssysteme. Die damalige Quintessenz lautete: «Die Professionalisierung als komplexer Kompetenz­erwerb in der Ausbildung zum Lehrerberuf liegt im Argen. Man ist erstaunt, feststellen zu müssen, dass die Verarbeitungstiefe bei zentralen Fähigkeiten zur Bewältigung der Aufgaben in diesem Beruf kaum ausgeschöpft wird […]. Das, was im Kopf der Lehramtskandidaten und -kandidatinnen entsteht, ist nicht professionelles Können und Beherrschen, sondern bloss partikuläres, verinseltes Wissen» (Oser 2001, 310). Für die Forschung zur Lehrerbildung ist Kompetenz inzwischen zu einem «konstitutiven Grundbegriff» (Bach 2013, 16) geworden.

In der Auseinandersetzung mit dem Begriff lassen sich drei Positionen unterscheiden. Wie für die Lehrerbildung aufgezeigt (Terhart 2007), werden Kompetenzen auch im Zusammenhang mit Schule und Unterricht einerseits «als die zentrale und zukunftsweisende pädagogisch-didaktische Innovation im Bildungssystem der Gegenwart» verstanden, andererseits jedoch «als ein verhängnisvoller enthumanisierender Irrweg zur Verzweckung des Menschen im Kontext einer Ökonomisierung des Bildungssystems gesehen» (Matthes 2013, 121). Dritte gehen einen Zwischenweg und sehen im kompetenzorientierten Unterricht nichts als neuer Wein in alten Schläuchen (ebd.). Unbestritten ist nur, dass der Begriff vielfach und vielfältig diskutiert und verwendet wird und die Gemüter teilweise heftig bewegt (z.B. Koch 2013; Liessmann 2014). Die Stichwortsuche zu «Kompetenz» in der Literaturdatenbank FIS Bildung ergibt über 30000 Treffer und zeigt eine rasante Zunahme von Publikationen ab den 1970er-Jahren.

Klieme und Hartig (2007), Bach (2013, 15–16) und Maag Merki (2009) machen zu Recht darauf aufmerksam, dass der Kompetenzbegriff im 20. Jahrhundert in der Sprachwissenschaft, in der Philosophie und in der Psychologie eine zentrale Rolle spielte. In seiner Theorie der Sprachkompetenz unterscheidet der amerikanische Linguist Noam Chomsky (*1928) zwischen Kompetenz als allgemeiner Sprachfähigkeit und Performanz als individueller Sprachverwendung (Sprachwissen im Gegensatz zu Sprachkönnen) und knüpft damit an die Dichotomie von langue und parole des Schweizer Linguisten Ferdinand de Saussure (1857–1913) an. In der Erziehungswissenschaft geht der Kompetenzbegriff auf Heinrich Roth (1906–1983) zurück, der in den 1960er-Jahren durch seine Forderung nach einer «realistischen Wende» der deutschen Erziehungswissenschaft bekannt wurde. Darunter verstand er die Entwicklung und Verwendung auch von erfahrungswissenschaftlichen – also empirischen – Forschungsmethoden in der Pädagogik zusätzlich zu den bisher verwendeten historischen und philosophischen. Roth (1971) spricht von der «Mündigkeit als Kompetenz für verantwortliche Handlungsfähigkeit» und meint damit «die seelische Verfassung einer Person, bei der die Fremdbestimmung soweit wie möglich durch Selbstbestimmung abgelöst ist». Diese besteht «(a) als Selbstkompetenz […] d.h. die Fähigkeit, für sich selbstverantwortlich handeln zu können, (b) als Sachkompetenz, d.h. die Fähigkeit, für Sachbereiche urteils- und handlungsfähig und damit selbstständig sein zu können, und (c) als Sozialkompetenz, d.h. die Fähigkeit, für sozial, gesellschaftlich und politisch relevante Sach- und Sozialbereiche urteils- und handlungsfähig und also ebenfalls zuständig sein zu können» (Roth 1971, 180; zusammenfassend: Klieme u. Hartig 2007, 19–20; vgl. auch Reusser 2014a).

In die Diskussion des Kompetenzbegriffs bezieht Reichenbach (2008, 44) den Soziologen Basil Bernstein (1924–2000) ein, dessen Unterscheidung zwischen restringiertem und elaboriertem Sprachcode und damit schichtspezifisch unterschiedlichen Sprachkompetenzen in der Linguistik breit rezipiert wurde. Zudem verweist er auf den Linguisten Dell Hymes (1927–2009), der für die Soziolinguistik den Begriff der kommunikativen Kompetenz prägte. Ebenso macht er auf Piagets Ausführungen zur kognitiven Kompetenz (die auch in Chomskys Sprachtheorie von zentraler Bedeutung ist) und auf Lévi-Strauss’ kulturelle Kompetenz in der Ethologie aufmerksam. Der damaligen Diskussion von Kompetenz gemeinsam war das «anti-behavioristische […] Selbstverständnis […]: Welt wird hier in Interaktion mit der Umwelt konstruiert, als Leistung individueller und sozialer Aktivität» (ebd.).

Nach der langen Zeit des amerikanischen Behaviorismus waren Piaget, Frederic Ch. Bartlett (1886–1969), Aebli, Chomsky sowie Jerôme Bruner (*1915), Ulric Neisser (1928–2012) und Weitere die Wegbereiter und Gestalter der «kognitiven Wende» Ende der 1960er-Jahre. In der Folge entwickelte sich in den nächsten dreissig Jahren das heutige kognitiv-(sozial-)konstruktivistische, adaptive Lehr- und Lernverständnis (z.B. Reusser 2006; Hasselhorn u. Gold 2013; Woolfolk 2014), welches dem kompetenz­orientierten Unterricht zugrunde liegt.

Mit Kompetenz verbindet sich Zuständigkeit, Fähigkeit und Bereitschaft. Sie ist vorhanden, wenn sich diese drei Aspekte «in Deckung befinden» (Klieme u. Hartig 2007, 12; vgl. auch Duden Fremdwörterbuch). «Kompetenz im Sinne einer Zuständigkeit bzw. Befugnis verweist auf die Verwendung in einem vor allem juristischen Kontext. Kompetenz verstanden als Fähigkeit bestimmt dagegen u.a. das linguistische, psychologische und erziehungswissenschaftliche Begriffsverständnis» (Bach 2013, 16). Mit «Fähigkeit» werden in den heutigen Sozialwissenschaften psychische Dispositionen bezeichnet, die Handeln ermöglichen. «Bereitschaft» bezieht sich auf die kontext- und situationsgebundene Verwendung der «Fähigkeit» im Zusammengehen mit Motivation und Volition (Wollen). Hinzu kommt oftmals eine «normative Komponente», bei der es um die Frage geht, «wer warum welche Dispositionen erwerben und nutzen soll bzw. darf» (Klieme u. Hartig 2007, 13).

Kompetenz bezieht sich aus der Sicht nach PISA «sowohl auf Handlungsvollzüge als auch auf die ihnen zugrunde liegenden mentalen Prozesse und Kapazitäten, zu denen Kognition, Motivation und Volition bzw. Wissen und Können gehören» (Klieme u. Hartig 2007, 13). Sie umfasst netzartig zusammenwirkende Facetten wie Wissen, Fähigkeit, Verstehen, Können, Handeln, Erfahrung und Motivation (Klieme et al. 2003, 72–73). Als Disposition befähigt Kompetenz eine Person, konkrete Anforderungssituationen zu bewältigen – beispielsweise Deutschunterricht zu planen, durchzuführen und bei den Schülerinnen und Schülern hinsichtlich des angestrebten Zuwachses an Wissen und Können zu beurteilen. Sie zeigt sich in der Performanz einer Lehrperson, nach heutigem kognitiv-(sozial-)konstruktivistischem, kompetenzorientiertem Verständnis (zusammenfassend z.B.: Lersch u. Schreder 2013) zu unterrichten. Als adaptive Lehrkompetenz bildet sie die Voraussetzung, um den Unterricht – der Heterogenität der Schülerinnen und Schüler Rechnung tragend – zu gestalten (Beck et al. 2008; Rogalla und Vogt 2008; Brühwiler 2014). Sie schliesst die (fach-)didaktische Strukturierung des Unterrichts ein, mit der die heterogene Schülerschaft der Klasse möglichst passend kognitiv aktiviert wird. Gemäss den Bildungsstandards in Deutschland und dem Lehrplan 21 in der Schweiz soll Unterricht den Erwerb von mindestens grund­legenden Kompetenzen im betreffenden Schulfach durch alle Schülerinnen und Schüler ermöglichen.

Für Weinert (2001, 27), dessen weitverbreitete Definition auch dem Lehrplan 21 zugrunde liegt, umfasst Kompetenz

«die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können».

Kompetenzen sind weder angeboren, noch beruhen sie auf Reifungsprozessen, sondern sind das Ergebnis intelligenter Wissenskonstruktion (Ziegler, Stern u. Neubauer 2012, 17–20). White (1959, 297, zit. in Bach 2013, 16) bezeichnet Kompetenz als «an organism’s capacity to interact effectively with its environment». Nach ihm – und wie dargestellt auch mit Deci und Ryan (1985) – hat das Individuum ein intrinsisch motiviertes Bedürfnis nach Kompetenz, um Einfluss auf die eigene Umwelt zu nehmen und ihre Anforderungen effektiv zu bewältigen. Kompetenz ist keine generelle Fähigkeit, womit sie sich unterscheidet von Intelligenz als einer allgemeinen kognitiven Fähigkeit. Sie ist auf spezifische Inhalte, Kontexte und Situationen bezogen und schlägt sich nieder in konkretem Handeln (Maag Merki 2009). Neuere Publikationen (z.B. Paechter et al. 2012) thematisieren Kompetenz im fachdidaktischen Zusammenhang mit Schulfächern (Domänen). So etwa gehen Gailberger und Wietzke (2013) mit verschiedenen Beiträgen auf die Kompetenzorientierung im Deutschunterricht ein.

 

5 Kompetenzorientierung im Lehrplan 21

Die Orientierung an Kompetenzen im Lehrplan 21 scheint nach Oelkers (2014) ähnlich wie bei Terhart (2007) zunächst nichts Neues zu sein. «Lehrpläne haben schon immer Fähigkeiten und Fertigkeiten mit Wissen und Können verknüpft und dabei Bereitschaften und Haltungen zum Lernen abverlangt, ohne auf den Begriff ‹Kompetenz› angewiesen zu sein» (Oelkers 2014, 5). Als Innovation sieht Oelkers jedoch den Gedanken von Weinert, dass Kompetenzen durch Lernen erweiter- und veränderbar sind. Der Lehrplan 21 berücksichtigt diese Veränderbarkeit von Kompetenzen und beschreibt deren Aufbau im Verlauf der Schulstufe in drei Zyklen. Zyklus 1 umfasst die beiden Kindergartenjahre bis zur 1./2. Klasse, Zyklus 2 die Mittelstufe von der 3. bis 6. Klasse und Zyklus 3 die Oberstufe (Sek I) von der 7. bis 9. Klasse. Die Fachinhalte werden in Kompetenzbereiche aufgeteilt. Abbildung 1 gibt einen Einblick in den Prozess des Erwerbs von Fähigkeiten und Fertigkeiten im Bereich Schreiben, und dies im Handlungs- und Themenspektrum von Schreibprodukten. Vorab wird die Kompetenz beschrieben. Diese gibt an, was die Schülerinnen und Schüler im gegebenen Kompetenzbereich und Thema am Ende der obligatorischen Schulzeit wissen und können müssen.

In Form von Kompetenzstufen wird die Kompetenz auf die einzelnen Schulstufen bzw. Zyklen heruntergebrochen, was zeigt, was die Schülerinnen und Schüler auf ihrer Zielstufe bzw. im Zyklus wissen und können müssen. Dieses Herunterbrechen ist nötig, denn nach Klieme (2004, 11) kann nur «von Kompetenzen […] gesprochen werden, wenn man grund­legende Zieldimensionen innerhalb eines Faches benennt, in denen sys­tematisch, über Jahre hinweg Fähigkeiten aufgebaut werden». Im Lehrplan unterscheiden sich die Kompetenzstufen «durch die Zunahme von Fakten-, Konzept- und Prozesswissen oder auch durch die höhere Kom­plexität der Anwendungssituation oder den Grad der Selbstständigkeit» (Lehrplan 21: Überblick → Kompetenzstufen[20]). Der Kompetenzaufbau berücksichtigt die Reihenfolge des Kompetenzerwerbs, wodurch höhere Stufen auf den Grundlagen niedrigerer Stufen aufbauen, da nach Weinert (2014, 24) «die meisten kognitiven Leistungsziele […] durch kumulatives, aufeinander aufbauendes und miteinander verbundenes Lernen erreicht» werden. Um dies sicherzustellen, bietet der Lehrplan Querverweise zu anderen Kompetenzbereichen im gleichen Fach und verweist auf Ansatzpunkte für einen fächerübergreifenden Unterricht, indem Verbindungen zu anderen Fachbereichen aufgezeigt werden.

Pro Zyklus werden Grundansprüche definiert, die spätestens am Ende des jeweiligen Zyklus erreicht werden sollten. Diese Grundansprüche werden infolge individueller Lernfortschritte der Schülerinnen und Schüler zu verschiedenen Zeitpunkten erreicht und sind nicht als Endziel zu verstehen. Sind einmal die Grundansprüche erreicht, sollen Lehrpersonen und Unterrichtsinhalte die Lernenden anregen, ihre Kompetenzen zu erweitern, um die nächste Kompetenzstufe zu erreichen. Falls Schülerinnen und Schüler die Grundansprüche nicht erreichen können, bestehen Möglichkeiten einer Zielanpassung. Grundsätzlich haben jedoch «die Schule als Institution und die Lehrpersonen […] den Auftrag, die Erreichung der Grundansprüche im Unterricht zu ermöglichen» (Lehrplan 21: Überblick → Verbindlichkeiten → Grundansprüche des Zyklus). Die Grund­ansprüche richten sich nach den nationalen Bildungsstandards. «Diese beschreiben, welche Grundkompetenzen die Schülerinnen und Schüler in Schulsprache, Fremdsprachen, Mathematik und Naturwissenschaften bis am Ende des 4., 8. und 11. Schuljahres erwerben sollen» (www.edk.ch → Nationale Bildungsziele; das erste Kindergartenjahr gilt als erstes Schuljahr. Zusätzlich wurden die Zyklen 2 und 3 mit einem Orientierungspunkt versehen; den Lehrpersonen dient dieser als «Planungs- und Organisationhilfe» (Lehrplan 21: Überblick → Verbindlichkeiten → Orientierungspunkte), weil er angibt, welche Kompetenzen die Schülerinnen und Schüler am Ende der 4. bzw. in der Mitte der 8. Klasse verbindlich erworben haben müssen.


Ein gravierendes Problem von Lehrplänen ist nach Oelkers (2014, 9), dass «die reale Entwicklung des Lernstandes, […] nicht den Zyklen des Lehrplans folgt». Es gibt Schülerinnen und Schüler, welche den erwarteten Lernstand übertreffen, andere, die ihn noch nicht erreichen. Forschungsprojekte und Lernstandserhebungen bestätigen dies. Sie zeigen beispielsweise, dass «beim Schuleintritt knapp vier Fünftel der Kinder […] den Mathematik-Lernstoff der ersten Klasse bereits teilweise bewältigen. Ein weiteres Fünftel […] bewegt sich am ersten Schultag bereits im Lernstoff der zweiten Klasse» (Bildungsdirektion Kanton Zürich 2005, 5). Im Fach Deutsch beherrscht beim Schuleintritt bereits ein Drittel der Kinder die Lesekompetenzen der ersten Klasse.

Unterstützung in umgekehrter Richtung bekommen die Aussagen von Oelkers durch die Forschungsresultate von Moser, Buff, Angelone und Hollenweger (2011, 48). Bei einer Lernstandserhebung am Ende der 6. Klasse zeigte sich, «dass knapp ein Fünftel der Schülerinnen und Schüler die Anforderungen des Lehrplans in den geprüften Bereichen nur teilweise erfüllt». Dies hat sich seit der letzten Untersuchung im Jahre 1998 nicht verändert. Weiter vermerken die Autoren eine über die Zeit grösser werdende Leistungsschere auf der Mittelstufe. Im Vergleich zu Schülerinnen und Schülern Ende der 3. Klasse gibt es Ende der 6. Klasse mehr Kinder, welche die Ziele des Lehrplans nicht erreichen können, ganz nach dem als «Matthäus-Effekt» bekannten Prinzip. Weinert bestätigt dies und empfiehlt Egalisierungsbemühungen im Unterricht deshalb nur für den Kompetenzerwerb bis zum Niveau von Grundkompetenzen. So können durch Unterrichtsdifferenzierung, beispielsweise im Tempo, vor allem aber durch unterschiedlich anspruchsvolle Lernaufgaben oder eine Lernaufgabe, die unterschiedlich umfassend und tief bearbeitet werden kann, alle Schülerinnen und Schüler trotz unterschiedlichen Lernfähigkeiten mindestens das grundlegende Kompetenzniveau erreichen; «unter vergleichbaren schulischen Lernbedingungen ist es nicht möglich, die individuellen Lern- und Leistungsunterschiede generell aufzuheben» (ebd., 85).

Mit der Ausrichtung auf Kompetenzen wird der Unterricht zum kompetenzorientierten Unterricht.[21]

6 Kompetenzorientierter Unterricht

6.1 Neue Aufgaben für Unterricht und Lehrperson

Generationen von Pädagogen, Erziehungswissenschaftlern, Lehrerinnen und Lehrern haben sich im Sinne von Roth (1971) auf Kompetenzen bezogen, und weiterhin ist auch im Alltags-, Berufs- und Geschäftsleben oft von Selbst-, Sach- und Sozialkompetenz die Rede. Eine Schwäche von Roths Konzepts ist, dass es in Bezug auf die Unterrichtsfächer und -inhalte keine genauen Aussagen macht (Müller, Gartmeier u. Prenzel 2013, 140). Im Gegensatz dazu werden in PISA «zentrale und grundlegende Konzepte […] aus dem jeweiligen Fachkontext getestet, die für ein Verständnis der Welt aus der Perspektive des Faches zentral sind» (Prenzel et al., 2003). Dasselbe Verständnis liegt – wie oben dargestellt – den Bildungsstandards und dem Lehrplan 21 zugrunde, ebenso dem sich daraus ableitenden kompetenzorientierten Unterricht. Der zentrale Punkt ist, «dass in der Schule erworbenes Wissen in unterschiedlichen Situationen flexibel anwendbar und anschlussfähig für nachfolgendes Lernen sein soll» (Müller, Gartmeier u. Prenzel 2013, 128). Indem zudem «weniger Inhalte abgehandelt werden und diese von den Schülerinnen und Schülern aktiver, lebensweltbezogener und kooperativer erarbeitet» werden, «wird die im Unterricht realisierte Verarbeitungstiefe eher erhöht als gesenkt» (ebd.). Dies hat Konsequenzen für die Lehrpersonen.

«Diese sind nunmehr gefordert, ihren Unterricht kompetenzorientiert zu gestalten. Damit rückt das blosse Faktenwissen in den Hintergrund und das konzeptuelle Verständnis sowie das kumulative Lernen in den Vordergrund. Bedeutung gewinnen nicht nur Lern- und Problemlösestrategien; ins Blickfeld rücken etwa auch motivationale Orientierungen, die Fähigkeit zur Selbstregulation sowie fächerübergreifende Fähigkeiten.» (Ebd.)

Übergreifend gesehen, findet gemäss Reusser (2014a, 325) «seit geraumer Zeit eine schulform- und stufenübergreifende Akzentverschiebung curricularer Vorgaben» statt, nicht jedoch ein radikaler Paradigmenwechsel. Der Lehrplan 21 ist als «Fortschreibung einer seit Langem im Gang befindlichen Entwicklung» zu sehen, «wonach es in der schulischen Allgemeinbildung um eine tief verstandene, fachliche und überfachliche, auf mehrdimensionale Outcome-Variablen gerichtete Fähigkeits- und Wissensbildung geht». Es liegt «keine Abkehr von einer fachlichen Wissensbildung und schon gar nicht von der Leitidee des verständnisorientierten und problemlösenden Lernens vor» (ebd., 326). Kompetenz als Orientierungspunkt für den Unterricht (die Output-Orientierung) schlägt vielmehr «eine Brücke vom Wissen zum Handeln» (Prenzel et al. 2007, zit. in: Müller, Gartmeier u. Prenzel 2013, 132). Allerdings bleiben die als Folge von PISA eingeführten Bildungsstandards wirkungslos, wenn sie «nicht bis zum Unterricht durchdringen und […] nicht die Lehrpersonen und letztendlich die Schülerinnen und Schüler als eigenständige Lernende erreichen» (Oelkers u. Reusser 2008, 324). Im kompetenzorientierten Unterricht stehen deshalb (a) die Fähigkeiten, welche die Schülerinnen und Schüler erwerben sollen, im Zentrum und dass (b) im Unterricht Gelegenheiten geschaffen werden, damit die Lernenden diese Fähigkeiten entwickeln können. Das Ziel des Unterrichts sind Kompetenzen – nicht mehr allein Wissensziele wie nach den bisherigen Lehrplänen – «zur bewussten Bewältigung bestimmter Anforderungen in Form von Denkoperationen oder Handlungen; ([diese sind] immer bereichsspezifisch: bei bestimmten Dingen kennt man sich aus und weiss, was man tut, oder kann begründen, warum man es so und nicht anders macht)» (Lersch u. Schreder 2013, 37).

Nach dem Lehrplan 21 ist «eine Schülerin oder ein Schüler beispielsweise in einem Fachbereich kompetent, wenn er/sie

•auf vorhandenes Wissen zurückgreift bzw. das notwendige Wissen beschafft,

•zentrale fachliche Begriffe und Zusammenhänge versteht, sprachlich zum Ausdruck bringen und in Aufgabenstellungen nutzen kann,

•über fachbedeutsame (wahrnehmungs-, verständnis- oder urteilsbezogene, gestalterische, ästhetische, technische …) Fähigkeiten und Fertigkeiten zum Lösen von Problemen und zur Bewältigung von Aufgaben verfügt,

•sein oder ihr sachbezogenes Tun zielorientiert plant, in der Durchführung angemessene Handlungsentscheidungen trifft und Ausdauer zeigt,

•Lerngelegenheiten aktiv und selbstmotiviert nutzt und dabei Lernstrategien einsetzt,

•fähig ist, ihre bzw. seine Kompetenzen auch in Zusammenarbeit mit anderen einzusetzen». (Lehrplan 21: Grundlagen → überfachliche Kompetenzen)

6.2 Merkmale des kompetenzorientierten Unterrichts

Die folgenden Merkmale kennzeichnen nach Müller, Gartmeier u. Prenzel (2013, 133–134) den kompetenzorientierten Unterricht:

1. Bezüge zwischen Lerninhalten und realen Problemsituationen: Wissen ist weder Selbstzweck noch bloss eine Bedingung für das Bestehen der nächsten Prüfung in der Schule. Vielmehr ist es nützlich für das Lösen vielfältiger, komplexer, alltagsnaher Probleme. «Deshalb stellt kompetenzorientierter Unterricht (in Form von Aufgaben) Probleme in den Mittelpunkt des Lernens und kreiert so wirklichkeitsnahe Lernanlässe» (ebd.).

 

2. Aktive Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand (kognitive Aktivierung): Für das Lernen zentral sind die kognitiven Aktivitäten der Lernenden, da die eigene aktive mentale Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand die Voraussetzung ist, dass Lernen stattfindet. Der kompetenzorientierte Unterricht erfüllt die nötigen Bedingungen dafür, indem Schülerinnen und Schüler beispielsweise dazu veranlasst werden, Fragen zu formulieren, verschiedene Lösungswege auszuprobieren, die Ergebnisse der Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand zu dokumentieren und zu interpretieren. «Das Konzept hebt sich somit ab von Unterrichtsmodellen, bei denen das von Schülerinnen und Schülern geforderte Verhaltensrepertoire aufmerksames Zuhören, gelegentliches Beantworten von an die Klasse gerichteten Fragen oder minutiöses Übertragen eines Tafelbildes ins Schulheft umfasst» (ebd., 133), wie es im traditionellen Klassenunterricht der Fall ist.

3. Soziale (kooperative) Lernaktivitäten: Indem ein Austausch über fachliche Inhalte stattfindet, eröffnet sich den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit, ihre Vorstellungen und mentalen Modelle zu verbalisieren und zu vergleichen, diskursiv zu bearbeiten und auf diese Weise zu differenzieren und weiterzuentwickeln (ebd.).

4. Adaptivität für die Heterogenität der Lernenden: Die Schülerinnen und Schüler haben die Möglichkeit, sich auf unterschiedlichen Anspruchsniveaus (Kompetenzstufen) und somit auf eine Art und Weise mit dem Lerngegenstand auseinanderzusetzen, die ihren individuellen kognitiven (Wissens- und Könnens-)Voraussetzungen entspricht. Kompetenzorientierter Unterricht enthält deshalb «Aufgaben, die von Schülerinnen und Schülern mit unterschiedlichen Voraussetzungen bearbeitet werden können» (ebd.).

Die Kompetenzorientierung bedeutet die Abkehr von einem durch die mit dem Lehrplan vorgegebenen Themen und Inhalte gesteuerten Unterricht, das heisst von der Input-Steuerung (aufgrund detaillierter Vorgaben für die Unterrichtsfächer) zugunsten der Output-Steuerung durch Beurteilung, ob der Unterricht den Erwerb der erwünschten Kompetenzen möglich gemacht hat. Gefragt wird nicht mehr nur, was im Unterricht behandelt wird, sondern was dieser bei den Lernenden bewirkt und erreicht, den Erwerb welcher Kompetenzen er wie gut ermöglicht (hat). Zudem zielt der kompetenzorientierte Unterricht darauf ab, die «Schülerinnen und Schüler anzuregen, das eigene Interesse an einem Lerngegenstand zu entdecken, eigene Lösungswege für Problemstellungen zu finden und so auch mehr Verantwortung für das eigene Lernen zu übernehmen» (ebd.). Basierend auf den sogenannten Angebots-Nutzungs-Modellen (Fend 1981; Reusser u. Pauli 2010, 18; Helmke 2012, 71), werden im kompetenzorientierten Unterricht des Weiteren die Eigenständigkeit und die Selbstreflexivität beim Lernen gefördert. Dafür wird den Lernenden ermöglicht, durch bewusstes Nachdenken über das eigene und das kooperative Lernen metakognitives Wissen für die eigenständige Steuerung ihres Lernens und soziale Kompetenzen zur problemlösenden Zusammenarbeit in der Gruppe aufzubauen.

6.3 Bedeutung von Vorkenntnissen und weiterem Wissenserwerb

Wissen und weiterer Wissenserwerb sind für den Erwerb von Kompetenzen von grundlegender Bedeutung: «Fachwissen und Kompetenz, Wissen und Können bilden […] keine Gegensätze. Kompetenzen beziehen sich nicht, wie absurde Zerrbilder des Begriffs der Kompetenzorientierung dies glauben machen möchten, auf inhaltsfreie kognitive Dispositionen, sondern auf wissensbasierte Fähigkeiten in fachkulturellen und lebensweltlichen Domänen. Der Kern jeden fachlichen Kompetenzaufbaus ist eine anspruchsvolle Kultur- und Wissensbildung» (Reusser 2014a, 327). Der kompetenzorientierte Unterricht ermöglicht den Lernenden deshalb,

•sich intelligentes, weil in der kognitiven Struktur gut verankertes und vernetztes Wissen anzueignen;

•dieses Wissen mit Können zu verbinden, indem Aufgaben oder Probleme gelöst werden, in denen dieses Wissen Verwendung findet;

•dieses Wissen zu sichern und zu verbessern, indem auf seiner Basis variable Anforderungen auch mit steigendem Schwierigkeitsgrad zu bewältigen gelernt werden;

•jeden Wissenszuwachs auch an Fortschritte im Können zu koppeln, indem erfahren werden kann, auf der Basis neu gelernten Wissens etwas zu können, was vorher noch nicht gekonnt wurde. (Lersch u. Schreder 2013, 42)

Wiederholt konnte empirisch gezeigt werden (z.B. Schneider, Grabner u. Paetsch 2009), dass das domänenspezifische Vorwissen nicht nur am besten den Erfolg beim Lösen von Problemen voraussagt, sondern dass Analoges auch für den Erwerb von neuem Wissen gilt: Je mehr domänenspezifisches Wissen bereits vorhanden ist, desto einfacher gestalten sich Problemlösung und neuer Wissenserwerb (Matthäus-Effekt). Was eine Person leisten kann – so eine weitere Erkenntnis der neueren kognitionspsychologischen Forschung (u.a. der Expertiseforschung) –, hängt sehr viel stärker von ihrem reichhaltigen und gut organisierten Wissen ab als von ihrer Intelligenz. Entgegen einer weitverbreiteten Auffassung kompensiert höhere Intelligenz bei anspruchsvollen Aufgaben und Problemstellungen fehlendes (Fach-)Wissen nicht (z.B. Weinert 1994, 183–205; Stern 2001). Nur bei sehr einfachen Aufgaben vermag hohe Intelligenz nicht vorhandenes (Vor-)Wissen auszugleichen.

6.4 Kognitive Aktivierung als Voraussetzung für Lernen

Nach der neueren Unterrichtsforschung sind die Dimensionen «Instruktionseffizienz», «Schülerorientierung», «Klarheit und Strukturiertheit» und «kognitive Aktivierung» lernwirksame Merkmale guten Unterrichts (z.B. Helmke 2012; Klieme 2012). Kleinknecht (2010) fasste die empirisch begründbaren Merkmale von gutem Unterricht mit den Dimensionen «Klassenführung/Strukturierung», «Schülerorientierung/Unterstützung» und «kognitive Aktivierung» zusammen. Guter Unterricht liegt für die «kognitive Aktivierung» dann vor, wenn die Lernenden in (eigen-)aktiver Weise vertieft Denkprozesse vollziehen, d.h. sich ihren intellektuellen und wissensmässigen Voraussetzungen entsprechend (also adaptiv) kognitiv anspruchsvoll (in Beziehung setzend) mit dem Lerngegenstand auseinandersetzen. Mit problemhaltigen Aufträgen, herausfordernden Fragen, anspruchsvollen Unterrichtsgesprächen usw., allgemein mit Lernaufgaben, veranlasst die Lehrperson die für den Lernprozess notwendige kognitive (Eigen-)Aktivität für den Aufbau von neuen Wissens- bzw. Handlungsstrukturen. Mit dem durch die Bearbeitung von Lernaufgaben in die Wege geleiteten strukturellen Lernen erweitern und differenzieren die Lernenden ihr Wissen und Können. Dabei macht die Lehrperson die Lernziele, also die angestrebte(n) Kompetenz(en), deutlich, gibt Aus- und Rückblicke, fasst die aufgebauten kognitiven Strukturen zusammen, unterstützt und begleitet mit eigenen Beiträgen die eigenständige und/oder gemeinsame (kooperative) kognitive Auseinandersetzung.

Die TIMSS Video Studies von 1995 und 1999, bei denen der Mathematikunterricht in Japan, in Deutschland und in den USA bereits vor PISA miteinander verglichen wurde (z.B. Pauli u. Reusser 2006), weist darauf hin, dass die problem- und verständnisorientierte Ausrichtung des japanischen Unterrichts ausgeprägt mit dem heutigen konstruktivistischen, kompetenzorientierten Lehr- und Lernverständnis übereinstimmt. Kognitiv herausfordernde Problemstellungen, durch welche anspruchsvolle Denk- und Problemlöseprozesse in Gang kommen, spielen in ihm eine zentrale Rolle. Dem am wenigsten entspricht der amerikanische Unterricht mit seinem behavioristisch geprägten Einüben von Prozeduren, die von der Lehrperson vorgegeben werden, während das von Wuttke (2009) zu Recht monierte kleinschrittige lehrergeleitete Entwickeln des Stoffes (traditioneller Klassenunterricht), «das Kleinarbeiten von Aufgaben in einem eng geführten, fragend-entwickelnden Lehrgespräch» (Pauli u. Reusser 2006, 779) das Kennzeichen des deutschen gymnasialen Unterrichts ist (Seidel 2003, 2011) – aber auch des Unterrichts, der auf der Primarschulstufe in Deutschland, Österreich und der Schweiz verbreitet vorgefunden wurde (Mackowiak et al. 2013; Kocher u. Baer 2013, Wyss u. Baer 2013; Baer et al. 2009, 2011, 2014, 2015). Kennzeichen dieses Unterrichts sind viele enge Lehrerfragen, die von einzelnen Schülerinnen und Schülern stichwortartig beantwortet werden, sowie eine Lehrperson, die im (zu) häufig vorkommenden fragend-entwickelnden Klassenunterricht vieles einfach erklärt, anstatt die Schülerinnen und Schüler zum Nachdenken und Argumentieren anzuregen.