Kommunikationsdynamiken zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit

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Z serii: ScriptOralia #145
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3 Situationsentwürfe, Kommunikationsbedingungen, Versprachlichungsstrategien und Kommunikate – eine Präzisierung des Nähe-Distanz-Kontinuums

Wir haben zwei problematische Aspekte des Nähe-Distanz-Kontinuums benannt, die das Arbeiten mit dem Modell behindern. Dies sind die mangelnde Berücksichtigung der medialen Variabilität der Kommunikation und die sehr offene, zu Missverständnissen geradezu einladende Auswahl und Relationierung der Parameter, die die Variabilität der kommunikativen Bedingungen zu beschreiben suchen (siehe Koch/Oesterreicher 2016: 12). Es sind, wie bereits angesprochen, Aspekte, die zur Ablehnung des Modells geführt haben oder Weiterentwicklungen angeregt haben, die, recht betrachtet, Gegenentwürfe sind. Im Folgenden werden wir die Kritik als Ausgangspunkt für den Versuch einer Präzisierung des Modells nutzen. Wir berücksichtigen dabei beide Kritikpunkte, den Hinweis auf das Fehlen des Mediums und die Kritik an der mangelnden Strukturierung der mehrdimensionalen situativen Variation. Beginnen müssen wir mit dem umfassenderen Aspekt, nämlich mit der Beobachtung, dass Peter Koch und Wulf Oesterreicher bei der Dimensionierung der situativen Variation einen wesentlichen Schritt übersprungen haben, der, sobald er ins Modell eingebaut ist, die Kritik an der Parameterauswahl und -zusammenstellung entscheidend nuanciert.

Das Nähe-Distanz-Kontinuum ist bekanntlich aus der Fusion zweier Forschungsansätze entstanden. Der erste Ansatz ist Ludwig Sölls Unterscheidung zwischen dem medialen und dem konzeptionellen Aspekt der Gegenüberstellung von geschriebenem und gesprochenem Französisch (siehe Söll 1985; siehe Koch/Oesterreicher 1985: 17f.). Es ist zu betonen, dass Söll in der Tradition einer ausschließlich auf sprachliche Merkmale konzentrierten varietätenlinguistischen Forschung steht und dass er seine Unterscheidung von code écrit und code parlé unmittelbar aus medialen Kommunikationsbedingungen, etwa aus der physischen Nähe vs. Distanz, herleitet (siehe dazu Selig 2018: 259). Die Söll’sche Unterscheidung steht in diesem Punkt also dem Modell von Ágel und Hennig (siehe Ágel/Hennig 2006) näher als dem Nähe-Distanz-Kontinuum. Der zweite Traditionsstrang, der in das Nähe-Distanz-Kontinuum eingeht, kommt aus der historischen Soziolinguistik. Er ist, anders als der Ansatz von Söll, texttypologisch basiert. Es handelt sich um die Modellierung sprachlicher Kommunikation, die Hugo Steger und seine Mitarbeiter*innen im Anschluss an die Analyse eines Korpus von Texten der gesprochenen deutschen Gegenwartssprache vorgeschlagen haben. Sie formulieren ein Modell, das explizit Textlinguistik und Soziolinguistik miteinander verknüpft, indem es situative Merkmale zu „Redekonstellationen“ gruppiert, die die sprachliche Gestalt des jeweiligen „Textexemplars“ nicht direkt, sondern vermittelt über die Ebenen des „Redekonstellationstyps“ und der „Textsorte“ bestimmen (Steger et al. 1972; siehe Koch/Oesterreicher 1985: 19–21). Unseres Erachtens liegt nun gerade in der Kombination des Söll’schen Ansatzes, der ohne Verweis auf Text bzw. Textsorten auskommt, und dem textsortenzentrierten Ansatz von Steger einer der größten Vorteile des Nähe-Distanz-Kontinuums.1 Denn mit dem expliziten Verweis auf die textsortenbezogene Strukturierung der Variation bereits auf der Ebene der Situationsbedingungen bietet sich die Möglichkeit, die Abhängigkeit der Versprachlichungsstrategien von den Kommunikationsbedingungen nicht als eine lineare, von den einzelnen Bedingungen direkt zu den einzelnen sprachlichen Konsequenzen weitergereichte Determinierung zu konzeptualisieren. Stattdessen wird die zentrale Rolle der Textsorten/Gattungen/Diskurstraditionen hervorgehoben, die bereits vor den einzelnen Kommunikationsakten aus ihren je zu verhandelnden Zielsetzungen heraus Parameterwerte zu Konfigurationen bündeln, die konventionalisiert sind und Sprecher*in und Hörer*in einen holistischen Zugriff auf die Kommunikationssituation erlauben.

Kommunikation erscheint im Rahmen derartiger Überlegungen als ein Handeln, das sozial verfestigte Ensembles von Zielsetzungen, Bedingungen und Kommunikationsstrategien nutzen kann, um spezifische Kommunikationssituationen mit den ihnen eigenen Relevanzsetzungen zu generieren. Selbstverständlich nur im Sinn eines Entwurfs, der mit den aktuellen situativen Parameterwerten abgeglichen werden muss, und der durch den Fortgang der Kommunikation jederzeit revidiert werden kann; ebenso unterscheiden sich die einzelnen Muster hinsichtlich ihres Spezifitätsgrads und hinsichtlich ihrer zeitlichen Projektionsfähigkeit. Der Verlauf und die Gestaltung eines persönlichen Gesprächs werden nicht durch ein durchgehendes Ablaufmuster bestimmt, sondern durch die Dynamik der Gesprächssituation. Das Bewerbungsgespräch, die universitäre Vorlesung oder die Gerichtsverhandlung sind dagegen durchaus als vollständige Skripte abgespeichert und gewähren entsprechend weniger gestalterischen Freiraum. Um der Dynamik der Verschränkung von Situationsmuster und situativen Gegebenheiten ebenso wie der zeitlichen Offenheit der Determinierung Rechnung zu tragen, sprechen wir deshalb vom „Situationsentwurf“, der die Gesamtheit der funktionalen, sozialen, kognitiven, situativen, medialen und prozessualen Bedingungen integriert und erst durch die Interaktion aller Parameter im Rahmen einer vollständig, also auch hinsichtlich der kommunikativen Funktion bestimmten Situation über die konzeptionelle Ausrichtung entscheidet (siehe Tophinke 2016: 306). Jede analytische Zergliederung dieses Gesamtzusammenhangs in seine einzelnen Dimensionen muss den Schritt zur übergeordneten Ganzheit immer mitbedenken und für die Argumentation offenhalten.2

Peter Koch und Wulf Oesterreicher haben immer wieder betont, dass nicht der einzelne Parameter, sondern erst das Gesamt aller Parameter die Konzeption bestimmen kann (siehe vor allem Oesterreicher/Koch 2016: 24–25; siehe auch Selig 2017). Das Nähe-Distanz-Kontinuum kennt also die zentrale Rolle, die der Textsorte/Gattung/Diskurstradition im kommunikativen Handeln zukommt. Im Modell selbst gibt es aber nur noch die unkommentierte Liste der Parameter, und die Reihung der Diskurstraditionen entlang des konzeptionellen Kontinuums illustriert die konzeptionelle – und medienunabhängige – Variation, wird aber nicht dazu genutzt, noch einmal die Funktion der Diskurstraditionen zu spezifizieren. Die entscheidende Rolle, die sie der Bündelung der Kommunikationsbedingungen in den Diskurstraditionen zuweisen, kommt auch in dem Theorieelement zum Ausdruck, das wegen seiner Sperrigkeit so gar nicht überzeugen kann: in der Visualisierung des konzeptionellen Profils einer Diskurstradition durch die ‚Blitze‘, die die Parameterwerte miteinander verbinden (siehe etwa Oesterreicher/Koch 2016: 30). Die Autoren waren immer überraschend gleichgültig gegenüber der offensichtlichen Diskrepanz zwischen dem Aufdecken der Heterogenität der Parameter im analytischen Zugriff und dem homogenisierenden – synthetisierenden! (siehe Oesterreicher/Koch 2016: 25) – Einordnen auf der eindimensionalen Nähe-Distanz-Skala. Sobald man sich klarmacht, dass es für diesen abschließenden Schritt auf den gesamthaften Situationsentwurf ankommt, nicht auf die einzelnen Parameter, wird diese Gleichgültigkeit leichter verständlich.

Die nicht selten arbiträr erscheinende Bündelung von Kommunikationsbedingungen in den Diskurstraditionen erklärt auch, weshalb das Modell darauf verzichtet, eine interne Relationierung der Parameter vorzunehmen: Die Parameter und Parameterwerte müssen offen für äußerst variable Zusammenstellungen und ganz unterschiedliche Relevanzsetzungen sein. In dieser Hinsicht ist die Formulierung im Modell und die theoretische Herleitung also durchaus konsistent. Auch die Vollständigkeit der Parameter stellt sich vor dem Hintergrund einer diskurstraditionellen Argumentation als weniger dramatisch dar: Es ist klar, dass die Parameter nur eine Auswahl aus den Gegebenheiten darstellen, die für die Definition einer Diskurstradition notwendig sind. Ausgewählt wurden Parameter, die Koch und Oesterreicher als unmittelbar relevant für die „Formulierungsaufgabe“ (Koch/Oesterreicher 2011: 6), also die sprachliche Form der Kommunikate einstufen. Beispielsweise gibt es keinen Versuch, die thematische Prägung der Textsorten, etwa die Zuordnung zu bestimmten gesellschaftlichen Handlungsbereichen oder die rhetorische Funktionalität, die argumentative, narrative, appellative, persuasive Ausrichtung, in das Modell zu integrieren. Vollständig ist das Modell dagegen in der Hinsicht, dass es sozial-emotive Parameter integriert. Die kognitiven Dimensionen der Kommunikation und die sozialen werden bewusst zusammen modelliert. Denn Kommunikation kann nicht a-sozial konzipiert werden. Die Verschiebung der sozialen Relationen zwischen den Interaktant*innen durch die Adressierung eines „generalisierten Anderen“ (Maas 2016: 98) kann eine Konsequenz sozialer Fremdheit sein, sie kann aber auch das ‚Aussetzen‘ der interpersonalen Dimension in sachbezogener Kommunikation signalisieren. Umgekehrt können die sprachlichen Strategien der Distanz soziale Fremdheit erzeugen, ebenso wie die mit den distanzsprachlichen Situationen assoziierten einzelsprachlichen Varietäten. Die basalen sozialen Relationen sind immer gegeben, und nur durch ihre Integration kann ein vollständiges, nicht reduktives Modell der Kommunikation gesichert werden. Jede Auslagerung der sozial-emotiven Aspekte aus dem Nähe-Distanz-Kontinuum ist eine Verkürzung und damit Verfälschung des Modells.

Wir schlagen also vor, die relativ lose Aufschlüsselung der Parameter der situativen Variation zu belassen. Wir plädieren aber dafür, den Aspekt der Verschränkung von Kommunikationsbedingungen und Versprachlichungsstrategien im kommunikativen Prozess zu fokussieren und, anders als das Nähe-Distanz-Kontinuum von Koch und Oesterreicher, die Modellierung zu einer „prozessrealistischeren Modellierung der Sprech- und Verstehensvorgänge“ (Knobloch 2016: 79) zu vereindeutigen. Deshalb stellen wir der Ebene der Kommunikationsbedingungen eine Ebene voran, die die zentrale Rolle der Textsorte/Gattung/Diskurstradition für die Kommunikation herausstellt und die Unter- bzw. Einordnung der einzelnen situativen Parameter in die übergeordnete Situationsdefinition klar zum Ausdruck bringt (Abb. 1). Der Vorschlag, das Kontinuum der Kommunikationsbedingungen als Auffächerung eines Situationsentwurfs zu verstehen und den holistisch zu verstehenden Gesamtentwurf einem ausschließlich an einzelnen Parametern orientierten Zugriff vorzuordnen, präzisiert, so meinen wir, die Gedanken von Peter Koch und Wulf Oesterreicher und denkt das Modell in eine Richtung weiter, die es bereits eingeschlagen hat. Weiterhin schlagen wir vor, die Ebene des Situationsentwurfs auch dazu zu nutzen, die Variabilität der Zielsetzungen kommunikativen Handelns in ihrer Relevanz für die konzeptionelle Variation zu erfassen. Bei der Benennung der unseres Erachtens relevanten Parameter greifen wir auf Begriffspaare zurück, die bereits vorgeschlagen wurden und die unseres Erachtens die Variation der Funktionen der kommunikativen Akte sichtbar machen können.3 Es ist nicht sicher, ob der Vorschlag, funktional-inhaltliche Momente in das Nähe-Distanz-Kontinuum einzubeziehen, geteilt worden wäre. Die Schwierigkeiten, die sich dem Nähe-Distanz-Kontinuum entgegenstellen, sobald es auf literarische Texte angewendet wird, zeigen aber, dass Faktoren wie Fiktionalität bzw. Literarizität und die durch sie sanktionierten Vervielfachungen der Sprecher*inneninstanzen und imaginierten kommunikativen Konstellationen einen unmittelbaren Einfluss auf die Gestaltungsmöglichkeiten haben. Für das Voranstellen einer auf die Funktionalität der Kommunikate ausgerichteten Ebene spricht außerdem, dass auch beim Schreiben für eine mündlich-auditive Rezeption bzw. beim schriftlichen Protokollieren einer mündlichen Interaktion eine Art Verdoppelung der situativen Bedingungen durch die Imagination neuer, anderer Bedingungen gegeben ist, diese Verdoppelung sich aber allein aus der aktuellen kommunikativen Zielsetzung ableiten lässt.

 

4 Situation und mediale Dispositive

Die vereindeutigende Modellierung der Interaktion der kommunikativen Parameter in der Kommunikationssituation erlaubt uns noch eine zweite Erweiterung des Nähe-Distanz-Kontinuums, nämlich die Integration der medialen Variation. Wir schlagen vor, das Konzept der „medialen Dispositive“ als Ensemble mehrerer medialer Variationsparameter zusätzlich zu den von Koch und Oesterreicher bereits ausgewählten situativen Parametern anzusetzen, und zwar an der Stelle, in der in der ursprünglichen Fassung der – kryptomediale – Parameter der physischen Nähe vs. Distanz steht. Mit der Integration der medialen Dispositive in das Kontinuum tragen wir der Tatsache Rechnung, dass einige Aspekte, vor allem prozessuale, unhintergehbar von den vorhandenen medialen Möglichkeiten und Notwendigkeiten geprägt sind. Die Integration der Medialität in unser Modell erfolgt allerdings unter der Prämisse, dass den medialen Parametern ein eigener Status zugewiesen wird: Die Dispositive bestimmen einen medialen Ermöglichungsraum; dessen jeweilige Auslastung wird aber von der Situationsdefinition und der konzeptionellen Variation geregelt, nicht umgekehrt. Wenn wir beispielsweise den Parameter der Dialogizität vs. Monologizität nehmen, so muss klar sein, dass es nicht die physische Kopräsenz als solche ist, die Dialogizität auslöst. Die Möglichkeit der dialogischen Interaktion kann, wenn es konzeptionelle Faktoren fordern, durch explizit gegenläufige Regulierungen des Sprecher*innenwechsels ausgesetzt werden. Auch in face-to-face-Situationen ist Monologizität möglich. Die Integration der Medialität ist also nur unter der Bedingung möglich, dass die konzeptionelle Ausrichtung nicht aus einzelnen, isolierten Variationsparametern abgeleitet werden kann, sobald klar ist, dass die Parameter nur innerhalb eines gesamthaften ‚Entwurfs‘, ‚Duktus‘ oder ‚Kommunikationsmodus‘ wirksam werden können. Medialität kann unter dieser Voraussetzung im Modell berücksichtigt werden, denn es besteht nicht mehr die Gefahr, sie zu einem isoliert wirkenden oder gar alles entscheidenden variationsdeterminierenden Faktor umdeuten zu können. Die Voranstellung des Situationsentwurfs und das Insistieren darauf, dass niemals ein einzelner Parameter, sondern erst das Zusammenspiel aller Faktoren die konzeptionelle Variation bestimmen, verhindern die Reduktion der kommunikativen Variation auf das Mediale und machen deutlich, dass es immer um einen bereits konzeptionell definierten Mediengebrauch geht. Es ist immer wieder gesagt worden, dass Medialität alleine nicht die konzeptionelle Profilbildung oder die mit dieser verbundenen sprachlich-textuellen Entwicklungen bestimmen kann (siehe z.B. Tophinke 2016: 305). Wir gehen davon aus, dass unser Vorschlag nach dem Einfügen der Ebene des Situationsentwurfs genau diesen Gedanken exemplifizieren und klarer herleiten kann.

Die Erweiterung um die Medialität entspricht nun zweifellos nicht den Vorstellungen von Peter Koch und Wulf Oesterreicher. Alle, die sie persönlich kannten, wissen, dass an dieser Stelle kein Weiterdiskutieren möglich war. Anschlussmöglichkeiten sind dennoch vorhanden. Zum einen ist da die Kryptomedialität des Modells, von der weiter oben bereits die Rede war und die durch das explizite Einbeziehen der Medialität als Bezugsbereich der Variation der Kommunikationsbedingungen transparenter gehandhabt werden kann. Außerdem haben Peter Koch und Wulf Oesterreicher in der ersten Fassung des Nähe-Distanz-Kontinuums der Medialität durchaus noch einen Platz gegeben (siehe Koch/Oesterreicher 1985: 23). In dieser frühen Fassung war der Bereich der extremen Nähesprache für die graphische Medialität gesperrt, ebenso der der extremen Distanzsprache für die phonische.1 Später wurde der Gedanke, die extremen Ausprägungen der konzeptionellen Variation seien an bestimmte mediale Bedingungen gebunden, allerdings wieder aufgegeben. Wir meinen aber, dass die Beobachtung, die Konzeption interagiere mit der Medialität, richtig ist und schlagen deshalb die Integration der Medialität in die situative Variation vor.

Aus den genannten Präzisierungen und Erweiterungen resultiert folgendes Nähe-Distanz-Modell (Abb. 1):

Abb. 1:

Ein erweitertes Modell der Nähe-Distanz-Kommunikation

5 Konzeption und die Grenzen der Linguistik

Wie verhält es sich nun mit der Ausgangsfrage, ob die kommunikative Variation kontinual modelliert werden sollte, als eine Landschaft der sanften Übergänge, oder doch eher so, dass an manchen Stellen Abgründe oder Gräben sichtbar werden? Die Tatsache, dass wir die mediale Variation in das Nähe-Distanz-Kontinuum integriert haben, spricht dafür, dass wir die Auffassung teilen, dass es entscheidende Brüche in der kommunikativen Landschaft geben kann. Wir teilen aber nicht die Auffassung, dass die von den Gräben abgegrenzten Räume isoliert voneinander betrachtet werden sollten. Dies gilt auch für die beiden Plateaus, die durch die räumliche und zeitliche Ko-Präsenz der Interaktant*innen bzw. durch deren Fehlen voneinander getrennt sind. Nicht so sehr deshalb, weil beide intern wieder in Räume gegliedert sind, die konzeptionell variieren und deshalb jeder Gedanke an eine kommunikative Homogenität auszuschließen ist. Die Gesprochene-Sprache-Forschung vergisst dies manchmal, weil sie sich (fast) ausschließlich auf den Bereich der phonischen Nähekommunikation konzentriert. Aber auch dann, wenn mediale und konzeptionelle Faktoren zusammengenommen werden, ergeben sich keine Räume, deren fundamentale Andersartigkeit kommunikative und sprachliche Regeln schafft, die nur für diese, nicht aber für die anderen, gültig wären. Denn es gibt Brücken zwischen den Räumen, die die Kontinuität über die medialen und konzeptionellen Differenzen hinweg sicherstellen.

Vielleicht sollten wir dennoch zuerst von den Gräben und den Abgründen sprechen. Denn es könnte der Eindruck entstehen, die Metapher der Brücken sei nichts anderes als der Versuch, die Unterschiede zwischen den Räumen herabzuspielen und die Vorstellung einer kommunikativen Landschaft zu privilegieren, die nur sanfte Übergänge und allseitige freie Zugangsmöglichkeiten kennt. Deshalb hier noch einmal mit aller Klarheit: Mediale Differenzen schaffen unabhängig von ihrer jeweiligen konzeptionellen Überformung Unterschiede im Formulieren, im Grad der Sprachlichkeit der Kommunikation und in der Zahl und Art der möglichen semiotischen Dimensionen, die keine konzeptionelle Variation aufheben oder ausgleichen kann. In der physisch geteilten Sprechsituation ist die sprachliche Kommunikation eingebettet in die Semiotik, genauer in die Indexikalität der Stimme und in die Kommunikation über körperliche Gesten. Die Nähekommunikation kann daher, wenn sie phonisch ist, sprachlich Inhalte übermitteln, aber nicht ohne die Interpretationsanweisungen der übrigen Modi, und da die übrigen Modi schwerer zu kontrollieren sind als unsere sprachlichen Äußerungen, sind sie aus der Perspektive der Rezipient*innen womöglich die wichtigeren. Auch die Distanzkommunikation kann den multimedialen Raum und die Präsenz der Körper nicht zurücklassen. Kontrollmechanismen sind notwendig, um die mimischen und gestischen Indizien in Situationen der sozialen Distanz zu verringern. Auch ein gemeinsam akzeptiertes Neutralitätsgebot ist denkbar, das in sachbezogener Kommunikation dafür sorgt, dass die Körperlichkeit der Kommunikationspartner*innen keine Rolle spielen sollte. Aber ist dies in letzter Konsequenz wirklich denkbar?

Mit der Schrift wiederum geht die face-to-face-Situation und mit ihr gehen die medialen Dispositive der Phonie verloren, unabhängig von der Konzeption. Es gehen also alle kommunikativen Modi außer der Sprache und aus der Lautsprache der Laut, also die Prosodie annähernd unweigerlich verloren. Wir könnten dies als die Entkörperlichung (das dis-embodiment) der Sprache bezeichnen. Lautsprache ist unausweichlich an die Körperlichkeit ihrer Produzent*innen gebunden, sie bringt in der Klangqualität der Stimme die Individualität des Körpers, in der Prosodie die Stimmung der Produzent*innen zum Ausdruck, welche sich parallel in deren Gesten manifestiert. Die Domäne der Körperlichkeit und damit auch die Authentifizierbarkeit des Kommunikats über die parallelen Modi sind in schriftlosen Kulturen auch in rituellem Sprechen gegeben. Erst die Schrift schaltet sie ab. Die Sprache sucht sich nach ihrer Entkörperlichung neue Körper – die Stele, die Tafel, den Körper des Buchs. Sie findet in den visuellen Dimensionen des graphischen Plateaus neue analoge Ausdrucksmöglichkeiten. Aber es sind nicht mehr die Körper der Kommunizierenden, die die sprachlichen Kommunikate stützen und interpretieren, und die neuen graphischen (und bildlichen) Umgebungen der sprachlichen Kommunikate auf dem graphischen Plateau sind weit eher kontrollierbar als es die körperlichen waren.

Nicht weniger einschneidend als die Entkörperlichung ist die damit einhergehende offline-Produktion. Die Produzent*innen eines Schriftstücks haben alle Zeit der Welt zu formulieren, können ihre Formulierungen beliebig revidieren. Die Kognition kann die Emotion weithin kontrollieren, und ihre Arbeit bleibt für die Rezipient*innen unsichtbar. Aber die Produzierenden der Textstücke haben in keinem einzigen Modus mehr eine Rückmeldung über das, was in den Rezipierenden auf der Basis des Kommunikats entsteht. Sie können die Rezeption imaginieren und sich an diesem Entwurf orientieren. Aber die Möglichkeiten, sich der geteilten Aufmerksamkeit, der gemeinsamen Ausrichtung auf das kommunikative Anliegen, der emotionalen Zu- oder Abwendung der Partner*innen zu versichern, fehlen. Kommunikation unter den Bedingungen der zeiträumlichen Trennung ist anders, und man sollte diese Andersartigkeit nicht in einem der konzeptionellen Parameter verstecken, sondern sie voll entfalten. Auch, damit sichtbar werden kann, dass die medialen Konstellationen niemals alleine wirken, sondern immer nur im Verbund mit eben diesen Parametern.

Vor diesem Hintergrund ist der Gedanke an eine sanfte, gering konturierte kommunikative Landschaft von vornherein ausgeschlossen. Wenn wir eine Modellierung des Gesamts aller Kommunikate vorschlagen müssten, wäre es ein Modell, das die Vielförmigkeit herausstellt und die Unterschiede nicht verdeckt. Texttypolog*innen und Gattungstheoretiker*innen wissen, dass die Gesamtheit der kommunikativen Ereignisse niemals, auch nicht auf der Ebene der gesellschaftlich geronnenen Muster und Vorerwartungen, umfassend und abschließend geordnet werden kann. Die Vielfalt der Einflussfaktoren ist zu groß, und die daran geknüpfte Variation ist allenfalls gerichtet, niemals aber linear. Es ist besser, Plateaus, strukturierte Räume der Variation, anzusetzen, die durchaus klare, auch mediale Grenzziehungen aufweisen können. Wichtig ist allein der Gedanke, dass die mediale Variation nicht isoliert, sondern immer im Zusammenhang mit den konzeptionellen Faktoren gesehen werden muss und dass kein vollständiger Bruch zwischen den einzelnen kommunikativen Domänen angesetzt werden darf. Es ist ein Kontinuum im schwachen Sinne des Wortes, eine typisierbare, aber allenfalls um prototypische Zentren herum zu ordnende Variation, die aber gemeinsam bezogen bleibt auf die sprachliche Kommunikation, die also den Raum des Sprachlichen nie vollständig verlässt.

 

Denn die Sprache ist es, die die Verbindung zwischen den einzelnen Plateaus sichert. Dies gilt von Anfang an, vor jeder medialen Differenzierung der Kommunikation durch die kulturell-technische Entwicklung und über die konzeptionellen Differenzen hinweg. Sprache ist immer schon situationstranszendierend; sie ist als Zeichensystem immer situationsentbunden und immer rational in dem Sinne, dass sie begrifflich ist, digital und nicht analog. Menschliche Sprache ist von sich aus Distanz, Distanz zunächst einmal der Sprecher*innen von sich selbst. Für Handlungsanweisungen brauchen wir sie nicht, der Warnschrei ist älter als die Sprache, in authentischer Nähe kommen wir auch ohne Sprache zurecht (siehe Humboldt 1973: 5). Wir entbinden uns selbst im Sprechen aus der Situation des Sprechens. Menschliche Sprache ist Distanz auch deshalb, weil jede Kommunikation, auch die nicht-sprachliche Kommunikation, damit zurechtkommen muss, dass ihr Erfolg niemals gesichert ist. Nur wir selbst verstehen sicher, was wir meinen und was wir sagen – auch wenn wir selbst nicht mehr damit einverstanden sind, sobald wir es gesagt haben. Die anderen konstruieren einen Sinn auf der Basis ihrer eigenen kognitiven und emotiven Systeme, und dieser Prozess ist uns als Produzent*innen vollständig entzogen. In der face-to-face-Situation bauen wir auf die Zeichen der Bereitschaft zur Kommunikation, die uns das Gegenüber gibt (oder nicht gibt). Wir nutzen die (körperliche) Nähe, die wir gerade jetzt, aber keineswegs immer zum Gegenüber haben, um mit ihm oder ihr Sinn zu konstruieren. Wenn wir schreiben, konstruieren wir unsere Kommunikate mit Sorgfalt; weil wir die Distanz zum anderen für aufhebbar halten durch die Kommunikation, die wir betreiben.

Auch das sprachliche Repertoire ermöglicht das Hin und Her zwischen den medialen Räumen. Wir finden auf beiden Seiten des Grabens nicht nur identische Signifikanten, sondern auch identische Kollokationen und Konstruktionen. Die sprachlichen Formen werden in der phonischen Nähekommunikation auf verschiedenen Ebenen nicht unbedingt vollständig ausgeführt, sie erscheinen als fragmentarisch und das Nähesprechen daher als ein Konglomerat von Fragmenten. Nähe und Distanz – und Phonie und Graphie – können außerdem eigene Wortformen und Konstruktionen entwickeln. Aber der Überschneidungsbereich ist doch unübersehbar groß. Wir würden für phonische Nähe und schriftliche Distanz, genauer für deren Überschneidungsbereich, daher in jedem Fall eine einzige Grammatik postulieren.1 Die Erfindung der Schrift und andere mediale Umbrüche schaffen keine neuen Sprachen, sie schaffen nur zusätzliche, neue Formen, die auf dem bisherigen Repertoire aufruhen (siehe Tophinke 2016: 307). Dies gilt für den Distanzbereich, aber auch für die kommunikative Nähe. Der Chat hat die Smileys (Vorgänger der heutigen Emojis) entstehen lassen. Smileys sind so etwas wie Bilder von Gesten. Handelt es sich hier also wirklich um etwas, das sich, semiotisch und pragmatisch, fundamental von den Gesten, der Mimik, den Bewegungen unterscheidet, die phonische Nähekommunikation schon immer prägen? Außer der Kommunikationsform, also außer dem Chat, ist nichts neu am Chat.2

Hinsichtlich der Frage, ob es im Anschluss an die mediale Variation einen entscheidenden, fundamentalen Bruch für das Sprachliche, das Formulieren und das Verstehen gibt, sind wir also auf der Seite von Koch und Oesterreicher und setzen mit ihnen ein – im strengen Sinne des Wortes – Kontinuum der Variation des sprachlichen Handelns und der sprachlichen Formen zwischen den Polen der Nähe und der Distanz an. Wir gehen davon aus, dass auch dann, wenn raumzeitliche Verschränkung, maximale Vertrautheit und maximale Freiheit der kommunikativen Entwicklung die Fokussierung des Sprachlichen weder sinnvoll noch notwendig erscheinen lassen, Sprache bereits unter genau den Bedingungen funktioniert, die auch für die Distanzkommunikation gelten. Sprache funktioniert in der kommunikativen Nähe zwar insofern anders, als ihr Anteil an der Kommunikation insgesamt geringer ist, weil sie anders eingesetzt wird, weil indexikalischer Zeichengebrauch über den symbolischen dominiert. Der extremen Nähekommunikation eine noch nicht propositionale, weil nur Zeigfeld bezogene ‚Sprache‘ zuzuschreiben und zu behaupten, dass erst die Schrift sprachliche Zeichen bewusst und manipulierbar werden lässt (siehe Knobloch 2016: 84), verfehlt jedoch den Gegenstand. Sprache ist nicht an Exteriorisierung gebunden und insofern auch nicht an einen bestimmten Exteriorisierungstyp. Sprachliche Strukturen sind im Bewusstsein vor jeder Exteriorisierung gegeben oder sind jedenfalls für das Bewusstsein unmittelbar zugänglich (siehe Humboldt 1973: 31, 33, 37). Das Bewusstsein symbolisiert seine Inhalte für die anderen und für sich selbst durch die Sprache, aber nicht erst im Sprechen. Schreiben eröffnet also auch die Möglichkeit der Kommunikation mit sich selbst, des effektiveren Denkens, weil die Exteriorisierung die Reflexion intensiver und genauer machen kann. Die Distanz, hier die kognitive Distanz, ist in der Sprache schon immer angelegt. Es ist falsch, die geringere Relevanz des Sprachlichen in der extremen Nähekommunikation so auszudeuten, als sei es eine andere Sprache – eine Vorsprache? –, die hier zum Einsatz kommt.

Wir haben unsere Revision des Nähe-Distanz-Kontinuums darauf konzentriert, nur einen Teilaspekt des Modells weiterzuentwickeln, den Aspekt der Verschränkung von Kommunikationssituation, konzeptioneller Variation und Medialität. Wir haben damit die Kritik an der – aus unserer Sicht gegebenen – Amedialität bzw. an der – vermeintlichen – Vagheit der kommunikativen Parameter aufgenommen. Wir müssten an dieser Stelle die ‚Modularisierung‘ des Nähe-Distanz-Kontinuums noch weiter fortsetzen. Wir müssten zeigen, über welche Vermittlungsstufen unser klar auf das (Einzel-)Kommunikat ausgerichtete Modell mit dem Gedanken des ontogenetischen und phylogenetischen Variationskontinuums zwischen Nähe- und Distanzsprachlichkeit verknüpft werden kann. Dies umso mehr, als wir meinen, dass genau dieser Gedanke der eigentliche Bezugspunkt des Modells von Peter Koch und Wulf Oesterreicher ist.3 Das Nähe-Distanz-Kontinuum schwankt bekanntlich zwischen dem Ziel, Kommunikate bzw. Diskurstraditionen zwischen Nähe und Distanz zu verorten und dem Anliegen, einen Erklärungsrahmen für die Entstehung und Entwicklung konzeptioneller Variation zu entwickeln. Für das Einordnen von Diskurstraditionen ist die Betonung des Kontinualen der konzeptionellen Variation oft gar nicht zielführend, manchmal sogar verunklarend. Für die Frage, wie und warum Schrift zum Ausbau der Distanzsprachlichkeit führt, welche sozialen Bedingungen gegeben sein müssen, damit Situationsentbindung, Themenzentrierung, emotionale Distanzierung greifen können und die Bedingungen für ein Sprechen oder Schreiben entstehen, das das Begriffliche und die Syntax zur Verdichtung des Gesagten und Gemeinten nutzt, ist der Gedanke des Kontinuums dagegen entscheidend.