KLfG Extrakt - Kanadische Gegenwartsliteratur

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Mit „Die Geschichte von Zeb“ (2013) schließt Atwood ihre schwergewichtige MaddAddam Trilogie ab. Der Roman spielt auf der Gegenwartsebene im Jahr nach der apokalyptischen „Flut“, die in den beiden vorigen Romanen behandelt wurde. In zahlreichen Rückwendungen wird zudem die Lebensgeschichte von Zeb nachgereicht und wie er und sein (vermeintlicher) Halbbruder Adam sich jeweils zu den Anführern der MaddAddamiten und Gottesgärtner entwickeln, die sich dem totalitären und menschenverachtenden Regime der profitversessenen Konzerne mit unterschiedlichen Methoden entgegenstellen.

Die Gegenwartshandlung wird aus der Perspektive von Toby erzählt. Sie und Zeb bekennen sich zueinander und können ihre Liebe endlich leben. In einer Lehmhaus-Enklave finden die wenigen Überlebenden, ehemalige MaddAddamiten und Gottesgärtner, zusammen und beginnen den Neuaufbau einer Zivilisation. Dazu gehören nun auch die humanoiden aber aggressionsfreien, von Crake durch Genspaltung geschaffenen Craker, die ohne Hilfe wohl den zwei flüchtigen brutalen Schwerstverbrechern (Painballers) ausgeliefert wären, die Toby und andere am Ende von „Das Jahr der Flut“ gestellt hatten. Es entwickelt sich ein für beide Spezies vorteilhaftes Zusammenwirken zwischen Menschen und Crakern, bis schließlich drei Frauen der Überlebensgemeinschaft von Crakern schwanger werden und sich damit eine hybride Gattung von Neumenschen aufzubauen beginnt. Alternierend dazu erzählt Zeb Toby seine abenteuerliche Lebensgeschichte, damit diese sie, in stark vereinfachter Form, seriell den Crakern erzählen kann, die auf tägliches Geschichtenerzählen großen Wert legen. Das spannende Aufspüren und die Ausschaltung der üblen Painballers werden am Romanende von dem Craker Blackbeard erzählt, dem die inzwischen verstorbene Toby Lesen und Schreiben beigebracht hat.

In diesem Roman betont Atwood hoffnungsvoll das Fortbestehen einer „menschlichen“ Zivilisation über die von Menschen bewirkte Apokalypse hinaus, zumal die Craker mit ihrem Interesse an Gesang sowie Geschichten und deren mündlicher wie schriftlicher Weitervermittlung kunst- bzw. kulturbezogene Eigenschaften aufweisen, die von ihrem naturwissenschaftlichen Designer eigentlich nicht vorgesehen waren. Speziell die Faszination der Craker an der eigenen Schöpfungsgeschichte mit Oryx und Crake sowie dadurch an einer neuen Mythologie und Religion, wie sie in dem abendlichen Geschichtenerzählen Tobys erzeugt und verklärt werden, macht die Craker den nach Sinn suchenden Menschen ähnlich. Atwood arbeitet jedoch auch die Unterschiede zwischen Mensch und Craker heraus. Ihr Entwurf dieser friedfertigen und arglos-freundlichen neuen Spezies sowie der sich aus vermischender Fortpflanzung aufbauenden neuen Interspezies kann auch als utopisches metaphorisches Element am Ende ihrer grandiosen, im 21. Jahrhundert angesiedelten dystopischen Trilogie gesehen werden – mit indirektem Hinweis darauf, welche fortgeführten Attitüden (wie [Hab-]Gier, Dominanzstreben, Hybris, Gewaltbereitschaft) die Menschheit in die Katastrophe führen können. Wie Atwood zu Beginn ihrer Danksagung am Ende des Buches betont: „Obgleich Die Geschichte von Zeb ein fiktionales Werk ist, gibt es darin keine Technologien oder Biowesen, die nicht bereits existieren, sich im Bau befinden oder theoretisch möglich wären.“

Auch Atwoods nächster Roman, „Das Herz kommt zuletzt“ (2015), ist eine Dystopie, wobei die mittlerweile auch als „Königin der Apokalypse“ titulierte Schriftstellerin die imaginative Schraube noch weiterdreht, sodass die zunehmend krasse, aber auch humorvoll-komische und spannende Handlung zahlreiche skurrile, satirische, farceartige und vielfach schockierende Züge aufweist. Doch auch hier zeigt sich die Angemessenheit des von Atwood bevorzugten Gattungsbegriffs der speculative fiction, denn letztlich erscheint die dargebotene, streckenweise haarsträubende Vorstellungswelt beunruhigend realitätskompatibel.

Auch diese Romanhandlung platziert Atwood in die USA, in eine unbestimmte, aber recht nahe Zukunft. Nach einem verheerenden Finanzcrash leben die nun verarmten, ehemaligen Mittelschichtler Charmaine und Stan in einem alten Honda Civic, bedroht von marodierenden Banden. Über eine Werbung erfahren sie von dem Positron Projekt in der aufgegebenen Stadt Consilience, einem konzerngesponserten sozioökonomischen „Experiment“, dem sie, verzweifelt, per Unterschrift beitreten. Gelockt werden sie von dem Versprechen von Vollbeschäftigung, sorglosem Wohlstand und Sicherheit. So lebt das frisch vermählte Paar in regelmäßigem Wechsel jeweils einen Monat in einem schönen Einfamilienhaus, um sich dann aber einen Monat im privat betriebenen Gefängnis der ehemaligen Stadt aufhalten zu müssen. An beiden Orten müssen sie zweifelhafte Arbeiten für die Privatfirma verrichten, wie z. B. das Töten per Spritze der wirklich kriminellen Gefängnisinsassen. Das Haus teilen sie sich zeitlich alternierend mit einem ihnen zunächst vorschriftsmäßig unbekannt bleibenden Ehepaar, wobei sich jedoch im Weiteren ein unerlaubter Partnertausch, als einzig verbleibende Form ihrer Selbstbestimmung, ergibt. Den Protagonist*innen wird schließlich klar, dass einer der vielen Haken an dem Projekt ist, dass sie keinerlei Kontakt zur Außenwelt haben dürfen und nie mehr aus ihrer regulierten, alternierenden Lebensform bzw. dem geschlossenen Wohnkomplex herauskommen, sie also total überwachte Insassen auf Lebenszeit sein sollen. Die turbulenten Ereignisse entwickeln sich über eine Whistleblower-Aktion hin auf die Dekuvrierung des menschenverachtenden Systems, das z. B. einen ebenso skrupellosen wie lukrativen Organhandel betreibt. Stan und Charmaine können schließlich auf abenteuerliche Weise dem Positron Projekt entfliehen und stehen vor der Entscheidung, welche Art von Leben sie weiterhin führen möchten.

Der unter anderem bio- und neurotechnologische Möglichkeiten fiktional weiterspinnende Text wurde zunächst 2012–2013 in vier Episoden seriell auf der Online-Plattform Byliner publiziert, bevor Atwood ihn zu einem Roman ausarbeitete. Diverse sprachliche und motivische Referenzen auf Shakespeares Werke weisen bereits auf ihren folgenden Roman.

Der Roman „Hexensaat“ (2016) ist Teil der sogenannten Hogarth Shakespeare-Serie, für die sich international erfolgreiche Schriftsteller*innen einzelne Shakespeare-Dramen aussuchen, um deren Stoff in die heutige Zeit zu transferieren. Atwood hat dafür Shakespeares „Der Sturm“ gewählt.

Der renommierte Regisseur Felix ist erfolgreicher Leiter eines kanadischen Theaterfestivals. In seine ihn faszinierende Arbeit eingegraben verliert er erst seine Frau und dann auch noch seine dreijährige Tochter Miranda, weil er ihr in ihrer Krankheit während seiner Inszenierung von Shakespeares „Sturm“ nicht zur Seite stand, wie er es empfindet. Während dieser persönlich schwierigen Zeit wird Felix unter Beihilfe des zuständigen Ministers von seinem intriganten Stellvertreter Tony aus seiner leitenden Position verdrängt und von diesem ersetzt. Tief verletzt zieht sich Felix unauffindbar in die Einöde zurück, ehe er nach einigen Jahren unter anderem Namen den Job des Theaterleiters im Rahmen eines pädagogischen Bildungsprojekts in einem Gefängnis annimmt. Zwölf Jahre nach seiner unfairen Entlassung melden sich die beiden früheren Intriganten, mittlerweile beide Minister, für eine Theateraufführung in dem Gefängnis an, um das Projekt danach kippen zu können. Felix erarbeitet mit großem Aufwand und Expertise eine multimediale, „interaktive“, großartige Inszenierung von Shakespeares „Der Sturm“. Er rächt sich gekonnt und listig an seinen Opponenten, indem er ein mörderisches Komplott-Gespräch zwischen ihnen während der Theateraufführung in einem separaten Raum im Gefängnis heimlich filmt und sie danach damit konfrontiert. In der Folge wird Felix wieder als Direktor des Theaterfestivals eingesetzt und der Hauptintrigant Tony verschwindet beruflich in der Versenkung.

Der Roman, dessen Ereignisse und Charakterkonstellationen zahlreiche und vielfältige Entsprechungen zu Shakespeares Ausgangstext von 1611 haben, obwohl die Gegenwartshandlung von „Hexensaat“ im Jahr 2013 spielt, demonstriert nebenbei Atwoods weitreichende Kenntnisse der Werke Shakespeares, den sie als ihren Lieblingsschriftsteller bezeichnet. Die ingeniöse Romanhandlung bietet ergiebige Möglichkeiten der Vorstellung und Diskussion des gewählten Shakespearedramas und dessen schillernder, teilweise surrealer Charaktere in einem theaterpädagogischen Kontext, wobei hier auch verurteilte Verbrecher als von Shakespeare faszinierbar gezeigt und neue Perspektiven und Interpretationen des Shakespearedramas vorgeführt werden. Atwood behandelt auf diese Weise indirekt die Relevanz und den (auch therapeutischen) Wert von Literatur für fundamentale menschliche Emotionen wie Neid, Eifersucht, Verzweiflung, Geltungssucht, Hass, Rache, Mitgefühl, Liebe und Vergebung. Auch indem in „Hexensaat“ sprichwörtlich „die ganze Welt eine Bühne ist“, erweist sich diese geistreiche Adaptation Atwoods nicht nur als ein in sich stimmiger Roman, sondern auch als eine eindrucksvolle Hommage an Shakespeare.

2019 wurde der ein Jahr vorher angekündigte 17. Roman Atwoods, „Die Zeuginnen“, zu einer der meistbeachteten Neuerscheinungen der Buchgeschichte sowie zum literarischen Bestseller des Jahres. Grund dafür ist auch, neben dem mittlerweile ikonischen Status seiner Autorin, dass „Die Zeuginnen“ eine Fortschreibung ihres Kult-Romans „Der Report der Magd“ ist. Die vielen Fragen der Leserschaft an die Autorin zum „Report der Magd“ wie auch gegenwärtige politische, soziale und ökologische Zustände haben Atwood laut eigener Aussage zu der Weiterschreibung des Stoffes bewegt. Obwohl der neue Roman auch für sich stehen kann, greift er Figuren, Funktionsträger und Lokalitäten aus dem früheren Roman auf, stellt das gleiche Sozialsystem sowie weitere Entwicklungen in Gilead dar, und ist mit dem Epilog des nun im Jahr 2197 angesiedelten, 13. Symposiums zu Gilead-Studien auch ähnlich strukturiert.

 

Der Großteil der geschilderten Ereignisse setzt 15 Jahre nach der Haupthandlung des „Report der Magd“ ein, nämlich um den Geburtstag des Kindes herum, mit dem Desfred am Ende vom früheren Roman schwanger ist. Daisy, zunächst in Unkenntnis ihrer wahren Abstammung, lebt in Toronto bei kanadischen Pflegeeltern, die – wie sich erst nach und nach herausstellt – wichtige Mitglieder einer Anti-Gilead Untergrundorganisation sind. Beide Pflegeeltern werden von Gilead-Agenten ermordet, nachdem Daisy anlässlich ihrer Teilnahme an einem Anti-Gilead Protestmarsch in Toronto im Fernsehen in Gilead erkannt wurde. Daisy ist in Gilead unter der Bezeichnung „die kleine Nicole“, die dem System durch Desfreds Flucht nach Kanada entzogen wurde, zu einer Ikone hochstilisiert worden, deren Zurückholung ein propagandistisches Hauptziel des dortigen Terrorregimes ist. Parallel dazu wird die Geschichte von Agnes erzählt, der ersten Tochter von Desfred, die ihrer Mutter beim ersten, gescheiterten Fluchtversuch von Gilead nach Kanada entrissen wurde und in Gilead aufgewachsen ist. Ebenfalls zunächst in Unkenntnis ihrer wahren Abstammung, wächst Agnes in der Familie eines sozial hochrangigen „Kommandanten“ auf, der Agnes mit nur 13 Jahren an einen anderen Kommandanten verheiraten will. Agnes, deren erstes sexuelles Erlebnis ein Übergriff durch ihren Zahnarzt war, will sich um jeden Preis einer Heirat entziehen und erwägt bereits Selbstmord, als sie von Tante Lydia befreit wird, indem Lydia Agnes zu einer angehenden „Tante“ macht. Tanten sind ledige weibliche Erfüllungsgehilfen des sexistisch-autokratischen System Gileads. Sie sind für die Indoktrination junger Mädchen in Schulen sowie von angehenden „Mägden“, den Gebärmaschinen Gileads, verantwortlich. Lydia ist die mächtigste Tante des Staates, ebenso verehrt wie gefürchtet von Frauen wie Männern. Ein dritter Erzählstrang zeigt, wie sie ursprünglich durch Folter zur Mitwirkung am System Gilead gezwungen wurde, um zu überleben. Doch sie schwor sich Rache und ist über Jahre eine Doppelagentin, die letztlich die Anti-Gilead Untergrundbewegung unterstützt und dieser aus dem Zentrum der Macht in Gilead wichtige Informationen zukommen lässt. Lydia betreibt mit Courage, Raffinesse und langem Atem den Sturz Gileads. Dabei sind ihr schließlich die beiden Töchter Desfreds behilflich, die von Lydia zum Beleg von Gileads Verderbtheit gesammelte Dokumente nach Kanada schmuggeln und damit den Sturz des Systems (und die spätere Restauration der USA) einleiten. Lydia ist sich bewusst, dass sie diesen Verrat voraussichtlich in Gilead unter Folter mit dem Leben bezahlen wird und wählt den Freitod.

Neben seiner aussagekräftigen Charakterkonstellation und entsprechender stilistischer Variabilität besticht der Roman auch durch seine ausgeklügelte Erzähltechnik und Handlungsstruktur (sukzessive Informationsvergabe in alternierender Montage von Zeugenberichten) sowie eine spannungsgeladene Erzählfreude, die den Text zu einer Art Spionagethriller machen. In erster Linie stellt Atwoods Spätwerk jedoch fundamentale Fragen nach menschlichen Verhaltensweisen, wie z. B. Lydias Rechtfertigung vor ihren imaginierten späteren Rezipient*innen. „Lieber Steine werfen als mit Steinen beworfen werden.“ Hoffnungsvoller als der frühere Roman zeigt „Die Zeuginnen“ Mechanismen der Machtergreifung, des Machterhalts wie auch hier besonders der Machterosion tyrannischer Systeme – seien sie auf politischer und/oder persönlicher Ebene angesiedelt – und wie Unterdrückungsmethoden Widerstand erzeugen, der schließlich das Ende der Tyrannei herbeiführt.

Seit ihren frühesten Veröffentlichungen in den 1960er Jahren hat Atwood immer wieder auch Lyrik (bis Ende 2020 13 Sammelbände) und Short Stories (5 Sammlungen) vorgelegt. Wie in ihren Romanen behandelt Atwood in ihrer Kurzprosa häufig Situationen der Bedrohung. Viele ihrer Short Stories handeln von Hauptfiguren, häufig weiblichen, die sich in herausfordernden, entscheidenden Lebenssituationen befinden. Seit „Die Giftmischer“ (1983) hat Atwood auch gattungsmäßig heterogene Sammlungen von Prosagedichten, Parabeln, Essay-Fiktionen und anderen Kurztexten vorgelegt (short fictions), die, manchmal kaum eine Seite umfassend, sprachlich wie gedanklich lyrische, essayistische und narrative Mischformen darstellen (siehe auch „Gute Knochen“, 1992). In ihrer Kurzprosa-Sammlung „Das Zelt“ (2006) reflektiert Atwood, stark verklausuliert oder mythologisch unterlegt, in minimalistischen Texten Grundprobleme menschlicher Befindlichkeit sowie des kreativen Schreibens, manchmal amüsant, meist nachdenklich, manchmal aufmunternd. Die thematischen Orientierungen dieses Buches zusammenführend heißt es am Schluss des letzten Textes des Bandes („Aber es könnte immer noch“): „Es sieht schlecht aus: ich geb’s zu. Es sieht schlechter aus als seit Jahren, seit Jahrhunderten. (…) Aber es könnte noch immer gut gehen. (…) Die Sonne geht um vier unter, die Temperatur sinkt schnell, der Wind heult, der Schnee rauscht herunter. Obwohl du dir fast die Finger abgefroren hast, die Tulpen sind gerade noch rechtzeitig gesetzt. In vier Monaten kommen sie heraus, daran glaubst du, und sie werden wie die Abbildung im Katalog aussehen. In der braunen Erde waren schon Hunderte von grünen Keimen. (…) Wie würdest du sie nennen, wenn sie in einer Geschichte vorkämen? Wären sie ein glückliches Ende oder ein glücklicher Anfang?“

Der vollständige Beitrag „Margaret Atwood“ ist im Kritischen Lexikon zur fremdsprachigen Gegenwartsliteratur einzusehen unter nachschlage.net.

Kirsten A. Sandrock

Dionne Brand

Dionne Brands schriftstellerische Werke sind untrennbar mit ihrem sozialen Engagement verbunden. Als Menschenrechtsaktivistin wie als Autorin setzt sie sich insbesondere mit der Geschichte von people of colour auseinander sowie mit dem Schicksal von Frauen und non-binären Personen weltweit. Brand schreibt Gedichte, Romane und Erzählungen genauso wie wissenschaftliche Artikel und Essays, die vorwiegend Themen der Entwurzelung und Identitätsfindung von multikulturellen Figuren und Gesellschaften behandeln. Sie schreibt von freiwilliger und unfreiwilliger Migration, von der neokolonialen Ausbeutung von Minderheiten und von Geschlechterrollen im kolonialen und postkolonialen Zeitalter. Auch auf formaler und stilistischer Ebene finden sich diese Leitgedanken der Geschlechterstudien sowie des postkolonialen Diskurses in Brands Werken wieder. So wird in ihren Romanen beispielsweise das Motiv der persönlichen Identitätsfindung mit vielfältigen narrativen Perspektivwechseln verbunden oder in ihren Erzählungen die Problematik der transkulturellen Dislokation mit der Verwendung eines hybriden Englisch akzentuiert. Somit lassen sich Brands Werke nicht zuletzt als Vertreter des ethical turn in der angloamerikanischen Literatur des ausgehenden 20. Jahrhunderts verstehen. Das Resultat sind Werke, die mit herkömmlichen literarischen Mustern brechen und ihre eigene Sprache und ihren eigenen Stil entwickeln. International ist Brand insbesondere für ihre Romane und ihre Gedichte bekannt.

Brands Lyrik zeichnet sich durch einen vorwiegend narrativen Charakter aus. Ihre Gedichte handeln von Geschichten, die teilweise innerhalb weniger Verse erzählt sind und teilweise einen gesamten Gedichtzyklus ausfüllen. Im Vordergrund ihrer Dichtung stehen die Erlebnisse von Migranten, Frauen und anderen Minderheiten, aus deren Sicht die Gedichte erzählt werden.

So beschreibt der mit dem Governor General’s Award ausgezeichnete Band „Land to Light On“ (Land zu Licht an; 1997) die Erfahrungen farbiger Einwanderer im heutigen Kanada. Mithilfe von wechselnden Perspektiven schildern die Gedichte die Bandbreite der Erlebnisse und Emotionen der Immigranten aus der ersten und zweiten Einwanderergeneration. Größtenteils sind diese Erfahrungen verstörend und zeigen die dunkle Seite der multikulturellen Gesellschaft Kanadas auf. Die Figuren werden wahlweise von vorbeifahrenden Autofahrern beschimpft, fühlen sich einsam und isoliert oder werden diskriminiert in der neuen, kanadischen Welt.

Ähnlich erzählt der Gedichtzyklus „thirsty“ (durstig; 2002) mithilfe von multiplen Perspektiven gesellschaftskritische Episoden aus dem Leben von jamaikanischen Einwanderern in Toronto. Im Zentrum steht das Schicksal des jungen Immigranten Alan, der von kanadischen Polizisten erschossen wird und seine Ehefrau Julia mitsamt Tochter sowie die trauernde Mutter Chloe hinterlässt. Das letzte Wort, welches Alan vor seinem Tod äußert, ist „durstig“. Das Adjektiv fungiert fortan als Leitmotiv des Gedichtbandes. Nicht nur Alan war durstig im Moment des Sterbens, sondern alle anderen Figuren sind ebenfalls durstig im symbolischen Sinn. Sie sind durstig nach Liebe, nach Respekt und nach dem Gefühl der Zugehörigkeit zur kanadischen Gesellschaft. „thirsty“ ergründet die Suche nach Geborgenheit und Sicherheit von Immigranten in der multikulturellen Bevölkerung Torontos. Die Figuren scheinen verloren in der Anonymität der Großstadt. Straßennamen wie Bloor oder Yonge tauchen regelmäßig als Fixpunkte in den Gedichten auf, als gäben sie den Einwanderern den notwendigen Halt im urbanen Koordinatensystem Torontos. Zur emotionalen Heimat der Figuren werden diese Straßen jedoch nicht. Stattdessen mutieren die öffentlichen Räume der kanadischen Metropole zu stillen Beobachtern von Verbrechen, die den Figuren widerfahren. Hauswände werden Augenzeugen von Mord, während Straßenecken die tagtägliche Demütigung der lyrischen Subjekte gewahren. Deren Gemütszustände sind entsprechend dominiert von Gefühlen der Verzweiflung, Wut und einer unbändigen Trauer über ihr dauerdurstiges Leben. Hinzu kommt die tiefsitzende Unsicherheit der lyrischen Subjekte, die auf formaler Ebene durch den beständigen Wechsel der Erzählinstanz widergespiegelt wird. Diese Unbeständigkeit lässt die Leserschaft eine ähnliche Verunsicherung verspüren, wie sie die Figuren in ihrem täglichen Leben erfahren. Die Gedichte in „thirsty“ erzeugen somit ein bewusst verstörendes Leseerlebnis, das formal ebenso gebrochen ist, wie die Gefühlswelten der beschriebenen Figuren es sind.

Ein weiteres Markenzeichen von Brands Lyrik ist die Beschäftigung mit der Sprache als solcher. Die Gedichte befassen sich wiederholt mit Sprache als gesellschaftlichem Kommunikationssystem sowie als Mittel der persönlichen und kulturellen Identitätsstiftung. Dabei werden insbesondere Fragen der postkolonialen Theorie fokussiert, die sich mit der Instrumentalisierung der Sprache für hegemoniale Zwecke auseinandersetzen. Dass die englische Sprache besonders häufig für koloniale Projekte missbraucht wurde, lässt sich leicht am heutigen Status des Englischen als Lingua franca erkennen. Brands Gedichte kritisieren und unterminieren diese auf linguistischen Opfern der Kolonialzeit begründete Vormachtstellung des Englischen, indem sie eine hybride Variante der Sprache verwenden und sowohl grammatikalisch als auch formal eigenständige Wege gehen. So kann die häufige Verwendung von kreolischen Elementen in den Texten als probate Widerstandsstrategie gegen die Standardisierung der englischen Sprache, und somit gegen die Standardisierung der kolonisierten Kultur, gelesen werden. Darüber hinaus wird durch die Hybridisierung des Englischen ein interkulturelles Potenzial der Sprache freigesetzt, welches in den Gedichten gleichsam spielerisch und radikal als Mittel der postkolonialen Emanzipierung genutzt wird.

Am deutlichsten kommt diese Auseinandersetzung mit der Sprache als einem machtpolitisch aufgeladenen System in Brands Gedichtzyklus „No Language is Neutral“ (Keine Sprache ist Neutral; 1990) zum Vorschein. Das Englische ist in diesen Gedichten nicht nur mit kreolischen Elementen versehen, welche die Sprache der ehemaligen Kolonialmacht hybridisieren, sondern es wird bisweilen bis zur Sinn­entstellung verfremdet. Das Ergebnis ist mitunter eine – beabsichtigte – Bedeutungsleere der Sprache in einigen Versen, welche die Erfahrungen der beschriebenen Figuren mit dem kanadischen Immigrationssystem spiegeln. Denn obgleich das multikulturelle Mosaik in Kanada öffentlich gefeiert wird, bleiben die Figuren in Brands Gedichten meist Fremde in der neuen Heimat. Die Verwendung des Englischen als eine teils kreolisierte, teils sinnentleerte Sprache entspricht diesem zwiespältigen Zustand des kanadischen Multikulturalismus, bei dem political correctness einerseits und gesellschaftliche Realität andererseits auseinanderklaffen.

Auch in Brands Prosa wird die Sprache wiederholt auf ihr machtpolitisches Instrumentalisierungspotenzial hin untersucht. Ein besonderes Augenmerk der Romane liegt auf den ehemaligen karibischen Kolonien Großbritanniens, in denen das Standardenglische zum Ausdruck hegemonialer Strukturen wurde, sowie auf der multikulturellen Gesellschaft Kanadas im 21. Jahrhundert.

 

Der 1996 erschienene Roman „In Another Place Not Here“ (An einem anderen Ort, nicht hier) handelt von zwei karibischen Frauen, Elizete und Verlia, deren Leben auf unterschiedliche Art und Weise von den Auswirkungen des Kolonialismus beeinflusst wird. Der erste Teil des Romans wird aus der Sicht Elizetes erzählt, die auf einer namenlosen Insel in der Karibik lebt und unter prekären Bedingungen Zuckerrohr auf dem Feld bestellt. Um diesen neokolonialen Lebensumständen zu entkommen, geht Elizete nach Kanada, wo sie sich einen Neuanfang in einer liberalen Gesellschaft erhofft. In Kanada angekommen muss Elizete jedoch feststellen, dass ihr die Toleranz des multikulturellen Staates noch lange keinen mühelosen Einstieg in die kanadische Gesellschaft ermöglicht. Im Gegenteil, Elizete hat Probleme sich einzugliedern, da sich die Liberalität der Bevölkerung ihrem Empfinden nach als Indifferenz und Anonymität zeigt. Die starke Rhythmisierung und Kreolisierung des Englischen in diesem Teil des Romans problematisiert – ähnlich wie Brands Lyrik – das Dilemma von vielen Migranten, die sich einer Sprache und Lebenswelt annehmen, ohne sich jedoch wirklich mit dieser identifizieren zu können. Als Gegenstück zu Elizete und deren Erlebnissen fungiert Verlia, aus deren Perspektive der zweite Teil des Romans erzählt wird. Verlia ist ebenfalls in der Karibik geboren, dort allerdings in der Stadt aufgewachsen und mit einer guten Schulbildung versehen worden. Vor diesem Hintergrund emigriert sie bereits als Teenager nach Kanada, nur um Jahre später wieder zurück in die Karibik zu ziehen mit dem Ziel, auf der Insel eine Arbeiterrevolution zu initiieren. Verlia erachtet dies nach jahrelangem Aktivismus für die proletarische Sache in Kanada als einen wichtigen Schritt im Kampf für die Menschenrechte in ihrer alten Heimat. Doch sobald sie in ihrer ehemaligen Heimat der Karibik ankommt, muss Verlia feststellen, dass Theorie und Praxis der Arbeiterrevolution stark voneinander abweichen. Die Menschen auf der Insel sind weit weniger begeistert von Verlias Vorstellung einer sozialistischen Revolution, als diese selbst es ist. Sie hat Probleme, ihre Ideale den Mitmenschen zu kommunizieren, wobei in diesem Fall nicht die Sprache das Hindernis darstellt. Vielmehr sind es die abweichenden Denkweisen und Lebenswelten der Inselbewohner, die eine tiefere Verbindung mit Verlia erschweren und somit ihre revolutionäre Absicht verhindern. Einzig Elizete scheint Verlia zu verstehen, wobei die sozialistische Revolution in der Beziehung zwischen den beiden zweitrangig ist. Vielmehr entdecken sie ihre Liebe zueinander, die so unverfälscht und rein ist, dass sie zu einem neuen Ideal zu werden scheint.

Auch der 1999 veröffentlichte Roman „At the Full and Change of the Moon“ (Bei vollem und sich änderndem Mond) handelt von einer karibischen Frau, deren Kinder und Kindeskinder in die Welt hinausziehen. Das Buch ist eine postkoloniale Familiensaga, die sich über zwei Jahrhunderte hinweg spannt. Sie beginnt 1824 mit der Geschichte der Sklavin Marie Ursule in Trinidad und endet im späten 20. Jahrhundert mit deren Urenkeln und Ururenkeln, die als Auswanderer in urbanen Zentren wie New York, Toronto oder Amsterdam leben. Die Figur der Marie Ursule beruht auf einer historisch verbürgten Geschichte: Eine karibische Plantagenarbeiterin organisiert einen Massenselbstmord unter den anderen Arbeitenden, um die Plantage ökonomisch zu ruinieren und somit gegen die miserablen Arbeitsbedingungen dort zu protestieren. Marie Ursule wird zur Vorkämpferin im Kampf gegen die Sklaverei und gegen die Ausbeutung der karibischen Bevölkerung. Der Preis dieses Kampfes ist, nolens volens, ihr eigener Tod. In Brands narrativer Bearbeitung dieses Stoffes überlebt indessen Marie Ursules Tochter Bola den Massenselbstmord und setzt ihrerseits so viele Kinder in die Welt, dass Marie Ursules Nachkommenschaft letzten Endes beinahe biblische Ausmaße annimmt. Bola gebärt 14 Kinder von ebenso vielen Männern, die oftmals als Reisende nur kurz mit Bola zusammentreffen und anschließend wieder in ihre Heimat zurückfahren. Einige der Kinder behält Bola bei sich, doch die meisten gibt sie ihren jeweiligen Vätern mit, damit die Jungen und Mädchen bei diesen aufwachsen. Was auf den ersten Blick wie ein liebloses Abschieben der eigenen Kinder erscheint, entpuppt sich im Laufe der Geschichte als eine instinktive Strategie zur Befreiung des eigenen Nachwuchses. Bola möchte ihren Kindern eine gute Zukunft ermöglichen. Dafür ist ihres Erachtens das Aufwachsen an besseren Orten notwendig – an Orten, wo ihr Leben nicht durch Herkunft und Hautfarbe vorherbestimmt sein wird. Nur dann ist wirkliche Freiheit möglich, so denkt Bola. Der entscheidende Satz des Buches lautet „No one is anyone’s“ – „Niemand gehört jemanden“. Der Satz bringt den zentralen Leitgedanken des Romans auf den Punkt: das Recht eines jeden Menschen auf Freiheit und Selbstbestimmung. Dass dieses Recht auf Autonomie letztendlich ein Wunschgedanke bleibt, verdeutlicht Brands Roman anhand der Geschichten von Bolas Kindern und Kindeskindern. Diese wachsen zwar an ökonomisch bessergestellten Orten als Bola auf und gewinnen viele Freiheiten, die ihrer Mutter versagt blieben, wie etwa die Freiheit der eigenen Berufswahl oder die Freiheit der selbstbestimmten Emigration. Doch sind Bolas Kinder und Kindeskinder nie so frei, dass ihre Herkunft und ihre Hautfarbe keine Rolle in ihrem Leben mehr spielen würden. Egal wohin sie gehen, stets sind ihre gesellschaftlichen Stellungen und ihre Beziehungen davon beeinflusst, dass sie ein Teil der karibischen Diaspora sind. Das Leben der Enkel, Urenkel und Ururenkel von Marie Ursule wird somit auch nach dem offiziellen Ende der Sklaverei weitgehend durch die Erfahrung der Fremdbestimmtheit und Entwurzelung definiert. Hinzu kommen bei den meisten von Marie Ursules Nachfahren Armut, fehlende Bildungsmöglichkeiten sowie Wehrlosigkeit gegen bestehende Vorurteile und Intoleranzen. Selbst am Ende des 20. Jahrhunderts sind die Figuren scheinbar machtlos gegen die anhaltenden hierarchischen Gesellschaftsverhältnisse, welche die Emigranten aus der Karibik in prädeterminierte Rollen drängen. Die Kinder und Kindeskinder von Bola enden demgemäß wahlweise auf den Straßen von Amsterdam, als gewalttätige Alkoholiker in New York oder als illegale Aussiedler in einem Flüchtlingslager bei Toronto. Brand erzählt diese Schicksale aus der wechselnden Perspektive der jeweiligen Figuren und stellt deren individuelle Befindlichkeiten genauso ergreifend dar wie die gesellschaftlichen Strukturen, die zu diesen Schicksalen führen. Ihr Buch übt Kritik an einer Gesellschaft, die trotz der verfassungsmäßigen Freiheit aller Menschen und deren Gleichheit vor dem Gesetz weiterhin an Strukturen der Versklavung festhält – Versklavung durch Rassismus, durch gesellschaftliche Benachteiligung und durch Armut.

In Brands preisgekröntem Roman „Wonach sich alle sehnen“ (2005) stehen ebenfalls Figuren unterschiedlicher Herkunft im Vordergrund, die diesmal allesamt im zeitgenössischen Kanada leben. Die Geschichte von Tuyen, Carla, Oku und Jackie spielt im Frühjahr 2002 in Toronto und folgt dem Leben der vier Charaktere der zweiten Einwanderergeneration, die teilweise asiatischer, teilweise afrikanisch-amerikanischer Herkunft sind. Der Roman ist sowohl ein Porträt der vier Figuren als auch ein Abbild des zeitgenössischen Torontos. Die Stadt steht im Mittelpunkt der Geschichte und reflektiert das schnelle, unstete Gefühl des ‚Auf-der-Suche-Seins‘ der vier Hauptcharaktere. Denn das zentrale Motiv des Romans ist die persönliche und kulturelle Identitätssuche von Tuyen, Carla, Oku und Jackie, die im urbanen Künstlermilieu Torontos leben.

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