KLfG Extrakt - Kanadische Gegenwartsliteratur

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„Lady Orakel“ bewegt sich formal zwischen Ich-Erzählung und Fragmenten aus Trivialromanen (Roman im Roman) und auf diese Weise zwischen verschiedenen Persönlichkeitsaspekten der Protagonistin. Die Wahl dieser Darstellungsform ermöglicht, dass die Hauptfigur nahezu übergangslos die Grenzen zwischen Realität und Fantasie überschreiten und zu einer lächerlich-komischen Figur werden kann. Atwood imitiert nicht nur Handlungsstrukturen und Figuren von Trivialromanen, sondern überzieht sie häufig bis zur Persiflage. Besonders komisch wird dies, wenn man verfolgen kann, wie die Trivialromanvorlage den Eskapismus der Heldin unmittelbar bewirkt. Allerdings gerät dieser Atwood-Roman dadurch bisweilen selbst in Gefahr, die Grenzen zum Trivialen auszutesten.

Nach diesem eher amüsanten Spiel um Identitäten kehrt die Autorin in ihrem Roman „Die Unmöglichkeit der Nähe“ (1979) wieder zu einer tiefgründigeren Auseinandersetzung mit dem Problem der Persönlichkeitskrise zurück.

Die Handlung spielt im Toronto der späten 1970er Jahre. Im Mittelpunkt stehen Elizabeth, Nate und Lesje, alle um die 40 und tief in der Krise. Elisabeth und Nate sind verheiratet, haben sich aber mit der Zeit voneinander entfernt und sind andere Liebesbeziehungen eingegangen, die allerdings ebenfalls zum Scheitern verurteilt sind. Als Elizabeths Geliebter Selbstmord begeht und Nate sich von seiner Geliebten zu lösen beginnt, taucht Lesje auf, eine Paläontologin. Nun beginnt ein Dreiecksverhältnis zwischen ihr, Elizabeth und Nate, das sich über zwei Jahre hinzieht. Im Zuge der Geschichte erweist sich die Unmöglichkeit von Nähe – alle Figuren sind unfähig, dauerhafte Bindungen einzugehen.

Atwood gelingt es, die Figuren in ihrer Ichbezogenheit und Ichbefangenheit transparent zu machen. Sie orientiert sich an der Form des Tagebuchs und lässt die drei Hauptfiguren nacheinander zu Wort kommen. Alle Szenen werden zweimal, manchmal auch dreimal erzählt, immer aus anderer Figurenperspektive. Eine Besonderheit ist, dass die Tagebucheintragungen nicht in der Ich-Form aufgezeichnet werden, sondern von einer unpersönlichen Erzählinstanz, wodurch der Eindruck entsteht, dass alle Charaktere neutral betrachtet werden. Eine besondere Sympathie für eine einzelne Figur kommt somit nicht auf. Nach und nach vergegenwärtigt Atwood Familienhintergründe und Lebensgeschichten der drei Hauptfiguren und zeigt, wo die Deformationsprozesse einsetzten, die zur gegenwärtigen emotionalen Erstarrung geführt haben. Im Gegensatz zu „Der lange Traum“, in dem Atwood eine Möglichkeit der Katharsis für ihre Hauptfigur geschaffen hat, lässt „Die Unmöglichkeit der Nähe“ offen, ob Elizabeth, Nate und Lesje emotional wieder zu sich selbst finden können.

Schon der Titel des folgenden Romans, „Verletzungen“ (1981), deutet sein zentrales Motiv an: Es geht um körperliche und seelische Beschädigungen und um das damit einhergehende Leiden.

Rennie Wilford, eine kanadische Journalistin, begibt sich auf eine karibische Insel, um dort Ferien zu machen. Sie hat eine Krebsoperation hinter sich und, auch als Folge davon, die Trennung von ihrem Freund. Im Urlaub möchte sie Abstand und Ruhe finden. Doch statt in eine Idylle gerät Rennie in die politischen Turbulenzen der erst vor Kurzem unabhängig gewordenen Insel; sie wird Zeugin politischer Machenschaften und dunkler Geschäfte und schließlich sogar von Vergewaltigung, Folter und Mord. Wegen des Verdachts, eine Spionin zu sein, kommt sie ins Gefängnis; ob sie freikommen wird, bleibt offen.

„Verletzungen“ ist in erster Linie eine Studie über Emotionen. Der exotische Schauplatz ist geeignet, diese besonders deutlich hervortreten zu lassen; denn in der Isolation, angesichts von Unterentwicklung und Armut sowie von politischer Gefahr, wird das Leiden extrem. In der Konfrontation mit den herrschenden Gewaltzuständen in der sogenannten „Dritten Welt“ erfährt die Protagonistin ihre existenzielle Bedrohung unmittelbar und wird von ihrer persönlichen Geschichte eingeholt. Rennie beginnt, ihr Leben zu überdenken. Erinnerungen nehmen einen breiten Raum ein und lassen erkennen, dass sie bereits in vielerlei Hinsicht Gewalt erlitten hat, nicht immer offen, aber dennoch prägend.

Sie rekapituliert Kindheitserlebnisse in ihrem puritanisch-fiktiven Heimatort Griswold, Ontario, wo sie in hohem Maße gesellschaftlichen Zwängen ausgesetzt war. Hier hat sie erste Verletzungen psychischer Art erfahren, die später zu Oberflächlichkeit und Empfindungslosigkeit führten, worunter sie, so wird ihr jetzt bewusst, immer gelitten hat. Später sind andere Verwundungen hinzugekommen – die Gewalt, die ihr Männer antaten, ihr ehemaliger Liebhaber Jake ebenso wie ein unbekannter Vergewaltiger, aber auch die Gewalt der Krankheit, die sie versehrt und ihre Existenz grundlegend infrage gestellt hat. Ob es ihr gelingen wird, diese Verletzungen aufzuarbeiten, bleibt in der Schwebe. Der Schluss des Buches lässt auf einen neuen Lebenswillen der Protagonistin schließen: „Nie wird sie gerettet werden. Sie ist bereits gerettet worden. Sie ist nicht ausgenommen, stattdessen hat sie Glück gehabt, plötzlich, endlich, sie strömt über vor Glück, es ist dies Glück, das sie aufrecht hält.“ Der ungewisse Ausgang der Handlung relativiert diese Hoffnung auf Heilung jedoch.

Das Thema des Ausgeliefertseins einer Frau spitzt Atwood in ihrem Roman „Der Report der Magd“ (1985) weiter zu. Sie entwirft hierin das düstere Zukunftsbild einer Gesellschaft, in der inhumane, despotische Machtausübung und eine krasse Entmenschlichung den Alltag bestimmen. Die Autorin betonte, dass sich ihr der Stoff des Romans aufgedrängt habe – unter anderem angesichts der politischen Strukturen von Diktaturen und angesichts fundamentalistischer religiöser Führer und Sekten wie in den USA und in Chomeinis Iran. „Es gibt darin nichts, was es nicht schon gibt“, erklärte sie und charakterisierte ihr Buch weniger als fantasieträchtige Sciencefiction, sondern vielmehr als speculative fiction, also als eine spekulativ-realistische Sicht in die Zukunft.

Die Handlung spielt in nicht allzu ferner Zukunft in einem fiktiven Staat auf dem Gebiet der ehemaligen USA mit dem biblischen Namen Gilead. Religiöse Fanatiker haben die Regierung gestürzt und ein totalitäres Regime errichtet. In Gilead herrscht eine strenge, geschlechter- und klassendifferente Moral, für deren Einhaltung die männlichen Machtinhaber und deren subalterne Chargen sorgen. Da durch Umwelt- und Atomverseuchung Frauen wie Männer zunehmend unfruchtbar bzw. zeugungsunfähig geworden sind, hat sich das Regime zum obersten Ziel gesetzt, gegen den drastischen Geburtenrückgang anzukämpfen; es plant und fördert die Fortpflanzung. Dies führt zu einem System totaler Kontrolle der Frauen, die in verschiedene Gruppen eingeteilt werden: An der Spitze der weiblichen Hierarchie stehen die Ehefrauen hochgestellter Männer. Wenn sie als unfruchtbar gelten, bekommen sie Mägde zugeteilt, die nach biblischem Vorbild für sie Kinder empfangen und austragen sollen. Die Mägde leben zunächst – aller persönlichen Freiheiten beraubt – in Anstalten zusammen, wo sie gedrillt, diszipliniert und auf den monatlichen Zeugungsakt vorbereitet werden, den ein Kommandant vor dem gesamten Haushalt und somit auch in Anwesenheit seiner Ehefrau vollzieht. Erscheint eine Magd auch nach mehreren Zeugungsversuchen als unfruchtbar, wird sie in eine ferne Kolonie abgeschoben, wo sie gefährliche Arbeiten, etwa in der Atommüllentsorgung, zu verrichten hat; wird sie schwanger, darf sie bleiben. Im Mittelpunkt des Romans steht eine Magd namens Desfred, die gerade in Freds Haushalt gekommen ist, wo sie unter Bewachung lebt. Eingesperrt in ihr Zimmer und reduziert auf sich selbst – auch Lesen und Schreiben sind den meisten Frauen verboten – beginnt sie, ihre Geschichte nach und nach auf Tonband zu sprechen, wie sich später herausstellt. Desfred erinnert sich an die Zeit vor Gilead, an Mann und Tochter, dann an die ersten Anzeichen des politischen Umsturzes, schließlich an die Etablierung des totalitären Regimes. Zwischendurch liefert sie Szenen ihres beklemmenden Alltags in Gilead, der in gelegentlichen Einkaufsgängen nach Plan, in der Teilnahme an öffentlichen Hinrichtungen Abtrünniger und in Begattungszeremonien besteht. Desfreds Bericht offenbart, dass sie sich notgedrungen in ihr Schicksal gefügt und die Hoffnung auf Befreiung weitgehend aufgegeben hat. Als der Kommandant Fred jenseits des offiziellen Zeugungsaktes Gefühle für sie zu entwickeln beginnt und sie heimlich zu seiner Geliebten macht, gipfeln die Ereignisse schließlich im Abtransport Desfreds, wobei ihr weiteres Schicksal offen bleibt.

Desfreds Bericht führt vor Augen, wie Machtapparate mit ihren vielfältigen Unterdrückungsmechanismen ebenso vielfältige Unterwerfungsrituale produzieren und wie die Machthaber ihre Herrschaft zu sichern suchen. Die Einführung eines totalen Überwachungssystems, die Verweigerung elementarer menschlicher Bedürfnisse, Einschüchterungs- und Abschreckungsmethoden (von der Verbrennung von Büchern bis zur öffentlichen Hinrichtung von Dissident*innen), die Versklavung von Frauen und ihr Missbrauch als Gebärmaschinen werden ebenso dargestellt wie die verheerenden Auswirkungen des totalitären Regimes auf das Individuum. Atwoods in brillantem Stil verfasste Schreckensvision der Zukunft hatte bereits beim Erscheinen des Romans international große Resonanz gefunden. Nachdem diverse politische, soziale, technologische und ökologische Entwicklungen ihre Dystopie der 1980er Jahre in der Gegenwart aktueller denn je erscheinen lassen, erlangte der Roman nach der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA sowie der Hulu-TV-Serienverfilmung (2017-) einen weiteren, weltweiten Popularitätsschub.

Nach ihrem ersten dystopischen Roman mit seiner düsteren Sicht der Zukunft wendet sich Atwood in „Katzenauge“ (1989) wieder der Vergangenheit zu. Der Roman umfasst eine Kindheitserinnerung mit autobiografischen Zügen.

 

Wie die Autorin im Erscheinungsjahr von „Katzenauge“ ist auch die Erzählerin des Romans, Elaine Risley, eine Künstlerin um die fünfzig. Wir begegnen der Malerin in ihrer Heimatstadt Toronto, wo sie sich wegen einer Ausstellung ihrer Bilder für einige Tage aufhält. Elaines Wege beim Durchstreifen der Stadt lösen Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend aus, die bruchstückhaft präsentiert werden. „Die Zeit ist keine Linie“, heißt der erste Satz des Romans, „sondern eine Dimension, wie die Dimensionen des Raumes. (…) Man blickt nicht an der Zeit entlang zurück, sondern in sie hinein und hinunter wie durch Wasser. Manchmal kommt dieses an die Oberfläche, manchmal jenes, manchmal gar nichts. Nichts geht weg.“ Immer wieder taucht Elaine in die Vergangenheit ein, in verborgene Lebensschichten. Im Zentrum dieses Nacherlebens steht eine Freundschaft, die sich zu entwickeln begann, als ihre Familie nach einem Wanderdasein in der kanadischen Wildnis sich in Toronto niederließ. Die achtjährige Elaine suchte Anschluss an den kleinen Kreis der Freundinnen Carol, Grace und Cordelia. Vor allem Cordelia ist Elaine schmerzhaft in Erinnerung geblieben – als aufgewecktes und schlagfertiges, aber auch arrogantes und grausames Mädchen, das mit der schüchternen Freundin ein böses Machtspiel trieb, sie tyrannisierte, bloßstellte und einschüchterte. Elaine gelang es nicht, Cordelia etwas entgegenzusetzen. Stattdessen legte sie sich ein „Katzenauge“ zu: „Cordelia weiß nicht, welche Kraft dieses Katzenauge besitzt, das mich beschützt. Manchmal, wenn ich es bei mir habe, kann ich sehen, wie es sieht. Ich sehe die Menschen, die sich wie muntere lebendige Puppen bewegen und den Mund auf- und zuklappen, aber ohne richtige Worte von sich zu geben. Ich sehe ihre Formen und Größen, ihre Farben, ohne sonst auch nur das Geringste zu fühlen. Ich lebe nur in meinen Augen.“ Elaine bildet in dieser Beziehung zu Cordelia eine Form sinnlicher Wahrnehmung heraus, die stets als Eindruck emotionaler Kälte auf ihr lastete, sie zugleich aber auch zur Malerin mit distanziertem Beobachterblick prädisponierte.

„Katzenauge“ ist eine Kindheits- und Adoleszenzstudie, die bis in die Einzelheiten hinein psychologische Mechanismen demonstriert, die das Mädchen geprägt haben. Besonderen Reiz gewinnt die Darstellung durch eine doppelte und verschränkte Perspektivik: Viele Erinnerungen werden zweimal erzählt – aus dem eingeschränkten, naiv-unschuldigen Blickwinkel der Heranwachsenden und aus der ironisch gefärbten Sicht der 50-Jährigen. Beide Perspektiven erzeugen ein Stimmungsbild, das die Verletzungen des Kindes in ihrem ganzen Ausmaß spüren lässt.

Um das Thema weibliche Macht geht es auch, wenngleich ganz anders, in Atwoods achtem Roman, „Die Räuberbraut“ (1993).

Eine zentrale Rolle spielt die verstorbene Zenia, ehemals eine schöne, kluge, eigennützige und bösartige Frau. Für Männer war sie ein unwiderstehlicher Traum, für Frauen wurde sie zum niederschmetternden Albtraum. Obwohl Zenia nicht mehr lebt, bewegt sie immer noch die Gemüter der drei Freundinnen Tony, Charis und Roz. Mit allen drei hat Zenia ein böses Machtspiel getrieben. Sie hat sich ihr Vertrauen erschlichen und ihnen ihre Partner abspenstig gemacht. Als sich die drei Frauen Jahre nach Zenias Tod zu einem Essen im Restaurant treffen, steht Zenia sozusagen von den Toten auf, indem sie den dreien noch einmal erscheint, und der Albtraum scheint für die drei Freundinnen von vorn zu beginnen.

Atwood demonstriert in diesem abwechselnd aus der Perspektive der drei Freundinnen erzählten Roman einmal mehr, welche Macht eine Frau über andere Frauen gewinnen kann und wie sie deren Leben nachhaltig beeinflussen und Beziehungen zerstören kann. Atwood legt die perfiden Mechanismen offen, mit denen dies Zenia gelingt. Zenia, die im Roman immer nur aus der Sicht der drei Freundinnen dargestellt wird, erscheint als maskierter Archetypus der femme fatale, auf den die drei Freundinnen ihre jeweiligen Wünsche projizieren: Sie wollen teilweise sein wie sie und fallen schließlich alle Zenias geschickten Manipulationen zum Opfer.

In ihrem Roman „Alias Grace“ (1996) setzt sich Atwood mit einer historischen Figur aus der Mitte des 19. Jahrhunderts auseinander und spürt damit einem alten kanadischen Kriminalfall nach: Es geht um das Dienstmädchen Grace Marks, das 1843 zusammen mit dem 20-jährigen James McDermott des Mordes an ihren Arbeitgebern Thomas Kinnear und Nancy Montgomery schuldig gesprochen und zum Tode verurteilt wurde. McDermott wurde hingerichtet, Grace wurde begnadigt und verbrachte 30 Jahre in einer Nervenheilanstalt und im Gefängnis, bis sie ebenfalls begnadigt und aus dem Gefängnis entlassen wurde. Atwood hat sich lange mit diesem spektakulären Fall beschäftigt und gründlich recherchiert. In ihrem Roman klärt sie allerdings nicht, ob Grace Marks nun eine Mörderin war oder nicht – dies bleibt bis zum Schluss offen –, sondern sie leuchtet die brüchigen Grenzen zwischen Realität und Illusion, Wahrheit und Lüge, Schuld und Unschuld aus.

Die Titelfigur ist mit einer komplizierten Psyche ausgestattet: Neun Jahre nach ihrer Verhaftung nimmt sich ein aufstrebender amerikanischer Nervenarzt, der sich besonders für die Problematik der Erinnerung interessiert, der verurteilten Grace an. Er will ihre Behauptung überprüfen, sie könne sich an die Ereignisse in der Mordnacht nicht erinnern. Der Arzt, der zunehmend von Grace fasziniert ist und sich in sie verliebt, arbeitet mit Assoziationen und Suggestionen und entlockt Grace nach und nach ihre Geschichte – wobei offenbleibt, wie weitgehend diese wahr oder fingiert ist und vielmehr ihrer Erzählerin, die im Roman einer modernen Scheherazade gleicht, das Überleben sichern soll. Grace erzählt von ihrer Kindheit in Irland, von der Auswanderung der Familie nach Kanada, von ihrer ersten Stelle, die sie mit 13 bei einer reichen Familie bekommt und wo sie Mary, ihrer einzigen Freundin, begegnet. Nach Marys skandalumwittertem Tod wechselt Grace häufig die Arbeitgeber und landet schließlich bei Thomas Kinnear und Nancy Montgomery, wo das Unglück seinen Lauf nimmt. Am Ende des Romans hat Grace eine Lebensgeschichte erzählt, aber ihre komplexe Persönlichkeit und manche ihrer Rekonstruktionen bleiben bis zum Schluss ambivalent und rätselhaft.

Atwoods folgender, mit dem Booker Prize ausgezeichneter Roman „Der blinde Mörder“ (2000) ist ein groß angelegter Familienroman, in dessen Mittelpunkt die beiden Schwestern Iris und Laura Chase stehen. Die Handlung umspannt mehr als 100 Jahre. Sie beginnt 1870, als der Großvater der beiden eine Knopffabrik in Port Ticonderoga bei Toronto gründet, und endet 1999 mit Lauras Tod. Die über 80-jährige Iris blickt zurück auf ihre Vergangenheit und enthüllt nach und nach die tragische Geschichte der Familie.

Iris schildert, wie sie und ihre Schwester in den 1930er Jahren im wohlhabenden Haushalt der Fabrikantenfamilie aufwachsen. Als die Fabrik während der Depression ihre Aufträge verliert, versucht der Vater, seine Arbeiter vor der Entlassung zu bewahren, treibt aber die Familie dadurch selbst in die Armut. Er bittet deshalb die damals 18-jährige Iris, einen wohlsituierten und politisch einflussreichen Unternehmer zu heiraten. Iris geht die Pflichtehe ein in der Hoffnung, das Erbe ihres Vaters zu retten. Ihre jüngere Schwester Laura zeigt sich als weniger fügsam und weist alle Bestechungs- und Verführungsversuche zurück. Bei einem öffentlichen Picknick lädt sie einen jungen Mann zu ihnen nach Hause ein. Es stellt sich schließlich heraus, dass Alex Thomas ein politischer Agitator und auf der Flucht ist, weil er als Rädelsführer der Arbeiterschaft verdächtigt wird. Laura und Iris verstecken ihn, beide verlieben sich in ihn, beide haben ein Verhältnis mit ihm, und beide wissen nichts von der anderen. Als Alex im Krieg fällt, Iris ihrer Schwester dies mitteilt und auch ihr eigenes Verhältnis mit Alex offenbart, begeht Laura Selbstmord. Zurück bleibt ein Roman-Manuskript, das Iris nach dem Tod ihrer Schwester unter Lauras Namen veröffentlicht – „Der blinde Mörder“, in dem die Geschichte einer Frau erzählt wird, die sich immer wieder mit einem Mann trifft, der aufgrund seiner politischen Aktivitäten von der Polizei gesucht wird. Posthum wird Laura zu einer berühmten Schriftstellerin. Iris, die lange im Schatten ihrer toten Schwester Laura gelebt hat, schaut als alte Frau auf das Familiendrama zurück, illusionslos und gelassen, ihrem nahen Ende ins Auge blickend. Es erweist sich am Schluss, dass vermutlich Iris, nicht Laura, die Verfasserin des berühmt gewordenen Romans ist.

„Der blinde Mörder“ besticht durch Atwoods Erzählweise: Sie erzählt die tragische Familiengeschichte nicht linear, sondern präsentiert sie in Bruchstücken, die sich erst am Ende auf kunstvolle und spannende Weise zusammenfügen. Die Rahmenerzählung der alten Iris wird mit drei weiteren Textsträngen durchsetzt: Zeitungsartikel, Kapitel des Buches „Der blinde Mörder“ (Roman im Roman) und Teile der Geschichte über den blinden Mörder, die der Protagonist dieses Romans imaginiert und seiner Geliebten erzählt (sozusagen Roman im Roman im Roman). Dieser überaus komplexe Roman Atwoods lässt ein differenziertes Bild vom Aufstieg und Zusammenbruch einer Industriellendynastie entstehen. Vor allem aber lebt er aus der durch Zuneigung und Rivalität genährten Spannung zwischen den Schwestern, die in dem dargestellten sozialen Kontext beide keine Chance auf Glück haben.

„Oryx und Crake“ (2003) wirft, wie bereits „Der Report der Magd“, einen warnenden Blick in die Zukunft. Der Roman ist der erste Teil der sogenannten MaddAddam Trilogie.

„Oryx und Crake“ spielt in einer gespaltenen Welt: Ein kleiner Teil der Menschheit lebt in streng abgeriegelten, privilegierten Zonen, den „Komplexen“, während die Massen im umliegenden „Plebsland“ hausen, das charakterisiert ist durch Klimakatastrophen, Gewalt und Krankheit. Nach einer globalen apokalyptischen Seuchen-Katastrophe sitzt Jimmy auf einem Baum inmitten eines verseuchten Ödlands. Er wird jetzt „Schneemensch“ genannt, weil er in der sengenden Hitze fast verglüht und große Mühe hat, in dieser überaus unwirtlichen Welt zu überleben. Alternierend erzählt er im Rückblick von seiner Kindheit und Jugend in den „Komplexen“ und von seinem täglichen Überlebenskampf nach der Katastrophe, die beinah die gesamte Menschheit ausrottete. Jimmy ist privilegiert aufgewachsen. Während sein Vater sich als Gentechnologe an das herrschende System in einem Komplex anpasst, flieht seine Mutter mit ihrem neuen Geliebten Zeb ins Plebsland. Jimmy leidet sehr unter dem Verlust der Mutter. Als er nach Jahren Crake, seinem besten Freund aus Schultagen, wieder begegnet, schließt er sich diesem an und verliebt sich in Oryx, eine Frau aus Ostasien, die Crakes Geliebte ist. Der hochbegabte Crake, der es beruflich bis an die Spitze eines Gentech-Unternehmens geschafft hat, braucht Oryx und Jimmy für seine Arbeit, die Züchtung einer neuen, humanoiden Spezies. Crake ist besessen von der Vision einer neuen Gesellschaft, in der das Leben für alle gut ist. Dies sieht er durch die neue humanoide Spezies garantiert, den sogenannten „Craker“, männliche und weibliche Wesen frei von Aggression, Gewalt und Krankheit. Parallel zur Kreation dieser neuen Spezies entwickelt die Crake einen für Menschen hochinfektiösen tödlichen Virus, den er gezielt streut. Das bald eintretende Massensterben überleben, so scheint es bis zum Schluss, nur Jimmy und die Craker.

Obwohl der Roman mit der Beinah-Ausrottung der Menschheit endet, gibt es diverse Hoffnungsschimmer. Erstens scheinen doch noch weitere Menschen überlebt zu haben (s. auch die beiden Folgeromane der Trilogie). Zweitens sind die Gentech-Laborgeschöpfe mit interessanten Fähigkeiten ausgestattet – sie können z. B. träumen, singen und Symbole erschaffen. Damit existieren weiterhin Voraussetzungen für eine von ihrem Schöpfer Crake eigentlich verdammte Ausdrucksform, die Kunst. Neben aller Beklemmung, die dieser post-apokalyptische Roman auslöst, überzeugt er unter anderem durch ein gekonntes Spiel mit den Mitteln der Satire. So wird die Spannung immer wieder gebrochen, bevor sie angesichts von gentechnologischen Entwicklungen, die heute bereits greifbar nahe sind, wieder unerträglich zu werden scheint.

Mit „Die Penelopiade“ (2005) wendet sich Atwood deutlich einer bei ihr auch verdeckter vorkommenden Schreibweise zu, nämlich der Neukonzipierung traditioneller Mythen. Oft dient ihr diese Methode dazu, herkömmliche Geschlechterrollen und insbesondere die Diskriminierung von Frauen zu dekonstruieren. So suchte sie sich zwecks Umschreibung den „Mythos von Penelope und Odysseus“ (so der Untertitel ihres Buches) aus, wie er vor knapp 3000 Jahren in der „Odyssee“, Homers zweitem Epos, verewigt wurde.

 

Die „Odyssee“ schildert die abenteuerliche, zehn Jahre dauernde Rückreise des Helden Odysseus in sein Königreich auf der griechischen Insel Ithaka, nachdem er mit einer List („Trojanisches Pferd“) das Ende des zehnjährigen Trojanischen Krieges eingeleitet hatte. Zu Hause wartet auf ihn seine ihm treu ergebene Ehefrau Penelope, die sich ihrerseits nur mit List ihrer vielen Freier erwehren kann, die über eine Heirat mit ihr auf das Königreich aus sind. Als Odysseus schließlich heimkehrt, tötet er die hundert Freier und befiehlt die Ermordung von Penelopes zwölf Lieblingsmägden. Atwood übernimmt diese Grundzüge der Handlung, aber setzt völlig andere Akzente. Anstatt sich auf die Abenteuer und das Heldentum des Odysseus zu konzentrieren, gibt sie Penelope eine Stimme und schildert aus deren Perspektive ihr häusliches Leben auf Ithaka sowie die ihr aus ihrer dortigen isolierten Position zugänglichen, widersprüchlichen Berichte über den abwesenden Odysseus. Penelopes Erzählung wird elfmal unterbrochen durch in verschiedene Darbietungsformen gefasste Stellungnahmen der zwölf getöteten Mägde, die – wie Penelope praktisch ohne Stimme in Homers Epos – nach ihrem Tod aus der Unterwelt heraus in Atwoods Text endlich ihre Sicht der Dinge darlegen können.

Aus diesem indirekten Dialog zwischen Penelope und ihren Mägden, welche der Selbstdarstellung ihrer Königin widersprechen und im Buch das letzte Wort haben, entsteht ein schillerndes Porträt Penelopes, die als unzuverlässige Erzählerin und ähnlich listig und untreu wie ihr Mann erscheint. Die in Atwoods Version mangelnde Ehrfurcht Penelopes Odysseus wie auch der Mägde ihrer Herrin gegenüber wird durch einen umgangssprachlichen, teilweise komisch-flapsigen Sprachstil der Erzählerin und der vortragenden Mägde unterstrichen, der von dem gehobenen Stil des Homer’schen Epos weit entfernt ist. Überhaupt stellt Atwood mit dieser humorvollen Neuschreibung eines patriarchalischen Originals die jahrhundertelang perpetuierte Autorität antiker Mythen infrage. Dabei hebt sie speziell auf geschlechterbezogene Themen und Motive des Originaltextes ab, wie den sexuellen Doppelstandard, der Männern Freiheiten gewährt und Frauen Restriktionen auferlegt; körperliche Gewalt durch Männer gegenüber Frauen und Männern; finanzielle und damit auch emotionale Abhängigkeit der Frau vom Mann; weibliche und männliche Archetypen, wie die treue Ehefrau und weibliche Schönheit gegenüber dem heroischen Abenteurer und unbekümmerten Schürzenjäger. Durch die weibliche Erzählperspektive werden herkömmliche Koordinaten verschoben. So erscheinen weibliche Charaktere auch als aktiv Handelnde anstatt vornehmlich reaktiv, und sie dienen nicht mehr als Spiegel, in dem Männer doppelt so groß erscheinen als sie sind. Odysseus wird vom Sockel gestoßen, aber diese realistisch-kritische Sichtweise erstreckt sich ebenfalls auf die weiblichen Charaktere. Auch in diesem mythologisch unterlegten Text erweitert Atwood die herkömmliche geschlechterbezogene Machtpolitik durch Rivalität von Frauen untereinander und baut unter anderem den Wettbewerb zwischen „der treuen Penelope“ und „der schönen Helena“ auf humorvoll-komische und gleichzeitig tiefsinnige Weise aus.

„Das Jahr der Flut“ (2009) ist der zweite Roman der MaddAddam Trilogie, wobei aber jeder der drei Romane auch für sich stehen kann. „Das Jahr der Flut“ behandelt die gleiche Zeitspanne wie „Oryx und Crake“, jedoch aus anderen Erzählperspektiven. Während sich der erste Roman, aus männlicher Erzählperspektive, auf die Industriekomplexe und ihre wissenschaftlichen und ökonomischen Eliten konzentriert, fokussiert der Folgeroman auf das „Plebsland“, seine unterschiedlichen Bewohner und wie einige davon die globale Pandemie erleben und überleben.

Die Ereignisse werden aus der Perspektive zweier Frauen, Toby und Ren, geschildert. Toby arbeitet zunächst bei der zweifelhaften Fast-Food-Kette GeheimBurger im Osten der USA, wo sie zwangsweise die Sexsklavin des psychopathischen Filialleiters Blanco wird. Gerettet wird sie von den „Gottesgärtnern“, einer christlich und ökologisch inspirierten Gemeinschaft – mit vielen aus den Komplexen desertierten Wissenschaftler*innen –, die, streng vegetarisch, die Wertschätzung von Gottes Schöpfung lebt. Einer der diversen Spannungsbögen ist, dass Blanco sich an Toby rächen will und sie verfolgt, bis sie ihn schließlich ausschalten kann. Ren entstammt einer Familie aus dem privilegierten HelthWyzer-Komplex, wechselt aber durch das Durchbrennen ihrer Mutter mit dem undurchsichtigen Zeb die Seiten, indem sich alle drei den Gottesgärtnern anschließen. Nach ihrem Aufenthalt unter den Gärtnern, bei dem Ren auch Toby und Amanda kennenlernt, will sie aufgrund ihres anhaltenden Liebeskummers wegen Jimmy lieber eine Trapeztänzerin und Edelnutte in einem exklusiven Sex-Club sein. Dort fügen sich die Ereignisse so, dass Ren schließlich, von ihm unerkannt, Jimmy sexuell bearbeitet. Auf dem Höhepunkt der Pandemie halten sich Toby, Ren und einige andere in jeweils isolierten Räumen auf, sodass sie überleben. Am Romanende werden die diversen Handlungsstränge zusammengeführt, indem Toby und Ren deren beste Freundin Amanda aus der Gewalt zweier Kumpels von Blanco, den sogenannten Painballers, befreien und dabei auch wieder auf Jimmy, den ungewollten „Propheten“ der Craker, treffen.

Die ereignisreiche Handlung, obwohl teilweise etwas konstruiert erscheinend, beeindruckt durch Imaginationsreichtum und gekonnten Spannungsaufbau sowie ihre Komplexität und Passgenauigkeit über zwei (und später drei) Romane hinweg. Denn wiederholt werden hier auch Hauptcharaktere des ersten Romans in die Handlung eingebunden, neben Jimmy/Schneemensch und den Crakern auch Glenn/Crake, Oryx und die „MaddAddamiten“, eine oppositionelle Gruppe, die das brutale Regime der ausschließlich auf wirtschaftlichen Profit abzielenden Konzerne sowie deren Privat-Security CorpSeCorps herausfordert. Eher pazifistisch scheinen dies die Gottesgärtner zu tun, mit ihrem Anführer Adam Eins, von dem zu Beginn jedes neuen Romankapitels eine Ansprache an seine Gefolgschaft sowie ein Lied „aus dem Gesangbuch der Gottesgärtner“ eingestreut werden, sodass sich insgesamt drei Darstellungsperspektiven ergeben. Atwood springt nicht nur gezielt zwischen diesen Perspektiven, sondern auch zwischen erzählerischer Gegenwart und Vergangenheit hin und her, dem Katastrophenjahr 25 der neuen Gärtner-Zeitrechnung und bis zu 20 Jahre davor, sodass das Nachvollziehen der Handlung eine Lektüre-Herausforderung darstellt. Eine weitere Herausforderung sind Abschnitte drastischer körperlicher und psychischer Gewalt sowie Tabubrüche wie etwa Kannibalismus, die die Brutalität einer weitgehend inhumanen, zerrissenen Gesellschaft augenfällig machen. Dem setzt Atwood in ihrem auch stilistisch großartigen Roman Szenen von leuchtender Menschlichkeit entgegen. Die dargestellte Fürsorglichkeit, Aufopferungsbereitschaft und Liebe für Menschen wie Umwelt vermitteln, trotz düsterem gesellschaftlichem und umweltbezogenem Kontext, zahlreiche Lichtblicke, ja Hoffnung. Allerdings zeigt die Romanhandlung auch auf, dass die Katastrophe der „wasserlosen Flut“, das von einem hochbegabten Wissenschaftler genmanipulierend gezüchtete und gezielt verbreitete Virus, nur Menschen ausrottet, nicht aber die ursächlich vom Menschen bedrohte Tierwelt und Natur.