KINDERGEFÄNGNIS und andere verlassene Orte

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Ein Befehl unterbricht meine kreative Pause. Wir schnüren unser Gepäck und reihen uns auf. Es ist später Nachmittag, als wir die Straße zurückmarschieren. Ich suche in der Truppe nach Sam und entdecke ihn ganz vorne. Ich frage mich, was er sich ausgesucht hat? Ich habe die Frage kaum zu Ende gedacht, als die schwere Luft einen merkwürdigen Ton über unsere Köpfe hinweg trägt. Ein Klang, der mir die Nackenhaare aufstellt. Es ist eine Melodie, die ich kenne, die wir alle kennen und die plötzlich so starke Gefühle in mir auslöst. Erinnerungen, Wünsche und Träume vermengen sich und sprudeln nach oben. Und als der erste Kamerad den Refrain anstimmt, über grüne Wälder, von rauschenden Bächen und saftigen Bergwiesen, singe ich mit, zuerst leise, dann immer lauter, so wie meine Brüder neben mir. Ich empfinde eine nicht gekannte Verbundenheit. Ich weiß, dass ich Angst hatte, dies niemals zu erleben. Schreie und Kommandos gehen unter, als wir lauthals singen, vom geliebten Heimatland. Die schwere Last fällt zu Boden und wir marschieren weiter. Warnschüsse sind unter unserem Gesang kaum zu hören. Denn die stille Fassade ist gebrochen und mit den Worten von Bruderschaft fallen die ersten Kameraden neben mir wie Steine meiner Dominokette.

Mein Blick schweift ein letztes Mal zurück zum Haus. Längst hat dieser Ort seine spielerische, musikalische und befreiende Geschichte preisgegeben.

Gewobener Wind | Gudrun Breyer

Der Wind krallt sich an die rote Backsteinfassade und zieht ihr Gesicht in den trüben Bleiglasfenstern nach. Es hat sich da oben im Damensalon eingebrannt vom langen Schauen. In der Stadt hat man sie längst vergessen, sie und alle, die mit und nach ihr kamen. Ihr Mann ließ seine Initialen in Stein meißeln und in Holz schlagen. Die Zeit nascht daran. Sie frisst sich träge dem Herz der Dinge entgegen, wohlwissend, dass niemand sie überholen kann. Sie selbst war eine Hülle für alle Rollen, die sie einnahm. Auf der Straße eilten sie ihr voraus: Ehefrau, Mutter, Herrin, Gastgeberin, Kundin, Vorsitzende da und Obfrau dort. Man wollte sie und ihren Namen für sich haben, sie, die Dame aus der herrschaftlichen Villa, die Frau des gnädigen Herrn K. Ja, genau dieses Herrn K. Mit dem wunderbaren Garten und der imposanten, getäfelten Halle. Alle in der Stadt wussten Details vom Inneren des Hauses aufzuzählen, selbst die, die niemals einen Fuß hineingesetzt hatten. Die Bäckersfrau berichtete der Milchfrau von den farbigen Volutensäulen im Souterrain. Voluten, wahrhaftig. Und viele andere reiche Verzierungen. Reich, dachte die Milchfrau, reich wollte sie nicht sein. Nicht so wie die gnädige Frau, die von einer wohltätigen Veranstaltung zur nächsten hetzte. Die sich ständig Gäste einlud, damit das große Haus nicht gar so leer stand.

Der Wind rüttelt an dem Bleiglas. »Sachte«, murmeln Buchen und Ahorn und drehen ihm neckisch ihre flatternden Blätter entgegen.

Der Wind legt sich auf das Fensterbrett und starrt in das kahle Treppenhaus. Schaut Gegenstände von einst, die nicht mehr da: den burgunderroten Läufer über den breiten Stufen, die seidenen Perserteppiche in der Halle, den schweren Schreibtisch mit den Löwenprankenbeinen und den lederbezogenen Stuhl, in dessen Lehne das Familienwappen der K.s geprägt war. Die elektrischen Lüster und Lampen, die Gemälde und die Bücher in den Regalen. Umhang und Ausgehrock in der Ankleide, dazu die polierten Schuhe und Stiefel. Viel mehr war da noch, aber er hat nichts davon behalten. Immer nur nach ihr Ausschau gehalten. Sie allein füllte das Haus für ihn. Sie fehlt schon lange, die schlanke, lächelnde Frau, fehlt ihm.

Er fährt ihr Gesicht mit seinem Atem auf der Scheibe nach. Die rechte Wange schmiegte sie an das Glas, wenn sie da lehnte und hinunter in den Garten sah, auf die zarten Bäumchen, die er beugte und rupfte. Besorgt runzelte sie die Stirn und wandte sich erleichtert ab, wenn er von ihnen ließ. Er stellte sich oft ihr gealtertes Gesicht vor, wie es wohl sein würde. Ob die Freude sich in ihre Haut graben würde, ihr leichtfüßiges Lachen, das manchmal aus einem geöffneten Fenster zu ihm hinauskullerte, oder Schmerz und Furcht. Da war etwas, das sie vor ihm verbarg, vor ihm und vor allen. Etwas, das so dunkel war wie die Vertäfelungen, die Eichenböden und Decken, das Treppenhaus mit seinen geschnitzten Ornamenten und gedrechselten Streben. Sie hielt es fest unter ihrem Busen. Erstickte es, wie sie ein Schaudern an einem kalten Tag mit ihrem wollenen, eng um den Oberkörper geschlungenen Umhang erstickte.

Der Wind kam durch jede Ritze. Er drängte sich in ihr Leben, unbemerkt, auf seine eigene Art. Aber sie nahm ihn wahr. Sie sprachen nie darüber, sie und der Wind. Davon, dass sie wusste, dass er nach ihr Ausschau hielt. Davon, dass er ihren Schmerz sah. Er strich ihr über die nackte Haut, wenn sie abends aus ihren Kleider stieg, und sie legte die rechte Hand in den Nacken und fuhr sich mit den gespreizten Fingern durch das Haar, zog die rotbraunen Locken vom Haaransatz am Hinterkopf bis zu den Spitzen gerade. Eine langsame, abgehackte Bewegung.

»Wie war dein Tag?«, fragte sie dabei und drehte sich ihrem Mann zu, der bereits im Bett saß, ein Brokatkissen zwischen Betthaupt und Rücken geschoben. Mit Bleistift und einem Buch oder einem Stapel Papieren. Abrechnungen. Angebote. Selbst die Bibel las er so. Prüfend, Anmerkungen notierend.

»Gut«, säuselte der Wind. »Gut war mein Tag.« Und sie lächelte, lächelte ihrem Mann zu, der die Halbbrille absetzte, Bleistift und Papier auf das Nachtkästchen legte und von seinem Tagwerk zu berichten begann. Von den bahnbrechenden Erfindungen, vor denen die Fabrik der Familie stand, Entdeckungen, die die Welt verändern würden. Neue Substanzen mit weitreichenden Folgen.

Bedächtig berührte sie den Lichtschalter, wie etwas Heiliges, dem man nicht zu lange zu nahe kommen soll. Etwas, das es aus sicherer Entfernung zu bestaunen und zu achten gilt. Etwas, das bleibt, lange, nachdem man sich davon abgewandt hat.

Mit einem scharfen Klick drehte sie das Licht ab und seine Erzählung. Eine rasche Bewegung: hell – dunkel, sehend – blind. Während sich ihre Augen an die Finsternis gewöhnten, drückte die Erinnerung des Schalterzäpfchens in ihre Aufmerksamkeit. Sie glaubte, den Strom fließen zu hören, ein dürres Zirpen die Wände hinab in den Keller, wo die Akkumulatoren standen. Sie glaubte, das Züngeln des erloschenen Lichts bis tief in die Nacht hinein in den Ecken des Raums rumoren zu hören. Sie träumte von den Stoffen, denen ihr Mann auf der Spur war. Sie krochen durch die Eingangstüre die Halle entlang, die Treppen hoch und quollen in das Schlafzimmer, trugen ihr Bett durch die berstenden Fenster hinaus in eine brodelnde See. Säurewellen schlugen über ihr zusammen, leckten im Haus die Tapeten von der Wand und sprengten zuerst Verkleidungen, dann Mauern. Selbst schlafend ahnte sie ihr zerstörerisches Potenzial.

Den Kindern war das Ein- und Ausschalten des Lichts untersagt. Sie hatte sie einmal dabei erwischt, wie sie an einem regnerischen Herbsttag von Zimmer zu Zimmer geeilt waren und jeden einzelnen Schalter betätigt hatten. Wie sie dafür Stühle von Raum zu Raum geschoben hatten, ein garstiges Schleifen über die guten, gerade frisch eingelassenen Holzböden. Wie sie strahlend dagestanden und mit den Kohlefadenlampen um die Wette geleuchtet hatten. Diese unbändige Freude in ihren Augen. Sie hatte das Licht in den Zimmern, aber nicht das in ihren Gesichtern gedämpft. Sogar im Weinkeller waren sie gewesen, hatten die Villa in eine leuchtende Fackel verwandelt. Das einzige Haus mit elektrischem Licht in der Stadt, und so gingen die Herrschaften damit um.

Ihr Mann hatte sie gescholten. Dass sie doch besser aufpassen sollte. Die Kinder so lang unbeaufsichtigt zu lassen. Die Glühbirnen, die Elektrizität, spielten keine Rolle. Davon hatten sie genug, hatten genug von allem. Aber die Kinder. Und er tätschelte ihr rügend die Wange. Sie fühlte das Feuer in ihrem Gesicht und tief in sich drin. Genug.

»Mehr als genug. Wann wird Mehr-als-genug zu Zuviel?«, fragte sie sich und trat ins Billardzimmer, um den Gesprächen nachzuspüren, die die Herren dort abends führten. Es würde Krieg geben, hatten sie verkündet. In den nächsten Jahren schon. Krieg. Genug. Mehr als genug.

»Ein Krieg, was würde der ändern?«, fragte sie sich. Sie war sicher hinter den Backsteinmauern und Holzvertäfelungen. Der Krieg würde vor dem gusseisernen Zaun haltmachen. Sie würde sich in eine Wandnische zurückziehen, mit einem Buch. Lyrik musste es sein oder etwas Melodramatisches, Herzerweichendes, etwas von den Brontë-Schwestern vielleicht oder von diesem neuen Rilke.

»Sorge dich nicht«, sagte ihr Mann, sagte es wie einen Befehl.

»Uns kann nichts geschehen. Wir haben genug, mehr als genug.« Sagte er und spielte ihr seine Worte zu. Sie nahm sie auf. Sie brachen in ihr auseinander. Waren nicht gemacht, um zu halten, auszuhalten, was den kommenden Jahren bestimmt war, was die Menschen einander bereithielten.

Der Wind sah und heulte. Scharf schnitt er über Dachfirste und Mauerkanten, klimperte über die Regenrinnen. Er roch den Krieg, das Leid. Er sah ihr Licht. Für ihn leuchtete jedes Haus, in dem sie ein- und ausging. Sie war sein Stern. Sie leuchtete von innen heraus. Leuchtete, wenn sie mit den Kindern im Garten spielte. Mit ihnen reimte und Melodien summte, während sie Blumen pflückten für die Vasen im Damensalon und im Herrenzimmer, für die dunklen Kommoden und Anrichten. Bunte Farbkleckse vor den strengen geometrischen Mustern. Wenn der Vater zu ihnen stieß, wechselten sie das Spiel. Statt Silben und Blumennamen warfen sie einander Zahlen und Summen zu.

Der Wind beobachtete, wie sie die Treppen hochstieg und dabei mit der linken Hand über die Kästen der Holzvertäfelung fuhr. Einförmig sahen sie aus und so verhielten sie sich unter ihrer Hand. Furche, Rille, glatt, Rille, Furche, Furche, Rille, glatt. Sie drehte sich der Wand zu, legte beide Hände auf eine Holzkassette, schloss die Augen und atmete tief ein. Der Wind lehnte sich in ihre Seite und spürte mit ihr die Stiegen unter ihren Füßen, den kühlen Lufthauch, der ständig – der soliden Bauweise zum Trotz – durch die Halle strich. Essensgeruch breitete sich aus, die Köchin kommandierte die Mädchen in der Küche herum. Die Gärtner holten mit Leitern die Lampions aus den Bäumen und Hecken, die in der Nacht zuvor den Park in eine Zauberlandschaft verwandelt und die Gäste entzückt hatten. Noch einmal hörten Wind und Frau das Klirren der Gläser, das Klappern des Bestecks und der Absätze der Damen, das Rauschen der Abendroben. Noch einmal nahmen sie die fremdländischen Düfte wahr, die die Besucher begleitet hatten, käuten ihre spannenden, ihre langweiligen, ihre absurden Ansichten wieder. Die Frau legte sich erneut passende Antworten zurecht. Ihre Lippen bebten, kosteten bereits die vorgefertigten Worte, als ihr bewusst wurde, dass sie nicht im Garten unter Fremden stand, sondern in der Halle, mit den Händen an der Wandvertäfelung. Das Holz ausdruckslos, regte nichts in ihr. Irgendwann war es ein Baum gewesen, aber es hatte die Erinnerung daran längst aufgegeben.

 

»Was war ich einmal?«, fragte sie sich und den Wind.

Der Wind schwieg und liebkoste ihren Nacken.

Es ist genug.

»Was ist Ihnen, gnä’ Frau?«, hörte sie das Mädchen hinter sich. Ella oder Elsa. Die Namen wollten nicht haften. Zu rasch wechselten sie. Heirateten, kehrten heim, um die Eltern zu pflegen, wurden fortgeschickt, weil sie nicht entsprochen hatten.

»Elsa, nicht wahr?«, sagte sie und wandte sich lächelnd dem Mädchen zu. »Schön habt ihr den Tisch gestern gedeckt. Die Gäste waren begeistert.«

Die Gäste waren immer begeistert. Sie schlüpften begierig unter den Wohlstandsmantel ihres Mannes und dinierten in dessen Villa. In der Villa. Jeder wollte eingeladen werden, das elektrische Licht und die Warmwasseraufbereitungsanlage bewundern, durch den zweigeschossigen Weinkeller geführt werden und die Familiengeschichte des Herrn K. hören. Ein fähiger, ein erfolgreicher Mann. Ein wirklich sympathisches Paar, die K.s. Sie stand an seiner Seite, dirigierte die Mädchen mit Blicken, sorgte dafür, dass alles korrekt ablief, die Kinder artig waren, das Essen warm serviert wurde und die Getränke kühl, die Damen sich behaglich fühlten und die Herren sich gepflegt unterhielten.

Sie wusste, wann sie einem Besucher ins Wort fallen musste, um Malheurs zu vermeiden, und wann es galt, ihn zum Reden zu animieren. Ihre Gäste waren wie bunte Fäden, aus denen sie ein Muster wob. Am Ende des Abends war sie meist damit zufrieden. Manchmal wollte sie eine Reihe auftrennen oder zwei, manchmal den ganzen Flicken zerschneiden.

Als sie ihrem Mann davon erzählte, schmunzelte er. »Das ganze Leben ist ein einziges Flickwerk, aber das Gute darin ist, dass du es bist, die am Webstuhl sitzt. Du führst das Schiffchen. Du legst die Kettfäden ein, du waltest über den Rahmen.«

Dass er ihr sagte, dass sie ihr Leben führte, selbst führte. In dem engen Kästchen, das er für sie bereithielt, in seiner symmetrischen Villa. Sie suchte in seinen Augen nach einem Funken Ironie, aber er hatte sich bereits seinen Aufzeichnungen zugewandt.

Der Wind schleift über den Boden. Offen und wund liegt er da, staubverkrustet. Faustgroße Staubbälle liegen in den Ecken. Da, wo einst Perserteppiche auf Parkettböden ruhten, wo die Gäste die Intarsien bestaunten, klaffen nun rohe Bretter, Stroh, darunter Stein. Als sie noch da war, wurde die Halle ständig ein- und ausgeräumt, wurde Platz gemacht zum Tanzen oder Dinieren, wurde der Klavierflügel unter den Lüster gerückt, damit sein Spiel zur Geltung kam, das Grammofon in Szene gesetzt, Tische, Stühle geholt oder fortgebracht.

Der Wind erinnert sich an die fliegenden Röcke, die zierlichen Füße der Damen in den engen Schuhen, die aufgesteckten, edelsteinbesetzten Frisuren, an die silbernen und goldenen Broschen, die langreihigen Ketten. Er sieht die Herren steif vor dem Flügel sitzen und das Programmheft studieren, ihre Begleiterinnen verlegen Fächer oder Fuß im Takt bewegen und sich nach etwas beugen oder strecken, sobald sie Blicke auf sich spüren. Die Kinder stecken tuschelnd die Köpfe zusammen oder summen leise mit. Die alte Gräfin von Schmitz sitzt mittig in der ersten Reihe und schläft bereits zu Beginn des zweiten Musikstücks. Sie gibt den Werken mit ihrem rhythmischen Ein- und Ausatmen eine eigene Tiefe.

Gegenstände verschwanden aus der Halle in den Keller, andere wurden von dort nach oben transportiert. Die Bediensteten schnauften, die Herrin eilte zwischen ihnen umher, trieb an, ließ umstellen, zeterte und lobte. Als sie aber das dreieckige Ding aus dem Keller in den ersten Stock bringen ließ, blieb sie stumm. Presste fest die Lippen zusammen, als könne sie den Gegenstand damit vor dem Fall bewahren. Sobald die Burschen ihn in der Galerie vor die Fenster gerückt hatten, scheuchte sie sie fort. Lange lehnte sie an der Brüstung und rührte sich nicht, starrte auf das unförmige Etwas. Der Wind lugte darunter, wurde aber nicht schlau. Da gab sie sich einen Ruck und zog an einem Zipfel des blaugrauen Leinenstoffes, der den Gegenstand im Keller all die Jahre geschützt und verdeckt hatte. Staub wirbelte hoch, glitzerte im Sonnenlicht und sie nieste. Von überall im Haus ertönte »Gesundheit«, »Gesundheit, gnä’ Frau«. Sie faltete das Tuch zusammen und legte es über den Handlauf der Treppe, bevor sie das Ding zu umkreisen begann, das da vor ihr stand und funkelte. Tap-tap, tap-tap, ging sie darum herum, griff zaghaft danach, so, als könne es unter ihren Händen zerfallen. Sich verflüchtigen wie eine Seifenblase. Und erst als sie sich davon überzeugt hatte, dass ihre Berührung keinen Schaden anrichtete, legte sie die Hand auf den kunstvoll verzierten Kopf, strich die vergoldete Säule hinab und den Hals entlang. Wie in Trance griff die andere Hand nach einer Saite und schlug sie an. Der Ton breitete sich langsam aus und schwoll in einem überraschten Murmeln aus den Nebenräumen an.

»Sie spielt«, raunte die Köchin dem Mädchen zu. »Gleich spielt sie und wird damit nicht mehr aufhören.«

»Untersagt hat er es ihr«, flüsterte der Gärtner seinem Gehilfen zu, »als sie ihn heiratete, aber weggeben konnte er es nicht. Das hat er jetzt davon.«

»Nicht neben sich dulden, nein, das konnte er einfach nicht, so wie sie versessen darauf war«, erzählte die Magd dem Kutscher.

»Alles vergaß sie, alles. Als gäb’ es keine Zeit mehr für sie.«

Sie trat an die Fenster und öffnete sie nacheinander. Wirbelte und kreiste mit den Armen, scheuchte den Staub fort und den Stillstand, der von dem Haus Besitz ergriffen hatte. Sie rief nach dem Mädchen, Elsa, und wies es an, ihr weiche Tücher zu bringen, ein feuchtes und ein trockenes.

Sie pflegte die Harfe wie einen Verwundeten, überprüfte Stimmwirbel und Pedale, bevor sie sich auf einen Hocker setzte, das Instrument vorsichtig zu sich neigte wie einen Geliebten und mit Schulter und Knie stützte. Sacht legte sie die rechte Hand auf den Korpus und begann mit der linken die Saiten zu zupfen. Die letzten Sonnenstrahlen tasteten verloren durch die Galerie und wunderten sich, wo die Frau anfing und das Instrument aufhörte. Die beiden schienen zu einem verschmolzen und gaben eine Weise von sich, die bisher fremd in Haus und Garten gewesen war. Dazwischen schwebte eine flüchtige Melodie, die sprach von Sehnsucht und Erfüllung ohne Ton und Wort, von Verboten und Zwängen und von Erlösung.

Der Wind versuchte, zu verstehen. Er sah, dass sie auf ihren Spuren wandelte.

Was ihr einfalle, ihr Versprechen zu brechen, fragte ihr Mann. Sein Vertrauen in sie zu missbrauchen. Seine Stimme war so flach wie der abnehmende Mond. Er sprach von Entlassungen in diesem Tonfall, von Begebenheiten in der Stadt oder der Welt, die ihn nicht betrafen. Davon, dass Roosevelt zum Präsidenten gewählt worden war, die Engländer in Südafrika gegen die Buren kämpften und die erste Autostraße der Welt eröffnet worden war, irgendwo in Madagaskar.

Sie lächelte und begann erneut zu spielen.

Ob er Angst vor etwas Holz und Metall hätte, er, der daran arbeitete, neue Stoffe zu gewinnen? Revolutionäre Stoffe und Technologien, die alles verändern würden. So wie Becquerel, Röntgen und Diesel.

»Die alte Welt«, sagte sie und hielt inne, »bricht aus den Fugen. Alles wird neu und anders. Eine Erfindung löst die nächste ab. Nichts bleibt bestehen. Du sagst, es wird genug da sein für uns. Und glaubst, was du sagst. Sie sagen, es wird Krieg geben, nicht heute oder morgen, aber gewiss Krieg. Ich will dir glauben, ich will bleiben, wenn alles zerfällt. Auf dein Heim schauen. Es mit Liebe füllen und mit Leben. Und ab und an will ich hier sitzen. Hier, nicht mehr auf der Bühne wie früher. Einfach nur hier für mich und dich – und etwas Wind weben.«

Der Wind versucht sich an einem kräftigen Wirbel. Das Treppengeländer der Galerie ächzt Applaus und der Stuckengel im Obergeschoss kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen und verliert dabei etwas Blattgold.

Das waren Zeiten gewesen, als er neben ihr an der Harfe gesessen hatte. Nun ist sie fort und alles mit ihr. Nichts war geblieben. So, wie sie es vorhergesehen hatte. Nichts erinnert an sie. Freilich, da ist die fehlende Sprosse. Eines der Kinder hatte sie abgebrochen, während sie ein neues Lied komponiert hatte. Sie war nicht ersetzt worden. Es hatte ihr nichts daran gelegen. Mit dem Aufstellen der Harfe hatte sie den Haushalt in die Hände des Gesindes gelegt. Hatte von da an wenig vorgegeben und kaum etwas beanstandet. Dem Wind war bald aufgefallen, dass Möbel und Haus seit dem Zeitpunkt weniger geglänzt hatten, sie dafür umso mehr. Es war ihr nicht auf diese Sprosse angekommen. Und ihr Mann hatte von einer Reparatur ebenfalls Abstand genommen. Die fehlende Sprosse war für ihn ein Mahnmal geworden, Ausdruck für ihre Nachlässigkeit. Manchmal hatte sie ihn dabei ertappt, wie sein Blick zur Sprosse geglitten war und er die Stirn gerunzelt hatte, aber erwähnt hatte er sie nie.

Der Wind zwirbelt die Balustrade entlang, rauscht durch Zimmer und klappert mit den zweiflügeligen Türen. Er zerrt an den vergoldeten Stofftapeten, bläst über ihr florales Muster und setzt sich schließlich auf die Schulter des Puttos.

»Sie ist noch immer da«, stellt er fest.

Der Engel nickt vorsichtig. Mehr Gold will er nicht verlieren. Er fühlt sich schon ganz blank und unansehnlich. Beide schauen sie auf eine Bodendiele, auf der ein Stück Sonne liegt und das Holz wärmt. Es knarrt und atmet, jetzt, aber auch nachts und ab und an. Dort saß sie mit ihrer Harfe, mit ihrer Melodie. Damals lautlos, hallt sie noch immer nach. Wirbelt ihr gewobener Wind durch leere Räume.

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