KINDERGEFÄNGNIS und andere verlassene Orte

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Und da war das Haus von gestern. Nummer 978 auf ihrer Liste, weiß, Doppelglasfenster, Mistbeet im Garten, Briefkasten außen am Zaun, erbaut 1948 von einem Franz und einer Helga Reitlbauer, hundertzwei Quadratmeter. Helga, damals bereits achtunddreißig und seit 1939 verwitwet, hatte im Vorjahr den fünfunddreißigjährigen Kriegsheimkehrer Franz geheiratet. Als gelernte Fleischereigehilfin fand sie in den kargen Nachkriegstagen nicht sofort eine Anstellung, wohingegen Franz, HTL-Absolvent und gelernter Zeichner, laut Mikrofilmen, die Minnie in der Bibliothek aufstöberte, beim Wiederaufbau tatkräftig mithalf und wohl die eine oder andere Ladung Baumaterial für sich abzweigen konnte. Die Ehe blieb bis 1950 kinderlos, dann, plötzlich, kamen nacheinander Josefine (1951), Franziska (1952) und Florian (1954) zur Welt. Franz, der über seine Kriegsvergangenheit nicht reden mochte, trank immer mehr, die Jahre 1955 bis 1961 zeigten häufiger werdende Aufenthalte in der Ausnüchterungszelle. Im Frühjahr 1961 verließ er, bereits deutlich angetrunken, das Wirtshaus, in dem er zu Mittag gegessen hatte, und geriet frontal vor einen Pkw, der zwar geistesgegenwärtig schnell, wie die Polizei gegenüber der Zeitung betonte, angehalten wurde, jedoch trotzdem nicht schnell genug, um ein Schädel-Hirn-Trauma bei Franz zu verhindern. Er wurde als Pflegefall in eine Anstalt eingewiesen, wo er 1968 starb. Helga, nunmehr zum zweiten Mal verwitwet, nahm eine Stelle als Wurstverkäuferin an, was gemeinsam mit der Witwen- und Waisenrente für sie und die Kinder reichte. Franziska begann eine Ausbildung als Hebamme, Josefine als Krankenschwester, beide kamen im Bezirkskrankenhaus unter. Florian verließ die Schule, sobald es ging, heiratete keine vier Jahre später eine Tschechin namens Adela, schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch, wurde ein Jahr später wieder geschieden. Als Helga 1986 starb, setzte sie ihre Töchter als ausschließliche Erbinnen ein, die wiederum ihren Bruder das Wohnrecht einräumten, bis dieser Anfang der Neunzigerjahre das Land verließ. Seitdem stand das Haus leer.

Als sie das Haus betrat, spürte Minnie ihre Anspannung, die sich über ihre Brust bis tief in die Achselhöhlen zog. Zu ungeduldig, um abzuwarten, bis ihre Augen sich an die Dämmerung gewöhnt hatten, machte sie ein paar tastende Schritte, stieß gegen etwas, stolperte. Odette griff nach ihrem haltlos tastenden Arm, hielt sie fest. »Na, was meinst du? Warte, komm lieber in das Zimmer hier. Ich wollte nichts unternehmen, bevor du es nicht gesehen hast.« Als Minnie sich daraufhin hin und her drehte, vorsichtig ein paar Schritte in die eine, ein paar Schritte in die andere Richtung machte, schüttelte Odette den Kopf. Sie holte ihr Smartphone hervor und leuchtete damit auf die Bodenleiste. »Hier, schau.« Minnie trat näher, kniete sich auf das klebrige Linoleum und schaute auf den blasshellen Flecken synthetischen Lichts. Die Zeichen waren winzig. Sie zogen sich beharrlich wie eine Ameisenstraße die Sesselleiste entlang, dort wo Kratzer am Boden die frühere Position von Möbelstücken verrieten, bildeten panische Kolonien.

»Ich denke, das war ein Kind«, sagte Odette. »Nur ein Kind kann sich unter einem Kasten oder unter einem Bett verkriechen und auch noch Nachrichten hinterlassen.«

Minnie stand auf. Sie musste sich räuspern. »Wir sollten zur Polizei gehen.«

Odette nickte. »Das dachte ich mir.«

Der Wirbel, der daraufhin folgte, kam für die einen ungelegen, für die anderen überraschend, für wieder andere war er eine willkommene Abwechslung, einig waren sich jedoch alle, dass er einzigartig in der Zweiten Republik war und endlich, wie eine Anrainerin bemerkte und dabei die Kapuze zurückstrich, um ihre praktische Kurzhaarfrisur im Fernsehen besser zur Geltung zu bringen, den leidigen Fall Kampusch ablöste, der für viele Leute ohnehin nicht ganz koscher war, sie wolle jetzt aber nichts Näheres zu Frau Kampusch sagen, sonst heiße es gleich wieder.

Bagger rückten an, Kriminologen, Gutachter, Journalisten und Schaulustige. Man fand etwas, das schon, aber vorerst unklar blieben Alter und Ursache. Aber was war denn nun wirklich passiert? Diese Frage, in den Köpfen der Menschen bis weit über die Grenzen Österreichs hinaus penetrant herumschwirrend wie eine späte Herbstfliege, wurde wieder und wieder durchbesprochen, um diese Spekulation ergänzt, um jene Vermutung ausgebaut und durch die zahlreichen nebulösen Pressekonferenzen der zuständigen Behörden dergestalt befeuert, dass sie schließlich zu einem unüberschaubaren Geflecht an Antworten ausuferte.

Der alte Reitlbauer, hieß es, wenn wieder ein Psychologe in einer Nachmittagstalkrunde »aus aktuellem Anlass« zum Thema Kindesmisshandlung zu einer Stellungnahme genötigt worden war, der alte Reitlbauer habe nie verkraftet, dass der Flori so gar nicht nach ihm geraten sei und das den Buben ordentlich spüren lassen, vor allem ganz zum Schluss, nicht schön sei das gewesen. Die beiden Schwestern des vermeintlichen Opfers dementierten umgehend, der Vater sei außerordentlich liebevoll gewesen, von Misshandlung keine Spur, und überhaupt, nach so vielen Jahren die Ehe ihrer armen Eltern anzupatzen, sei schon gar keine Art.

Der junge Reitlbauer, hieß es, wenn wieder einmal flächendeckend und crossmedial vor der Veröffentlichung von Kinderfotos im Internet gewarnt wurde, der sei schon immer ein stilles Wasser gewesen, ein auffällig unauffälliger Einzelgänger, und dass der nie eine Frau mit nach Hause gebracht hatte in all den Jahren, die er ganz allein in dem Riesenkasten verbracht hatte, das gebe einem schon zu denken. Auch seien die Vorhänge immer zugezogen gewesen, und dass er einen Fotoapparat besessen habe, sei gesichert. Hier meldeten sich die Schwestern nicht zu Wort, der Bruder schien in der Tat ein wunder Punkt in der Familienhistorie zu sein, jedoch wies der örtliche Polizeichef die Anfragen besorgter Nachbarn zurück, man ermittle derzeit »in eine vollkommen andere Richtung«.

Die Zigeuner hieß es, der Hendlbrater, der ein paar Jahre lang jeden Herbst mit Kind, Kegel und seinem Imbissmobil im Ort Station gemacht hatte, für so jemanden sei ein leer stehendes Haus ja nachgerade eine Einladung.

Gammler, warfen ein paar hochbetagte Männer ein, unbeirrbar trotz der demonstrativ verdrehten Augen ihrer Enkel. Belgien fand häufige Erwähnung.

Der Holocaust wurde ins Spiel gebracht, Nazis, die nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs beinhart die Endlösung weiter vorantreiben wollten, das heißt, nicht die Endlösung, sondern die medizinischen Experimente, die die Rassenforschung revolutionieren sollte. In der Tat schienen die Ermittlungen, zumindest geografisch, in Richtung Nahost betrieben zu werden, ob nun auf der Suche nach dem Täter oder dem Opfer (oder den Opfern!), spaltete die Geister der Nation. Ein Mann namens Simon Goldblum wurde wiederholt zu seiner unaussprechlichen Kindheit am Spiegelgrund interviewt, man war sich einig, dass so etwas sich niemals mehr wiederholen durfte, bedauerte aber dennoch, dass er zur vorliegenden Causa weder Antworten noch Verdachtsmomente beisteuern konnte. Er war halt ein wahllos ausgewähltes unschuldiges Opfer, soviel war klar. Ein Mann namens Manuel Resch und seine Frau Natalie meldeten sich zu Wort, sie hatten stichfeste Beweise für die hinter dem Rücken der Weltbevölkerung betriebene Verschwörung des Finanzjudentums mit den Regierungen der Großstaaten und der Pharmaindustrie, auch litt Natalie seit einer Reise ins ägyptische Sharm-el-Sheikh unter Kopfschmerzen unklarer Herkunft, die jedoch mit Sicherheit durch den Rückflug verursacht worden waren.

Besorgte Bürger gegen Chemtrails und Spötter gegen Aluhüte gerieten sich in die virtuellen Haare, und die Identitären luden zu gemeinsamer sportlicher Betätigung an der frischen Luft ein. Gerade als die Diskussion sich zu verlagern begann, entdeckten die Medien die Zwillinge. Wie das eigentlich gewesen sei, wollte eine sympathische junge Reporterin wissen, warum sie eigentlich ein unbewohntes Haus betreten hatten, gute dreihundert Kilometer von ihrem Wohnort entfernt. »Würden Sie sagen, das war Intuition?«, fragte sie Minnie, als diese an einem späten, sonnigen Nachmittag nach Hause kam. »Oder haben Sie einen konkreten Hinweis erhalten? Was hat Sie auf diese Spur gebracht? Glauben Sie an Zufälle?«

Minnie zögerte erst, erlaubte der etwa Gleichaltrigen aber schließlich, mit ihr in die Wohnung zu kommen. Sie zeigte ihr die Aufnahmen, erklärte die Systematik ihres Vorgehens und schließlich, sie konnte sich später nicht mehr erklären, wie es dazu gekommen war, landeten die beiden beim Du-Wort sowie bei Tee, Schokoladenkeksen und Babyfotos von ihr und Odette.

Die Journalistin Manu hatte sich als Kind auch immer eine Schwester gewünscht, war aber mit einem um vieles jüngeren Bruder geschlagen gewesen, der, wie sie bedauernd zugab, in einer völlig anderen Welt gelebt hatte als sie, die sich vor allem mit Figuren aus Kinderbüchern wie Ronja Räubertochter identifiziert hatte. »Ich beneide euch um euer Ding, das ihr da habt«, gestand sie, als sie sich bereits verabschiedet hatten und in der angenehmen Abendluft vor der Tür standen. Obwohl sie augenscheinlich ein großes Maß an Verständnis für Hobbys wie das von Minnie und Odette (die jedoch das Wort Hobby nie in den Mund genommen hätte) aufbrachte, hatte sie entweder erstaunlich wenig Skrupel, was für ihre journalistischen Instinkte sprach, oder gegenüber ihrer Blattlinie erstaunlich wenig Durchsetzungsvermögen, was gegen ihre Qualitätsansprüche sprach; jedenfalls sah Minnie bestürzt zwei Tage später sich selbst und ihre Schwester als Titelaufmacher auf einer stark pixelnden Vergrößerung auf der alten Holzbank vor den Haus ihres Großvaters sitzen. Wegen der tief einfallenden Sonne, Minnie erinnerte sich, es war Abend gewesen, nachdem sie am Nachmittag geholfen hatten, Holz zu machen, hatten sie beide die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen, die Haare waren durcheinander, Odettes Strickjacke schief geknöpft. Daneben, kleiner, die heutige Odette, wie sie gerade ein Klingelschild studierte. Manu musste das Bild heimlich abfotografiert haben.

 

»Stößt der Staat hier an Grenzen?«, lautete die reißerische Ansage, der es mehr schlecht als recht gelang, sich als Frage zu tarnen. »Spukschwestern in ganz Österreich aktiv!« Im Blattinneren ging die Story weiter. Odettes und Minnies Archiv, die Tausende Fotos, die sie sich zu Vergleichszwecken ausgedruckt hatten, die Karten und die vielen Zettelchen mit handschriftlichen Notizen, all das war in einer Art aufgenommen, die selbst kritischen Betrachtern nahelegte, dass man es hier mit völlig verpeilten Messies zu tun hatte. Der Ton war suggestiv, die Faktenlage scheinbar stichhaltig, ein Detail passte zum anderen, und am Ende war klar: Hier waren zwei Frauen am Werk, die vielleicht nicht gemeingefährlich waren (immerhin hatten sie ja, wenn auch unbeabsichtigt, zur Aufdeckung eines Verbrechens beigetragen), die sich jedoch seit zartestem Alter beunruhigenden Machenschaften hingaben, die man, ganz besonders in Zeiten steigender Kriminalität, besser im Auge behalten sollte, deren ganzes Handeln und Denken (schizophren?) nachhaltig von einer von verlust- und entbehrungsreichen Kindheit bestimmt war, und die ganz offensichtlich nicht in der Lage waren, Realität und Fiktion voneinander zu unterscheiden. Der Text malte ein Bild von zwei kaputten, ausgegrenzten Geschöpfen, die nach Einbruch der Dämmerung durch verlassene Gebäude schlichen und dabei verzweifelt versuchten, ein Ventil für die Kränkungen, die die Welt ihnen zugefügt hatte, zu finden.

»Die Schreie des Kindes aus dem Haus in der Scherergasse hört keiner mehr. Auch die Schreie der beiden Frauen in ihrer Kindheit sind ungehört verhallt. Was, wenn Fotos nicht mehr reichen? Wie werden sie sich Gehör verschaffen?«, fragte Manu am Ende des Artikels. Dass alle Beteiligten namentlich genannt waren, verbesserte die Lage auch nicht. Minnie war sprachlos. Odette schüttelte den Kopf. »Schnepfe«, sagte sie, und meinte damit sowohl ihre Schwester als auch Manu.

Die Mutter rief an, sie weinte. Der Vater rief an, ob Minnie und Odette bewusst sei, wollte er mit kaum beherrschter Aggression wissen, dass die Mutter weine, schon den ganzen Nachmittag, und dass die verdammte Journaille im Garten schon den halben Liebstöckel zertrampelt habe?

Ihr Chef rief an und meinte, es sei wohl besser, wenn sie, Minnie und Odette, in den nächsten Tagen Urlaub nehmen würden; ohnehin sei zurzeit kaum etwas zu tun.

Der leitende Ermittler, der die Aussagen der Zwillinge bereits zu Protokoll genommen hatte, rief an und bat die beiden, sich in nächster Zeit »zur Verfügung zu halten«, falls es »neue ermittlungstechnische Erkenntnisse« gebe. Als Minnie ihn befangen nach einem Zusammenhang mit dem Artikel fragte, lachte er. »Ich bitte Sie«, meinte er. »Glauben Sie, ich habe Zeit zum Zeitunglesen?«

Der Lokalredakteur einer Gratiszeitung, der Lokalredakteur einer Onlinezeitung und der Chronikredakteur der Regionalausgabe einer Tageszeitung riefen an und baten um eine Stellungnahme, ein Interview und eine Fotostrecke. Danach schaltete Minnie ihr Handy aus. Zwar änderte dies nichts an der Tatsache, dass auch ihnen die »verdammte Journaille« bis vor die Wohnungstür rückte, jedoch mit dem Einschreiten des Hausmeisters, eines Mannes alter Schule, der jeden Unbekannten in die Mangel nahm, wurde es etwas ruhiger.

Odette schien unbewegt. Sie ging nicht an die Tür, würgte eingehende Anrufe ab und spielte die restliche Zeit konzentriert Minecraft. Minnie dachte an Martin, den Klassenkameraden mit der gebrochenen Nase (der mittlerweile verheiratet war, als Gebrauchtwagenhändler arbeitete und auf Facebook wie besessen Made-my-day-Sprüche postete, die sich hauptsächlich um Bier drehten) und hoffte beklommen, dass keiner der Journalisten Odette zu nahe kam. Die Folgen eines Zusammenstoßes (»Gefährliche aggressive Störung: Zwillinge attackieren Passanten« oder »Wollen dafür sorgen, dass niemand sie vergisst: Zwillingen ist jedes Mittel recht«) konnte sie bildlich vor sich sehen.

In den nächsten Tagen erwachte die Medienlandschaft, die schon bereit gewesen war, zur frühherbstlichen Beschaulichkeitsagenda überzugehen, zu neuer Begeisterung. Die Dame, der Odette vor besagtem Haus ausgewichen war, bevor sie zur Erstbesichtigung schritt, meldete sich gewichtig zu Wort: »Einfach durch mich hindurchgesehen!«

Odette schnaubte. »Hätte sie halt nicht derart herumgekreischt und Sachen gefragt, die sie nichts angehen.«

Täglich erfuhren die Schwestern derart viel Neues über sich in der Zeitung, dass Minnie überlegte, ob sie nicht doch ein Gespräch mit einem Journalisten zur Richtigstellung suchen sollte, aber Odette zog nur spöttisch die Augenbrauen hoch. »Also du schon mal sicher nicht«, sagte sie. »Denk nur an deine süße kleine Manu – das Gespräch ging ja wohl voll in die Hosen. Alle Großväter sterben irgendwann, manche Kerle sterben sogar, bevor sie Großväter sind, aber kaum erwähnst du den unseren, stehen wir am nächsten Tag wie komplett entgleiste Tischchenrückerinnen da!«

Minnie gab sich seufzend geschlagen. Sie ging in der Wohnung umher, vom Fenster zur Tür, zur Küche, zum Fenster, nahm hier eine Tasse mit einem Rest Wasser hoch, dort eine CD, eine Nagelschere, um sie gleich wieder an einer anderen Stelle abzulegen. Sie fiel, kaum dass sie sich hingelegt hatte, in einen bleiernen Schlaf, schreckte wenige Minuten später wieder mit rasendem Herzen und schmerzenden Schulterblättern hoch und konnte anschließend nicht mehr einschlafen. Sie konnte sich nicht dazu aufraffen, morgens zu duschen, sich die Achselhöhlen zu rasieren und stellte fest, dass sie mehrmals nachfragen musste, wenn Odette etwas zu ihr sagte, bis sie den Sinn verstanden hatte. Sie deaktivierte ihr Facebook-Profil, nachdem sie unangenehme Nachrichten von Menschen erhalten hatte, die sie nicht kannte. Anfangs hatte sie noch versucht, sachlich auf die Kommentare zu reagieren, sie hatte einige Fotos von besonders pittoresken Häuschen gepostet und die Frage in den Raum gestellt, was denn nun der große Unterschied sei zu Menschen, die, sagen wir, Hundefotos oder Mode-Selfies knipsten, aber nur Häme und sexuelle Beleidigungen geerntet. Odette, die in den sozialen Medien (was für ein Widerspruch, dachte Minnie immer) nie sonderlich aktiv gewesen war, reagierte auf ähnliche Kommentare indifferent. »Scheißer«, sagte sie und machte einen Screenshot, als jemand seine Ansicht äußerte, solche wie sie gehörten samt ihren Bruchbuden in die Luft gesprengt. Äußerlich unbewegt, meldete sie über- und untergriffige Postings und schickte die Screenshots, mit knappen Worten unterlegt, an die Staatsanwaltschaft. Langsam wendete sich erneut das Blatt, die Schlacht wurde erneut eine andere, und erste Unterstützer meldeten sich. »Ladylike«, ein alternativer Blog mit feministischem Background, rief zur Solidarität mit »Frauen, die unabhängige soziokulturelle Grundlagenforschung betreiben« auf. Die Initiative »gegen.netzhetze« prangerte die Bloßstellung der beiden Schwestern an und forderte vom österreichischen Presserat eine umgehende Stellungnahme zur rufschädigenden Berichterstattung im vorliegenden Fall. Ein smarter Anwalt nutzte die gegenwärtige Stimmung und trug sich (»Nur damit er bekannter wird, der Sack«, meinte Odette) als kostenloser Rechtsvertreter an. Ein junger, unsicherer Mann mit dunklen Dreadlocks und abgekauten Fingernägeln, der an einer, wie er es ausdrückte, Anti-Anthologie über Hasspostings arbeitete, kam zu ihnen nach Hause und hatte sichtliche Schwierigkeiten, seine Augen zumindest manchmal von Odette ab- und den Ausdrucken, die sie vorbereitet hatte, zuzuwenden. Minnie blieb in der Küche, wo sie verwundert den Austausch von privaten Nummern und der königlich-kühlen Zusage ihrer Schwester, mit ihrem neuen, fast schon lächerlich dankbaren Verehrer einmal auf ein Bier zu gehen, mit anhörte. Zum ersten Mal seit mehr als drei Wochen musste sie lächeln. Sie sah sich selbst, wie sie von Odette ein kleines Kind mit nussbraunen Wuschelhaaren entgegennahm, um es zu halten, während dessen Mutter gekonnt eine völlig verzogene Holztür öffnete und zur Kamera griff.

Dann öffnete sie das Küchenfenster, um wieder einmal ordentlich durchzulüften.



Geschichtenerzähler | Claudia Heyder

Es gibt Tage, an denen die Menschen die Orientierung verlieren. Wenn alles gleich aussieht, sobald der braune Staub sich durch jede Ritze des Mauerwerks frisst. Aber es gibt auch Zeiten, da hängt der Staub nur wie ein Unheil bringendes Tuch über uns. Es soll Kinder geben, die haben die Sonne noch niemals gesehen. Das wenige Licht, das zu uns durchdringt, verwandelte alles in eine karge Landschaft. Einzig die Bäume versuchen der stetigen Dämmerung zu trotzen und wir sind dankbar für die Luft, die wir atmen dürfen, selbst mit dem erdigen Geschmack auf der Zunge.

Mein Blick wandert von oben nach unten. Es besteht kein Zweifel, dass die schweren Stiefel an meinen Füßen die schlammige Farbe des Himmels angenommen haben. Vielleicht zur Tarnung. Zu spät!

»Los, weiter.« Ein heftiger Schlag mit dem Gewehrkolben holt mich aus meinen Gedanken. Der Schmerz bohrt sich in meinen Rücken, als ich mich in Bewegung setze, so wie ein Dutzend meiner Kameraden. Sie kamen am frühen Abend, trieben die jungen Männer wie Vieh in die Mitte des Dorfplatzes. Meine frisch geputzten Schuhe glänzten da noch, unübersehbar wie eine Bordelltür. Nicht dass ich wüsste, was ein Bordell ist, aber Großvater erzählte immer von dieser verlockend glitzernden Tür. Es ist nicht das erste Mal, dass uns der Trupp oder die Brut, wie wir sie nennen, holt. Jedes Jahr im Herbst überrennen sie das Dorf, suchen nach billigen Arbeitskräften, besser gesagt Sklaven für ihre Drecksarbeit. Denn dafür, dass wir unser Leben riskieren, ist der Lohn mehr als kläglich und eine Wahl haben wir nie.

Wir marschieren zwei Tage und vier Mal bebt die Erde. Zum Glück sind wir auf offener Fläche unterwegs. Die wenigen Blätter an den Bäumen segeln zu Boden und in den kälter werdenden Nächten rücken wir dichter zusammen. Am Morgen erklimmen wir meterhohes Betongeröll, und als unser Blick über die zerfallene Stadt schweift, macht sich eine gewisse Melancholie breit. Wir wissen alle, was wir verloren haben.

Damals, als ein Beben ungeahnten Ausmaßes die Erde aus dem Gleichgewicht brachte und Asche den Himmel verdunkelte. Die Alten sagen, wir waren zu gierig, hätten zu tief gegraben und haben die Welt in ihrem Ursprung mehr als einmal erschüttert. Andere meinen, wir wären zu laut gewesen. Es spielt keine Rolle, denn von Zeit zu Zeit bewegt sich die Erde. Mal heftig und dröhnend, dann wieder zaghaft wie ein Grashalm.

Plötzlich vernehme ich ein Summen, erkenne eine Melodie. Ich suche nach dem Vollidioten, der es wagt. Sam steht nur eine Armlänge vor mir. Ohne zu zögern, boxe ich in seine Seite und fauche ihn an: »Hör auf oder willst du uns alle umbringen!« Er verstummt, dreht sich zu mir. Ich verstehe nicht, was mir der starre Blick und sein zuckender Oberlippenschnauzer sagen wollen. Er weiß doch, dass jegliche Art von Musik mit dem Tod bestraft wird. Da ist es egal, wie wenige wir noch sind. Die Gesetze der Brut sind bindend für alle, erst recht, wenn wir mit ihnen zusammen Beute greifen. Ein Befehl dröhnt über unsere Köpfe hinweg und wir machen uns daran, die Flut an Gestein zu überqueren, immer auf der Suche nach einem brauchbaren Objekt.

Gegen Mittag marschieren wir durch menschenleere Straßen. Die Brut nimmt uns in die Mitte, sie halten die Gewehre im Anschlag und beobachten wachsam die Umgebung. Sie beschützen uns nicht aus Nächstenliebe, lebendig sind wir mehr wert, denn niemand kennt die alten maroden Häuser so gut wie wir. Unsereins geht an die verlassenen Orte, zu denen sich nicht mal der Teufel traut. So kamen wir zu unserem Namen, Maulwürfe.

Eine Windböe weht die Straße entlang, wirbelt Staub auf, als wir unser Ziel erreichen. Aus dem Grau taucht vor uns eine einst prachtvolle Jugendstilvilla auf, ihr historischer Charme wirkt in dieser Gegend befremdlich. Bei erster Betrachtung gut erhalten, scheint nur das Dach etwas beschädigt. Doch wir wissen es besser. Mein Blick fällt auf die breite Holzflügeltür im Eingang, die sich in diesem Augenblick einen Spaltbreit öffnet. Ein Schatten huscht durch die Öffnung. Alle Gewehre zielen in seine Richtung. Unruhe breitet sich in der Truppe aus. Ich höre diverse Befehle, weiß nicht, für wen sie bestimmt sind. Vernehme die Schreie meiner eigenen Leute, die dem Schatten zurufen, stehen zu bleiben. Er zögert, sieht uns an, entscheidet sich und läuft los. Mehrere Kugeln treffen den Jungen in die Brust, seine dünnen Arme fliegen nach oben, er fällt nach hinten, zuckt ein letztes Mal und bleibt reglos liegen. Für einen Moment herrscht Stille, die Gedanken in meinem Kopf überschlagen sich, bis der Befehlshaber auf mich und Sam zeigt. »Du und du schafft das aus dem Weg und für die anderen eine Viertelstunde Pause.« Ich werfe Sam einen Blick zu, gehe vorweg, betrete den verwilderten Vorgarten. Wir bleiben vor dem durchlöcherten Körper stehen. Der Junge hat keine zehn Winter erlebt, seine starren Augen zum Haus gerichtet. Ich weiß nicht, was er dort sucht oder zu finden glaubt. Meine Finger schließen seine Lider. Sam greift nach seinen Beinen, ich nach den Armen. Wir heben ihn an, sein Kopf fällt nach hinten, Blut tropft von der abgewetzten Kleidung. Ich halte Ausschau nach was Brauchbaren, aber er besitzt nichts, trägt nicht mal Schuhe. Wir legen ihn ein paar Meter weiter unter einer alten Linde ab und Sam zieht ohne Vorwarnung seine Mütze. Ein verstohlener Blick zurück zur Truppe lässt mich nervös werden. »Sam, hör auf und komm endlich.« Doch er denkt gar nicht daran, stattdessen beginnt er leise, vor sich hin zu singen. Ich hoffe inständig, dass uns niemand beobachtet. Wir spüren für einen kurzen Moment die Vibration unter unseren Füßen. Stille greift um sich. Zum Refrain kommt mein Freund nicht. Ohne Vorwarnung reiße ich ihm die Mütze aus der Hand, platziere sie auf seinem Kopf und bugsiere ihn ziemlich unwirsch zur Truppe zurück.

 

Noch bevor ich meine Wasserflasche ausgetrunken habe, werden wir ins Haus kommandiert. Die Brut schickt niemals die eigenen Leute hinein, viel zu kostbar ist ihre Sippschaft, die für Sicherheit, Wohlstand und Nachwuchs sorgt. Wenn nicht mein Leben von diesem maroden Gebäude abhinge und ich fast alles an gefundenen Sachen abgeben müsste, könnte der Begriff Schatzsucher beinahe schillernd klingen. In einer Welt, die nichts Strahlendes zu bieten hat.

Mit beiden Händen stemmt der Kamerad vor mir die hölzerne Flügeltür auf. Das stattliche Foyer liegt beruhigend, für manche sogar einladend vor uns. Der Boden sowie die wenigen Möbel und die Treppe nach oben sind von einer zentimeterdicken Staubschicht bedeckt. Farben oder Muster der Tapete können wir kaum noch ausmachen, lediglich die Fußspuren des Jungen auf dem grau-braunen Fußboden sind zu erkennen. Sie führen die Stufen hinunter. Ich hoffe, dass uns weitere menschliche Begegnungen erspart bleiben. Fast lautlos betrete ich die Halle, warte einen Augenblick, bevor ich den Brüdern hinter mir ein Zeichen gebe. Unsere Schritte werden von den staubgepuderten Wänden geschluckt. Mehrere Männer verschwinden in den unteren Zimmern, die vom Foyer abzweigen. Sam, ich und der Rest der Kameraden besteigen die Treppe, mit der Angst, sie könnte jederzeit zusammenbrechen. Die nächsten Minuten sind wir damit beschäftigt, die Substanz des Hauses als einigermaßen sicher zu beurteilen. Während unsere Augen nach brauchbaren Objekten Ausschau halten, schallt mehrmals das Wort »Sicher« durchs Gebäude. Was wir finden und tragen können, wird nach draußen geschafft. Der Trupp im Vorgarten inspiziert die Beute, bewertet, was zweckdienlich, vielleicht sogar wertvoll ist. Vom Haufen der nutzlosen Dinge dürfen wir uns später etwas aussuchen.

Am Ende des Gangs betreten Sam und ich einen durch die vielen Fenster lichtdurchfluteten Raum. Die Glasscherben der geplatzten Scheiben knirschen unter unseren Stiefeln. Mit seinem Jackenärmel wischt Sam eine dicke Dreckschicht von den Bildern an der Wand. Er nimmt sie ab. Farbige Kunstwerke werden auf dem Markt einiges bringen. Nur nicht für uns. In einer Kommode entdecke ich Fotos von unterschiedlichen Fahrzeugen. Früher konnten sich die Menschen damit fortbewegen. Hier und da stehen verschiedene Modelle verlassen auf den Straßen. Die Bilder verschwinden in der Innentasche meiner Jacke. Mein Blick fällt auf eine Holztruhe in der Ecke. Der Staub rieselt, als ich sie öffne. Mein Freund stellt die Rahmen beiseite und greift neugierig in die Kiste. Zum Vorschein kommt ein sonderbar aussehendes Etwas. Länglich, schmal, aus Metall, mit eckigen Löchern. Sams Gesicht erhellt sich. Seine Augen leuchten, so als wisse er sehr genau, was er da in den Händen hält. Er blickt auf. »Lukas, weißt du, was das ist?« Beschämt, weil ich so vieles aus der alten Zeit nicht erkenne und gleichzeitig wütend fauche ich ihn an: »Natürlich nicht!«

»Dies, mein Freund, ist ein Musikinstrument.« Er streift mit den Fingern fast ehrfürchtig über unseren Fund. »Es ist eine Mundharmonika. Mein Vater hatte auch so eine.«

Ich fühle die Panik, die wie eine Lavawelle durch meinen Körper rollt. »Musik«, bricht es aus mir heraus. »Verdammt, Sam, leg es sofort zurück«, schreie ich ihn an. Ich mache mir nicht mal die Mühe, meine Angst zu verbergen. Er starrt auf das Monster und ich spüre sein Zögern. Doch zu meiner Erleichterung folgt er meinem Befehl. Mit einem dumpfen Schlag klappt der Deckel zu. Wir bemerken das leichte Beben, versuchen ruhig zu bleiben. Putz rieselt von der Decke. Nach wenigen Sekunden ist alles vorbei. Wieder hallt das Wort »Sicher« durch die Räume. Sam kommt näher. »Weiß du, warum die Brut so eine Angst vor Musik, vor Gesang hat?«

Natürlich wusste ich es, wir alle teilten diese Furcht. Für viele berechtigt, fanden andere die Theorie, dass eine weltweite musikalische Gegenwehr unsere Erde zum Beben gebracht hätte, einfach lächerlich. Ein Märchen aus vergangenen Tagen. Fakt ist, dass nach diesem globalen Protestgesang nicht mehr ein Stein auf dem anderen steht. Zufall? Vielleicht!

Natürlich wurde gesungen, im Geheimen hatte jedes Dorf seine Lieder. Und wenn wir als Kinder mit den Frauen sangen, entstand eine ganz eigene Atmosphäre, eine Kraft, die Freude und zugleich Traurigkeit auslöste.

Mein Blick schweift durch den Raum, ich frage mich, was mir dieses Gemäuer erzählen will. Ich war schon an unzähligen verlassenen Orten, hatte ihre Vergangenheit entdeckt. Für mich sind sie Geschichtenerzähler und manchmal schreibe ich das Erzählte nieder. Doch diese Geschichte hier bereitet mir Sorge. Ich zucke zusammen, als Sam näher kommt und fast väterlich eine Hand auf meine Schulter legt.

»Melodien verbinden, stärken, geben Mut und beenden. Und sie«, sein Kopf nickt zum zerbrochenen Fenster, »haben Angst davor. Wovor, Lukas, hast du Angst?«

Mit dieser Frage lässt er mich los, klemmt sich die Gemälde unter den Arm und verschwindet. Verstohlen blicke ich zurück zur Truhe, mache mir Gedanken, was für Menschen diese Ruine mal bewohnt haben. Einen Moment lehne ich mich an die dreckige Wand und lausche, doch mehr als dass wir die Räume ihrer Seele berauben, ist nicht zu hören.

Eine Stunde später ist das Haus leer geräumt. Beim Anblick der Last denke ich wehmütig an den anstrengenden Rückweg. Längst haben wir uns unseren Lohn ausgesucht. Vereinzelte Sonnenstrahlen brechen durch das dicke Grau. In meiner Hand halte ich ein Holzkästchen. Die Größe passt perfekt in meine Tasche. Domino steht darauf. Eine Beschreibung gibt es nicht. Die rechteckigen schwarzen Steine mit den weißen Punkten stelle ich mit etwas Abstand hintereinander auf, so als wenn wir marschierten. Ich tippe den Ersten an und sehe alle anderen fallen.