Interkulturelle Bildung, Migration und Flucht

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Für eine verstärkte Verständigung von Wissenschaft und Praxis

Dieser abschließende Teil möchte in einem kurzen Ausblick für die notwendigen Gespräche zwischen Praxis und Wissenschaft werben – in der Frage des schulischen Umgangs mit Flucht und Vertreibung, aber auch darüber hinaus. Zum einen kann die Wissenschaft darüber aufklären, wie Sprache Wahrnehmungen präformiert. So gibt es einen fest etablierten Diskurs, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund eher zur Gruppe der „Risikoschüler“ zählen, und ein Teil der geflüchteten Kinder und Jugendlichen wird schnell unter diese Gruppe subsumiert. Zum anderen kann die Praxis aber auch korrigierend einwenden, dass es nicht unwichtig ist zu bestimmen, mit welchen Phänomenen man es zu tun hat und in welcher Beziehung diese stehen. Dieser Frage sollte sich die Wissenschaft stellen, sie epistemologisch und ontologisch ernst nehmen und nicht nur auf die Bedeutung von Redeweisen und Semantiken verweisen. Jenseits dieses grundsätzlichen Dialogs zwischen Erziehungswissenschaft und schulischer Praxis offenbart gerade der Umgang mit Geflüchteten noch ein ganz elementares Problem und aktualisiert die alte Frage nach dem Verhältnis von Menschenbildung und Bürgerbildung. Eine globale Pädagogik müsste aber genau diese Frage stellen. Darum ist es unbedingt notwendig, die Zwänge, aber auch die Visionen von Schule zu bedenken und dabei die alte vernachlässigte Frage nach den Menschenrechten wieder einzubeziehen – und zwar nicht in Form von Menschenrechtserziehung, sondern als Erziehung zum Menschen. Hierfür ist es notwendig, die unterschiedlichen Traditionen, Zugänge, aber auch Sackgassen der Menschenrechtsdiskussion aufzuarbeiten und kritisch daran anzuschließen. Ein guterAusgangspunkt sind die Thesen von Hannah Arendt, gerade weil ihre Argumentation provokativ und zugespitzt ist und weil sie überzeugend gezeigt hat, dass historisch zu den tradierten Fundierungen im Naturrecht oder einem Glauben an das Göttliche für moderne Gesellschaften kein Weg zurückführt. Der schulische Umgang mit den Menschenrechten hat aber entscheidende Folgen, denn nach Arendt sind die Menschenrechte vor allem eine Frage der Praxis und nicht der Theorie. Wie wir zusammenleben, wie wir einander behandeln und einander begegnen, ist von elementarer Bedeutung und in Zeiten globaler Verstrickungen und globalen „Aufeinanderangewiesenseins“ entscheidet sich viel daran, wie wir mit geflüchteten jungen Menschen in der Schule umgehen.

Literatur

Arendt, Hannah (2001). Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft: Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus. München: Pieper Verlag.

Boli, John / F. O. Ramirez / J. W. Meyer (1985). ‚Explaining the Origins and Expansion of Mass Education‘. Comparative Education Review, 29(2), 1985, 145–170.

Delpit, Lisa (2006 [1995]). Other People’s Children: Cultural Conflict in the Classroom. New York: W.W. Norton Co.

Fend, Helmut (2006). Neue Theorie der Schule. Einführung in das Verstehen von Bildungssystemen. Wiesbaden: Springer VS.

Gomolla, Mechtild / Frank-Olaf Radtke (2009). Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule. Wiesbaden: VS.

INSM (Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft) (2016) . Bildungsmonitor 2016: Ein Blick auf die Bildungsintegration von Flüchtlingen. Sonderkapitel: maßnahmen zur Bildungsintegration von Flüchtlingen. Köln: Institut der deutschen Wirtschaft Köln. URL: www.insm.de/fileadmin/insm-dms/text/publikationen/studien/Bildungsmonitor-2016-Sonderkapitel-Ein-Blick-auf-die-Bildungsintegration-von-Fluechtlingen.pdf (zuletzt aufgerufen am 30. Juni 2019).

Krüger-Potratz, Marianne (2005). Interkulturelle Bildung. Eine Einführung (Lernen für Europa, Bd. 19). Münster: Waxmann.

Mecheril, Paul (2002). ‚Natio-kulturelle Mitgliedschaft – ein Begriff und die Methode seiner Generierung‘. Tertium comparationis 8(2), 104-115.

Meyer, John W. / John Boli / George Thomas /F. O. Ramirez (1997). ‚World Society and the Nation‐State‘. American Journal of Sociology, 103(1), 144–181.

Ramirez, Francisco O. / John Boli (1987). ‚The Political Construction of Mass Schooling: European Origins and Worldwide Institutionalization‘. Sociology of Education, 60(1), 2–17.

Rawls, John (2000). Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Sloterdijik, Peter (2004). Sphären. Drei Bände. Blasen. Globen. Schäume. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

Unsere (Denk-)Gewohnheiten befragen: Politische Bildung neu buchstabieren1

Markus Rieger-Ladich

Immanuel Kant steht vor dem Giftschrank

Auch wenn Immanuel Kant heute seinen Ruhm insbesondere den drei großen Kritiken verdankt, beruhte seine Popularität in Königsberg doch kaum weniger auf zwei Vorlesungen, die er alternierend anbot – er las regelmäßig Geographie und Anthropologie sowie Pädagogik. Seine Vorlesung zur Anthropologie, die er erstmals 1772/73 hielt, trug den heute etwas kryptisch klingenden Titel „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“. Das erste Buch dieser Vorlesung behandelt das Erkenntnisvermögen und erschließt sich sehr viel leichter als etwa die berühmte Kritik der reinen Vernunft. Paragraph 1 verhandelt das „Bewußtsein seiner selbst“ und wendet sich dem Kind zu. Kant interessiert sich hier für die besondere Fähigkeit, in der ersten Person Singular zu sprechen. Der Text beginnt wie folgt:

„Es ist aber merkwürdig: daß das Kind, was schon ziemlich fertig sprechen kann, doch ziemlich spät (vielleicht wohl ein Jahr nachher) allererst anfängt, durch Ich zu reden, so lange aber von sich in der dritten Person sprach (Karl will essen, gehen u.s.w.), und daß ihm gleichsam ein Licht aufgegangen zu sein scheint, wenn es den Anfang macht durch Ich zu sprechen; von welchem Tage an es niemals mehr in jene Sprechart zurückkehrt. – Vorher fühlte es bloß sich selbst, jetzt denkt es sich selbst“ (Kant 1799/1983: 37).

Kant konstatiert hier also eine „Merkwürdigkeit“: Als erklärungsbedürftig gilt ihm das Auseinanderklaffen von Sprachentwicklung und Selbstbewusstsein; er stellt eine gewisse Verzögerung fest: Obwohl das Kind viele seiner Bedürfnisse bereits sprachlich artikulieren könne, vollziehe sich die Entwicklung seines Selbstbewusstseins doch eigentümlich retardiert. Sie hält nicht ganz Schritt mit der sprachlichen Entwicklung. Karl oder Paula können zwar ihre Anliegen formulieren, ihre Wünsche zum Ausdruck bringen; sie können auch Dinge bewerten und kommentieren, aber zunächst eben nur, indem sie von sich in der dritten Person sprechen. Das klingt, als existiere hier ein gewisser Abstand zur eigenen Person. Wenn Paula sagt, dass Paula nun auch mit der Carrera-Bahn spielen wolle (und Karl endlich die Finger davon lassen solle), wissen zwar alle Beteiligten, wovon sie spricht, und verstehen ihr Anliegen, aber grammatikalisch ist es zweifellos falsch.

Im Paragraph 2 hält Kant das besondere Ereignis fest, das im Prozess der Individuierung der Wechsel von der 3. zur 1. Person Singular darstellt: „Von dem Tage an, da der Mensch anfängt durch Ich zu sprechen, bringt er sein geliebtes Selbst, wo er nur darf, zum Vorschein […]“ (Kant 1799/1983: 38). Hier wird nun nicht nur der Grammatik Genüge getan, hier kommt auch – so Kant – noch etwas anderes zum Ausdruck. Wir erhalten auf diese Weise Einsicht in den Menschen und in das, was ihn von anderen Wesen unterscheidet: Greift der Mensch auf die 1. Person Singular zurück, zeigt sich darin eben auch ein besonderes Selbstverhältnis. Diese Rede vom Ich ist nicht nur grammatikalisch korrekt, sie wirft auch ein Licht darauf, welcher Art unser Selbstverhältnis ist: Das „geliebte Selbst“ wird nun zum „Vorschein“ gebracht, wann immer sich dazu die Gelegenheit bietet. Das Selbstverhältnis des Menschen ist also fraglos affektiv besetzt. Wir Menschen, so lässt sich Kant interpretieren, stehen unserem Selbst nicht indifferent gegenüber; wir lieben es. Und sind nicht wenig stolz darauf; daher zeigen wir es – bei jeder passenden (und auch bei vielen unpassenden) Gelegenheit(en).

Bevor ich mich erneut Kant zuwende, möchte ich zunächst daran erinnern, dass die Ontogenese eine riskante Angelegenheit ist. Die Herausbildung eines belastbaren Selbstverhältnisses, das Operieren mit stabilen Identitäten und die sichere Unterscheidung von 1. und 3. Person Singular sind beileibe keine Trivialitäten. Sie müssen vielmehr als überaus störanfällige Prozesse gelten. So ist der Weg vom Neugeborenen zu einem Kleinkind gefährlich und kennt keinerlei Garantieren, denn am Anfang der Ich-Werdung steht das Du. Das Gegenüber, das sich uns zuwendet, wird auf diese Weise zum zweiten Geburtshelfer. So hat auch der Literaturwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma (2008) in einer erhellenden Freud-Lektüre an das Ausgeliefertsein des Neugeborenen erinnert:

„Die Welt ist nichts, was mich automatisch versorgt, noch bevor ich Schmerzen leide, sondern zuerst leide ich, schreie, und dann habe ich vielleicht Glück und werde wieder satt. Glück muss man auch haben, denn das langsam zum Ich werdende Menschenwesen kann für sich nichts tun. Es ist ausgeliefert. Dieses Gefühl begleitet die Ich-Werdung und bleibt als abrufbares Befindlichkeitspotential vorhanden“ (Reemtsma 2008: 105; Herv. durch Markus Rieger-Ladich).

Dies ist präzise formuliert und ruft durchaus unangenehme Tatsachen in Erinnerung. Das Neugeborene ist auf elementare Weise verletzbar; es ist der Welt ausgeliefert. Es betritt als sog. „Mängelwesen“ (Gehlen) die Bühne der Welt und ist in kaum zu überbietender Weise darauf angewiesen, dass ein anderer – ein Du – sich seiner annimmt. Das Ich, auf das wir nach Kant doch gemeinhin so stolz sind, verdankt sich eben nicht unserer eigenen Anstrengung. Weder das Ich noch das Selbstverhältnis können daher als Trophäe gelten, als Ergebnis intensiver Bemühungen, vielmehr verdankt sich die Ich-Werdung der Zuwendung anderer – und eben nicht eigenen Anstrengungen (vgl. Arendt 1981; Meyer-Drawe 2000).

 

Auf diese Facette der conditio humana hat auch die politische Philosophin Judith Butler hingewiesen. Sie erinnert in ihrem Buch Gefährdetes Leben (2005) an unsere elementare Verletzbarkeit und spricht davon, dass die „Ausbildung des Ichs“ stets auf die „Quelle dieser Verletzbarkeit“ verweise: „Dies ist eine Voraussetzung, eine Bedingung des Lebens, die von Anfang an auf der Hand liegt, über die wir nicht streiten können.“ (Butler 2005: 48) Wir verdanken uns also nicht uns selbst; das Ich verdankt sich dem Du. Es verdankt sich damit einer anderen Person, die sich uns zuwendet, die auf unsere elementare Ausgeliefertheit reagiert, die um unsere Verletzbarkeit weiß – und geeignete Maßnahmen ergreift: eine Decke bereithält und entsprechende Kleidung, den Wechsel von hell und dunkel arrangiert, die Temperatur reguliert u. a. m.

Und damit zurück zu Kant und dessen Anthropologie. Ich zitiere den Anfang von Paragraph 2, von dem ich schon die erste Zeile genannt hatte, nun vollständig. Hier heißt es:

„Von dem Tage an, da der Mensch anfängt durch Ich zu sprechen, bringt er sein geliebtes Selbst, wo er nur darf, zum Vorschein, und der Egoism schreitet unaufhaltsam fort; wenn nicht offenbar (denn da widersteht ihm der Egoism anderer), doch verdeckt […]“ (Kant 1799/1983: 38; Herv. durch Markus Rieger-Ladich).

Wir sind also – so könnte man dies paraphrasieren – zunächst kleine Egoisten; und die einzige Grenze des Egoismus‘ besteht darin, dass kleine Egoisten fortwährend auf andere kleine Egoisten treffen. Etwa in einer Kindertagesstätte oder in der Schule. Karl wähnt sich zwar im Mittelpunkt des Geschehens, er hat gelernt Ich zu sagen und artikuliert fortwährend seine Anliegen und Bedürfnisse; in der Familie, in der er aufwächst, wird ihm dieser Status womöglich auch eingeräumt. Vielleicht steht er hier tatsächlich im Zentrum des Geschehens und absorbiert die Aufmerksamkeit aller Beteiligten. Freilich – sobald er eine Bildungseinrichtung betritt, trifft er auf andere vernunftbegabte Zweibeiner, auf andere kleine Egoisten, die es ihrerseits gelernt haben, Ich zu sagen und die ebenfalls lauthals ihre Interessen artikulieren.

Kant unterscheidet nun drei Formen des Egoismus: Es gibt ihn demnach in logischer, ästhetischer und in praktischer Hinsicht. Von besonderem Interesse ist hier der moralische Egoist. Kant charakterisiert ihn wie folgt: „Endlich ist der moralische Egoist der, welcher alle Zwecke auf sich selbst einschränkt, der keinen Nutzen worin sieht, als in dem, was ihm nützt […].“ Das ist für Kant, den Vertreter einer rigorosen Pflichtethik, höchst unbefriedigend. Wie lässt sich nun dieser Neigung, diesem tief verwurzelten Egoismus begegnen? Wie lässt sich – psychoanalytisch gesprochen (vgl. Freud 1924) – auf den Narzissmus reagieren? Kant macht hier einen sehr bedenkenswerten Vorschlag: „Dem Egoism kann nur der Pluralism entgegengesetzt werden, d. i. die Denkungsart: sich nicht als die ganze Welt in seinem Selbst befassend, sondern als einen bloßen Weltenbürger zu betrachten und zu verhalten“ (Kant 1799/1983: 38; Herv. durch Markus Rieger-Ladich).

Kant, so wird hier deutlich, hatte bereits ein feines Gespür für die Versuchung des Narzissmus, die derzeit wieder intensiv diskutiert wird (vgl. Dombek 2016). Unter der Überschrift des Egoism verzeichnet er zunächst den stillen Jubel, mit dem wir den Wechsel von der Rede der 3. Person Singular zur 1. Person Singular vollziehen. Dieser Wechsel gilt auch Kant als eine große Errungenschaft. Aber er weiß schon um die Abgründe des Egoismus; er sucht bereits nach einem Gegengift – und sieht dies im Pluralismus, den wir in uns ausbilden sollten. Der Aufklärer aus Königsberg setzt an dieser Stelle nicht zu tiefgreifenden systematischen Ausführungen an; so verlangt es auch keinen größeren interpretatorischen Aufwand, das Verhältnis von Egoismus und Pluralismus etwas näher zu bestimmen. Vorgängig ist der Egoism; er scheint für Kant zur natürlichen Ausstattung des Menschen zu zählen. Und obwohl wir das Ich als Instanz am wenigstens uns selbst verdanken, pflegen wir doch ein affektiv besetztes Verhältnis zu unserem Selbst. Weil dieser Egoismus in der Gefahr steht, fortwährend zu wachsen, ist er auf eine gegenläufige Kraft angewiesen. Der kantsche Egoism muss also in eine Balance gebracht werden – und eben dies geschieht durch die Ausbildung dessen, was er den Pluralism nennt. Erst wenn beide hinreichend stark ausgeprägt sind, nimmt die Ich-Entwicklung jene Form an, die auch den Ethiker Kant überzeugt.

Slavoj Žižek sucht radikale Erfahrungen

Ich versuche im Folgenden zu zeigen, dass sich diese eigentümliche Doppelbewegung begrifflich auch als Bildung fassen lässt. Ich lese mithin Kant so, dass er zwei gegenläufige Bewegungen identifiziert und diese aufeinander bezieht: Er kennt eine Bewegung der Zentrierung, die zu einem stabilen, identifizierbaren Ich führt, das über klare Grenzen verfügt. Dieses Ich prägt ein positives Selbstverhältnis aus und wähnt sich als Mittelpunkt der Welt. Weil es sich dabei um eine radikale Täuschung handelt, um ein veritables Missverständnis, um eine Selbstverkennung, darf die Ichwerdung in diesem Stadium nicht als abgeschlossen betrachtet werden. Das Ich muss daher den Egoism wenn nicht überschreiten, so doch in sich eine gegenläufige Instanz aufbauen. Eben dieses Gegengewicht zum Egoism ist der Pluralism. Der Bewegung der Zentrierung korrespondiert daher bei Kant eine Bewegung der Dezentrierung, über die das Ich lernt, sein irriges Selbstverhältnis zu überwinden.

Die These, die ich nun zu plausibilisieren suche, lautet: Genau jenes komplizierte Zusammenspiel zweier gegenläufiger Bewegungen ist geeignet, der Diskussion um den Bildungsbegriff wichtige Impulse zu verleihen (vgl. Tenorth 1997; Dörpinghaus 2016; Rieger-Ladich 2019). Und nicht nur dies: Sie kann nicht nur die Debatte um den Bildungsbegriff beleben, sondern auch neue Perspektiven für die politische Bildung eröffnen. Kants Rede von Egoism und Pluralism kann als eine Möglichkeit interpretiert werden, die Politische Bildung neu zu buchstabieren.1

In der Vergangenheit hat die erste Bewegung – jene der Ich-Ausbildung, der Zentrierung – ungleich mehr Aufmerksamkeit erfahren. Wir haben zunächst, das hatte der Psychoanalytiker Jacques Lacan (1991) in seinem berühmten Vortrag über das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion ausgeführt, kein ganzes, vollständiges Bild von uns. Dies wird von uns als Mangel erlebt – und so imaginieren wir jene Ganzheit, die wir schmerzlich vermissen. Wir prägen also ein halbwegs stabiles Selbstverhältnis aus und blenden dabei aus, dass wir unsere Autonomie und Ich-Stärke nur imaginieren, dass wir uns selbst fortwährend betrügen. Aber es ist ein Selbstbetrug, der uns immerhin (einigermaßen) handlungsfähig werden lässt (vgl. Schäfer 1996; Meyer-Drawe 2000).

Allerdings führt dies zu einer Limitierung der Bildungstheorie. Nicht weniger wichtig als die Bewegung der Zentrierung ist daher jene der Dezentrierung. Diese ist freilich bislang kaum zum Gegenstand der Bildungstheorie geworden. Wir müssen es eben auch lernen, von uns zu abstrahieren; wir müssen uns von der verführerischen Vorstellung lösen, im Zentrum des Geschehens zu stehen, den Mittelpunkt der Welt zu bilden.2 Diese Vorstellung schmeichelt zwar unserem Narzissmus und bedient unsere Neigung zum Selbstbetrug – und doch sollten wir nicht stehenbleiben, wenn wir von der Ich-Werdung in einem anspruchsvollen Sinne sprechen und die politische Dimension von Bildungsprozessen nicht aus den Augen verlieren wollen (vgl. Bünger / Trautmann 2012).

Damit rückt die Erfahrung von Differenz ins Zentrum der Reflexion. Wenn wir den Narzissmus überwinden wollen, den kantschen Egoism, die Liebe zum eigenen Selbst, dann müssen wir uns für jene Kontexte interessieren, in denen das möglich wird. Dabei spricht vieles dafür, sich von einem Denken zu verabschieden, das auf die Logik der Akkumulation vertraut. Wir sollten also nicht länger damit rechnen, dass wir einfach nur unsere Erfahrungen sukzessive erweitern, dass wir uns mit der Pluralität der Welten mehr und mehr vertraut machen (vgl. Koller 2012). Nicht zuletzt Theoretiker*innen, die sich intensiv mit der Psychoanalyse auseinandergesetzt haben, sprechen davon, dass die Erfahrung von Differenz keine ist, die wir uns suchen und gezielt herbeiführen können. Die Erfahrung von Differenz wird stattdessen als ein Widerfahrnis beschrieben. Die Erfahrung von Alterität stößt uns zu; sie erschüttert und verstört uns. Sie konfrontiert uns mit Erfahrungen, die wir nicht kontrollieren können, die uns – metaphorisch gesprochen – den Boden unter den Füßen wegziehen (vgl. Buck 1984).

Es ist dies nun genau jener Typ von Erfahrung, der im Zentrum eines Essays von Slavoj Žižek (2016) steht, der vor einigen Jahren unter dem Titel Wir sind alle sonderbare Irre in der ZEIT erschien. Žižek kommt hier auf einen Typ von Erfahrung zu sprechen, den man als ein Gegenmittel zu unserem tief verwurzelten Narzissmus interpretieren kann. Er schreibt:

„Wir ‚sind‘ unsere Lebensform, sie ist unsere zweite Natur, die deshalb auch nicht direkt durch ‚Bildung‘ zu verändern ist. Dafür ist etwas viel Radikaleres vonnöten, eine Art Brechtscher ‚Verfremdung‘, eine tiefe existentielle Erfahrung, durch die uns schlagartig aufgeht, wie albern sinnlos und willkürlich unsere Sitten und Rituale sind – dass nichts natürlich ist daran, wie wir uns umarmen und küssen, wie wir uns waschen, wie wir unsere Mahlzeiten einnehmen“ (Žižek 2016: 35).

Wir müssen also zu diesem Zweck Kontingenzerfahrungen machen. Symbolische Ordnungen müssen von uns als symbolische Ordnung erlebt werden – erst dann büßen sie ihre Macht ein, unsere Lebensform zu stabilisieren und uns gegen unbequeme Anfragen zu immunisieren (vgl. Rieger-Ladich 2017a).

Bei Žižek heißt es weiter:

„Das Paradox liegt aber darin, dass wir erst diesen Nullpunkt der ‚Entnaturalisierung‘ durchschreiten müssen, wenn wir uns auf den langen und schwierigen Prozess der allgemeinen Solidarität einlassen wollen […]. Wenn wir eine allgemeine Solidarität wollen, müssen wir erst in uns selbst allgemein werden und uns in ein allgemeines Verhältnis zu uns selbst setzen, indem wir Abstand zu unserer eigenen Lebenswelt gewinnen. Dazu bedarf es harter und schmerzlicher Arbeit, nicht nur des sentimentalen Nachsinnens über Migranten als einer neuen Form von Wanderarbeitern, von ‚nomadischem Proletariat‘“ (Žižek 2016: 35; Herv. durch Markus Rieger-Ladich).

Žižek macht hier deutlich, dass es keine Kleinigkeit ist, sich von der eigenen Lebensform zu lösen. Unsere Lebensform bleibt uns nicht äußerlich; sie wird von uns verkörpert, sie ist identitätsstiftend (vgl. Spranger 1966). Daher sollten wir Erfahrungen von Differenz eben nicht als bloße Erweiterung unserer Erfahrungen begreifen. Die Voraussetzung dafür, den eigenen Narzissmus tatsächlich hinter sich zu lassen und eine universalistische, „allgemeine Solidarität“ zu entwickeln, besteht also darin, das Vertraute möglichst weit hinter sich zu lassen und sich gleichsam von sich selbst loszureißen. Diesen Abstand zu sich zu gewinnen, ist nach Žižek weder eine Spielerei noch ein Vergnügen; es ist vielmehr „harte und schmerzliche Arbeit“. Wir müssen das, was uns bekannt (und wichtig) ist, gleichsam „einklammern“; wir müssen uns von ihm zu lösen suchen.

Dies ist nun durchaus nicht so außerordentlich, wie es zunächst vielleicht klingen mag. Jede und jeder von uns kennt diese Erfahrung, von der Žižek spricht. So ist die Erfahrung der Dezentrierung auch nicht das ganz Andere, das sich ereignishaft vollzieht. Es sind nicht zuletzt ästhetische Erfahrungen, die uns dazu verführen (können), uns von dem liebgewonnen Selbstverhältnis zu lösen. Ästhetische Erfahrungen konfrontieren uns mit Alterität, sie lassen uns Differenz schmecken; sie vermögen es, eine Drift auszulösen, die uns aus dem Zentrum rückt – und dies, indem sie uns mit anderen sozialen Milieus, mit anderen Grammatiken, mit anderen Erfahrungsräumen vertraut machen (vgl. Rieger-Ladich 2014). Ästhetische Zeugnisse verführen uns dazu, von unserem Ich abzusehen, das Vertraute hinter uns zu lassen – und uns mit anderen Biographien und Lebensläufen, mit anderen Liebesbeziehungen und Formen des Begehrens, mit anderen Schicksalen und Tragödien vertraut zu machen. Wir sind daher dringend auf ästhetische Zeugnisse – auf Romane und Comics, auf das Theater und die Oper, auf Kinofilme und TV-Serien – angewiesen, wenn wir das Eigene als das Eigene begreifen wollen, wenn wir das ernsthaft befragen wollen, was uns vertraut ist (und richtig erscheint).

 

Wenn wir also jenen Pluralism in uns ausbilden wollen, von dem Kant spricht, wenn wir jene allgemeine Solidarität entwickeln wollen, von der Žižek spricht, dann besteht eine Möglichkeit darin, sich ganz gezielt ästhetischen Zeugnissen zuzuwenden. Sie betreiben jene Befremdung des Eigenen, auf die wir dringend angewiesen sind. Romane, Filme und TV-Serien sind Agenten der Alterität – und als solche trainieren sie unsere Vorstellungskraft (vgl. Gabriel 2013; Rieger-Ladich 2017b). Mit der Inanspruchnahme unserer Vorstellungskraft üben sie zugleich unsere Fähigkeit des Perspektivenwechsels. Die Identifikation mit fiktionalen Figuren bedient daher nicht notwendig den Eskapismus; sie kann dem Training unsere Fähigkeit der Perspektivenübernahme – und damit der Empathie – dienen. Der Bewegung der Dezentrierung korrespondiert somit die Entwicklung unseres Einfühlungsvermögens (vgl. Stein 1917). Wir müssen, so scheint es, regelmäßig einüben, von uns abzusehen; wir müssen unser Vorstellungsvermögen beharrlich trainieren – wie einen Muskel, den wir im Fitnessstudio immer wieder mit neuen Reizen versorgen, um ihn sukzessive auf ein neues Niveau zu führen.

Indem ästhetische Zeugnisse – etwa: Romane, Kinofilme, Platten und Fernsehserien – unser Einfühlungsvermögen schulen, rücken sie uns aus dem Zentrum; sie können dergestalt als Gegengift zu unserem Narzissmus wirken und unsere Empathiefähigkeit trainieren. Und auf diese Weise können sie dazu beitragen, dass wir empfänglicher werden und dünnhäutiger für das Leid und das Unglück anderer. Dass die Ausbildung dieser Fähigkeit auch politisch dringend geboten ist, scheint mir außer Zweifel zu stehen. Nachdem Hunderttausende auf der Flucht vor Krieg und Gewalt, vor Armut und Hunger den Weg nach Deutschland gefunden haben, ist es dringender denn je, die politischen Ereignisse nicht nur aus der hegemonialen Perspektive zu betrachten (vgl. Messerschmidt 2016; Rieger-Ladich 2018).