Integrative Medizin und Gesundheit

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6.3 Best-Practice-Beispiele
6.3.1 Interprofessionelle Zusammenarbeit im Rahmen der Mind Body Medicine – Erfahrungen aus der Schweiz

Im rehabilitativen und onkologischen Versorgungsbereich sind vielerorts bereits interprofessionelle Versorgungskonzepte unter Einbindung komplementärer Verfahren etabliert. Die gute Zusammenarbeit im interprofessionellen Team ist für die gelungene Umsetzung der Mind Body Medicine, insbesondere im Gruppensetting, eine wichtige Voraussetzung. Am Institut für komplementäre und Integrative Medizin des Universitätsspitals Zürich werden dabei verschiedene Professionen einbezogen (Psychologen/-innen, Ärzte/-innen, Ernährungswissenschaftler/-innen und Pflege). Eine Kommunikation auf Augenhöhe, das Ansprechen von Konflikten, sowie die gemeinsame Übernahme von Entscheidungen sind dabei wichtige Kompetenzen innerhalb des Teams; denn auch wenn die im Team vertretenen Professionen unterschiedliche Expertise für die spezifischen Themen (z.B. Ernährung) haben, sprechen die Patientinnen und Patienten ihr Thema auch in anderen Themenblöcken an. Damit muss umgegangen werden, ohne sich zwischen den Professionen zu widersprechen oder die Themen unvernetzt stehen zu lassen. Ein weiterer interessanter Aspekt ist, dass die Leitung einer Behandlungsgruppe immer einer Person zugeordnet ist, die durchaus je nach Gruppe auch variieren kann (Psychologin, Ärztin, oder Pflege). Wichtige Voraussetzungen sind, dass die Leitungsperson in Mind Body Medicine ausgebildet ist und eine Gruppe kompetent führen kann. Dies entspricht interprofessionellen Ansätzen aus der Palliativmedizin, wo die Fallführung auch von unterschiedlichen Professionen übernommen werden kann.

6.3.2 Interprofessionelle Lehre zur Komplementärmedizin – eine Zusammenarbeit zweier Universitäten in Zürich

Derzeit entstehen an einigen Universitäten interprofessionelle Lehrmodule zu integrativmedizinischen Themen, wie beispielsweise an den Medizinischen Fakultäten Heidelberg und Lübeck. Im Herbstsemester 2019 haben das Institut für komplementäre und Integrative Medizin, Universitätsspital Zürich an der Universität Zürich und das Institut für Pharmazeutische Wissenschaften der ETH Zürich, erstmalig ein gemeinsam entwickeltes Modul zur Komplementärmedizin als interprofessionelle Lehre durchgeführt. In diesem Modul besuchten Masterstudierende der Pharmazie und Studierende der Medizin gemeinsam acht Lerneinheiten. Damit wurden gleich zwei wichtige Lerninhalte abgedeckt: Zum einen wurden Grundlagen der komplementärmedizinischen Therapie und komplementärmedizinische Medikamente vermittelt, das sind Themen, die im Gesundheitswesen einen immer größeren Stellenwert einnehmen. Zum anderen wurde die interprofessionelle Zusammenarbeit, welche im Lernzielkatalog beider Studiengänge verankert ist, gestärkt.

Damit sollen eine gemeinsame Sprache und das Vertrauen in die gegenseitigen Kompetenzen bereits im Studium etabliert werden. Durch den Einsatz moderner Lehrmethoden, wie z.B. flipped classroom, tandem teaching, buzz groups und mobile voting, wurden die Studierenden aktiv zum Austausch und zur Zusammenarbeit in interprofessionellen Kleingruppen angeregt. Die für die Lerneinheiten ausgewählten Themen umfassten Phytotherapie, Anthroposophische Medizin und Chinesische Medizin. Diese wurden jeweils aus pharmazeutischer und medizinischer Sicht betrachtet. Die im interprofessionellen Team lehrenden Dozierenden legten besonderen Wert auf die Vermittlung von Möglichkeiten und Grenzen der verschiedenen komplementärmedizinischen Methoden sowie deren Evidenz. Dieses neue Lehr- und Lernsetting soll zur Kenntnis und Wertschätzung der Kompetenzen anderer Health Professionals beitragen. Das wiederum schärft das eigene Rollenprofil in der Grundversorgung beider Professionen zum Thema Komplementärmedizin und gewährleistet eine bessere Versorgung der zukünftigen Patientinnen und Patienten.

Literatur

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Angelika Homberg, Dipl.-Med.-Päd.

Geboren 1966 in Sinsheim an der Elsenz. Nach Beendigung ihres Medizinpädagogikstudiums an der Charité Berlin arbeitete sie seit 2014 in unterschiedlichen interprofessionellen und innovativen Lehrprojekten an den Medizinischen Fakultäten Heidelberg und Mannheim. Sie ist maßgeblich für die Entwicklung und Implementierung des interprofessionellen komplementär- und integrativmedizinischen Lehrmoduls InterKIM an der Medizinischen Fakultät Heidelberg verantwortlich. Aktuell promoviert sie zum Thema interprofessionelle Curriculumsentwicklung für komplementäre Medizin.


Prof. Dr. med. Claudia M. Witt, MBA

Prof. Dr. med. Claudia M. Witt ist Lehrstuhlinhaberin für komplementäre und integrative Medizin an der Universität Zürich und Direktorin des gleichnamigen Instituts am Universitätsspital Zürich. Als Prodekanin für Interprofessionalität vertritt sie dieses Thema seit 2018 an der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich. Seit 2019 ist sie zudem Co-Direktorin der Digital Society Initiative der Universität Zürich und setzt sich für einen interdisziplinären reflektierten Umgang mit der Digitalisierung ein. Seit 2011 forscht sie zu Digital Health Interventions für Mind & Body.

7 Stimulate Collaboration – Förderung von Kollaboration – Herausforderungen für die Umsetzung

Joachim E. Fischer

 

Zusammenfassung

Zentrale Aspekte einer modernen Integrativen Gesundheitsversorgung sind Teamarbeit, Multiprofessionalität und Patientenzentrierung. Dies steht dem bisherigen Modell der primärärztlichen Versorgung in der hausärztlichen Einzelpraxis entgegen. Der immer aktueller werdende Hausarztmangel gerade auf dem Land eröffnet die Chance, neue Versorgungstrukturen zu etablieren, die Gesundheitsförderung und Behandlung auf die Schultern vieler gut ausgebildeter Fachkräfte verteilen, darunter auch angestellte Ärzte. Die Versorgungsnot im ländlichen Raum ermöglicht Lösungen, die sich an den Prinzipien der Patientenzentrierten Medizin orientieren. Die Chancen ergeben sich aus einer Neustrukturierung von Prozessen, Kompetenzerweiterung nicht-ärztlicher Fachpersonen durch entsprechende Weiterbildung, bessere horizontale Vernetzung in der Kommune und sinnvolle Nutzung von digitalen Lösungen unter anderem zur vertikalen Integration von Primärversorgung mit Spezialisten und Forschung. Das Kapitel reflektiert ein aktuell in einer ländlichen Region in Baden-Württemberg zur Umsetzung anstehendes Vorhaben auf dem Hintergrund der Geneva Declaration der Konsensus-Konferenz des International College of Person-Centered Medicine (ICPCM).

Summary

Teamwork, collaboration in multiprofessional networks, and a patient-centered approach characterize modern, integrative healthcare. This is in stark contrast to the current model of healthcare provision by GPs in single practices. The growing lack of GPs, particularly in rural areas, presents the opportunity to establish new supply structures in which many well-educated skilled employees, including salaried physicians, share the tasks of health promotion and treatment. The acute shortage of healthcare in rural areas encourages us to find solutions that are based on the principles of patient-centered medicine. The relevant opportunities arise from restructuring processes, increasing the skills of non-medical professional staff by providing additional education, improving horizontal integration within municipalities, and applying digital solutions to, inter-alia, vertically integrating primary care providers with specialists and research. This chapter presents a project currently implemented in a rural setting in the federal state of Baden-Württemberg based on the Geneva Declaration from the consensus conference of the International College of Person-Centred Medicine (ICPCM).

7.1 Die Versorgung im Spannungsfeld von Akutmedizin und Unterstützungsbedarf bei älteren Patienten

Anna Zimmer lebt allein in einem großen Haus in einem Dorf unweit eines größeren Zentrums in Baden-Württemberg. Sie ist 91. Ihr Mann ist nach langer Pflege vor 5 Jahren gestorben. Es ist Samstag nach Ostern. Sie fährt – weil die Beine nicht mehr so gut tragen – noch immer selbst mit dem Auto zum Einkaufen, auch weil der ÖPNV auf dem Land nicht so gut ausgebaut ist. Heute fällt es ihr noch schwerer, die Einkaufstasche ins Haus zu tragen. „Das Japsen ist schlimmer“, wie sie sagt. Sie legt sich ins Bett. Das Handblutdruckmessgerät, das oft merkwürdige Werte anzeigt, behauptet: Blutdruck 70 zu 40, Puls 144. Sie ruft ihre Freundin, eine Nachbarin an. Diese findet Frau Zimmer kränkelnd und blass. Ihr Hausarzt ist in Osterferien. Der ärztliche Notdienst wird gerufen. Dieser lässt auf sich warten, muss dreimal gebeten werden. Schließlich wird Anna Zimmer ins nächstgelegene Kreiskrankenhaus eingewiesen.

Stunden später, inzwischen ist es früher Abend: Frau Zimmer liegt auf der Intensivstation mit Verdacht auf Lungenembolie, manifestes prärenales Nierenversagen und kardiogenen Schock. Ihr mittlerer arterieller Blutdruck beträgt 60 mmHg, sie hat eine schwere Laktatazidose. Die Patientenverfügung besagt: keine Intensivtherapie. Frau Zimmer spricht mit schwacher Stimme am Telefon mit ihren Söhnen, verabschiedet sich.

Der Einstieg in die Fallvignette zeigt, wie rasch sich aus einer gesundheitsförderlich orientierten hausärztlichen Versorgung mit leitliniengerechter Behandlung einer alten Dame eine auf den ersten Blick zwingend pathogenetisch orientierte Versorgung eines medizinischen Notfalls entwickelt. Dem erfahrenen Intensivmediziner ist die Situation klar: Aus einer unbemerkt entstandenen tiefen Beinvenenthrombose hat sich ein Thrombus gelöst und einen bedeutsamen Teil des Lungengefäßbettes verlegt. Weil die Herzklappen der alten Dame allesamt nicht mehr richtig schließen, ist die rechte Herzkammer überfordert. Damit strömt gerade noch genug Blut durch die Lunge zurück zur linken Herzkammer, um das Gehirn zu versorgen und auch das Herz, aber schon nicht mehr die Nieren. Pathogenetisch ist klar, was zu tun ist: den Thrombus möglichst schnell auflösen, das Herz intensivmedizinisch per Katecholamin-Dauerinfusion vorübergehend anzupeitschen und so, fein dosiert und engmaschig kontrolliert, den Kreislauf der Patientin und die Blutversorgung lebenswichtiger Organe wieder zu stabilisieren.

Aber schon in diesem Stadium stellen sich dem behandelnden Intensivmediziner eher salutogenetische Fragen: Wird sich die Niere erholen? Wie wird sich die Niere erholen? Wird sich das Herz erholen? Was kann die Erholung maximal unterstützen? Wird sich die alte Dame insgesamt wieder erholen? Wird sie noch einmal nach Hause gehen können? Wird sie ein Pflegefall? Was wünscht die alte Dame? Ist die Patientenverfügung, „keine intensivmedizinischen Maßnahmen“, strikt einzuhalten? Sie war sich bewusst, dass sie im jetzigen Zustand nur noch Stunden zu leben hätte und verabschiedete sich am Telefon von ihren Kindern. Ist das unbedingt zu respektieren, oder ist nicht ein Versuch, den Kreislauf mit begrenzter Intensivmedizin zu stabilisieren, gerechtfertigt? Wer autorisiert das Vorgehen? Und welche Risiken einer Verschlimmerung und Schwächung Selbstheilungskräfte der 91-Jährigen würde die rein pathogenetisch folgerichtige Behandlung in sich bergen? Angenommen, es gelänge, die alte Dame zu stabilisieren: Wer kümmert sich um sie? Wie ginge es nach der Entlassung weiter? All diese Fragen schwirrten dem Intensivmediziner an diesem Abend durch den Kopf, während er mit den Söhnen der alten Dame, einer davon zufällig aus einem Gesundheitsberuf, telefonierte. Wie oft in solchen Situationen hatte der behandelnde Intensivmediziner außer der Patientenverfügung und der aktuellen Sachlage keine weitere Information zur Entscheidungsfindung über die weitere Behandlung. Lediglich den Medikamentenplan, den die alte Dame mitgebracht hatte und eine Kopie eines Arztberichts vom kardiologischen Kollegen aus dem Vorjahr, die der Patientenverfügung beilag.

Integrative Medizin als Gesundheitsversorgung der Zukunft tritt mit dem Leistungsversprechen an, auch in solchen Situationen Orientierung und bessere Zusammenarbeit der verschiedenen Berufsgruppen zu erleichtern (Esch u. Brinkhaus 2020; Mezzich 2014). Sie stellt die Salutogenese, also das Wissen um die Gesundheit fördernde oder erhaltende Prozesse gleichberechtigt neben die Pathogenese (Lindstrom u. Eriksson 2005). Letztere beschreibt das Wissen um die Ursachen von Krankheiten, die Risikofaktoren für Ursachen und die Möglichkeiten, solche Risiken früh zu erkennen und das Entstehen von Krankheit risikogeleitet zu vermeiden. Integrative Medizin bezieht sich in ihrem Ansatz auf die Bewegung der Patientenzentrierten Medizin und deren Grundannahmen (Davies 2008; Klancnik Gruden et al. 2020; Machta et al. 2019). In einer Konsensus-Konferenz stellte das International College of Person-Centered Medicine (ICPCM) im Mai 2014 Grundprinzipien auf und forderte, damit es nicht bei Absichtserklärungen bleibt, konkrete Aktion in 10 Handlungsfeldern (Mezzich 2014).

Das Kapitel beschreibt darum in aller Kürze zuerst die Ausgangssituation der Gesundheitsversorgung auf dem Land sowie die zu erwartenden und damit die Rahmenbedingungen setzenden, kontextuellen und gesellschaftlichen Makrotrends. Das Kapitel geht dann kurz ein auf ein vom Forum Gesundheitsstandort Baden-Württemberg und dem Ministerium für Wissenschaft und Kultur gefördertes Modellvorhaben zur Sicherung der hausärztlichen Versorgung im ländlichen Raum in Baden-Württemberg. Es zeigt auf, wie dieses neue Versorgungskonzept unter Würdigung der entsprechenden Rahmenbedingungen auf die erwähnten Grundprinzipien und die 10 Handlungsfelder der Patientenzentrierten Medizin eingeht.

Das Dorf der alten Dame liegt in der Region Nordschwarzwald. Auf der Landkarte sieht das nicht besonders abgeschieden aus: nicht weit von Stuttgart, im Norden die Großstadt Pforzheim, im Osten die Universitätsstadt Tübingen, im Süden ein Zentrum für Medizintechnik, Tuttlingen, im Westen die Rheinebene von Karlsruhe bis Freiburg, alles verkehrstechnisch gut angebunden über den von Stuttgart nach Singen ziehenden Strang der A 81 oder die Gäubahn von Stuttgart nach Zürich. Wer im Flugzeug auf der Anflugroute nach Zürich darüber fliegt, sieht einen hübschen Wechsel von Wald, Wiesen und Dörfern. Berühmte Menschen und Produkte kommen aus dieser Region, etwa Jürgen Klopp und der Fischer-Dübel. Wer aber hineinfährt in die tief in die Bergzüge eingeschnittenen Täler des Nordschwarzwalds, spürt die Abgeschiedenheit. Stuttgart, Karlsruhe, Sindelfingen oder Tübingen – das ist weit weg.

Es wundert deshalb nicht, dass von über 100 Hausärzten in der Region in den nächsten 5 Jahren die Hälfte altersbedingt ausscheiden wird. Nachwuchs bleibt aus. Von 100 Medizinstudierenden träumt vielleicht einer von einer Einzelpraxis in einer ländlichen Region. Um die Zukunft der kleinen und mittleren Krankenhäuser in solchen Regionen ist es nicht besser bestellt. Trotz geschickter und umsichtiger kaufmännischer Geschäftsführung schreiben sie rote Zahlen. Die Behandlung von Fällen wie dem der alten Dame rechnet sich im DRG-System nicht.

Wie sieht die Zukunft vor Ort dann aus? Eine rein telemedizinische Versorgung? Eine Arztpraxis ohne Arzt, bedient durch ein Call-Center aus Bangalore, unternehmerisch geleitet von einem deutschen Krankenhauskonzern? Rezepte, die vom Call Center elektronisch ausgestellt und Medikamente, die im Schließfach bei der örtlichen Sparkasse wie bei einer DHL Packstation abgeholt werden? Falls die alte Dame ein Tablet bedienen kann, erklärt ein freundlicher, sogar schwäbisch sprechender junger Arzt über das Internet, wie sie die Medikamente einnehmen muss und bei welchen Anzeichen von Veränderung sie das Call-Center anrufen soll? Informationen über individuell zu erwartende Nebenwirkungen finden sich nach Auslesen des QR-Codes in einem gesicherten Video-Kanal, sowie Tipps der Digitalapotheke für naturheilkundlich basierte Nahrungsergänzung? Ist das die Integrative Medizin der Zukunft auf dem Land in der realen betriebswirtschaftlichen Umsetzung des zukünftigen Gesundheitssystems (Azzopardi-Muscat 2019; Blandford 2018; Gordon et al. 2020)?