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Historische Translationskulturen

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6 Zensur im Film

Auch Filme wurden unter den oben genannten Gesichtspunkten zensiert. Ein typisches Beispiel für die „antiimperialistische“ Übersetzungspolitik in der Ära Kádár ist die 1966 zum ersten Mal im ungarischen Fernsehen gezeigte Synchronfassung des 1942 mit Ingrid Bergman und Humphrey Bogart in den Hauptrollen gedrehten Films Casablanca. Vorweg wurde schon in der ungarischen Presse angekündigt, dass in diesem Film Ereignisse des Zweiten Weltkriegs aus einer von jenseits des Atlantiks stammenden Perspektive beleuchtet werden. Nichtsdestotrotz wurde z.B. in der Szene, kurz vor dem Singen der Marseillaise, aus dem Ausruf einer Französin, nämlich „Vive la France, vive la Democratie!“ in der ungarischen Synchronfassung ein ideologisch viel weniger konfliktbeladenes „Es lebe die Freiheit!“. Frankreich als Teil des als „dekadent“ betrachteten Westens sowie die Demokratie als solche hochleben zu lassen, war für die sozialistischen Parteikader anscheinend tabu. Mithilfe solcher neutraleren Formulierungen sollte möglicher Regimekritik vorgebeugt werden. Statt sich an das Original zu halten, wurde aus dem berühmten Schlusszitat „Louis, ich glaube, dies ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft“ (Louis, azt hiszem, ez egy gyönyörű barátság kezdete) in der Synchronfassung: „Louis, maga ugyanolyan szentimentális, mint én“ (Louis, Sie sind genauso sentimental wie ich), wodurch die politische Aussagekraft dieses Films unterminiert wird. Es geht ja nicht darum, eine womöglich kitschige Liebesgeschichte zu erzählen und sich darüber zu mokieren, sondern darum, sich gemeinsam darin zu bestärken, auf der richtigen Seite der Konfliktparteien zu stehen (Hahner 2012).

7 Der „rote Schwanz“

Bei der Durchsicht von in Ungarn publizierten wissenschaftlichen Fachartikeln aus den 1960er und 1970er Jahren fällt auf, dass, unabhängig davon, ob es sich um Werke der Psychologie, der Wirtschaftswissenschaften oder etwa der Biologie handelte, es immer Stellen gab, an denen die AutorInnen sich verpflichtet fühlten, völlig unvermittelt zu erklären, wie sehr ihre Forschungsarbeit den Prinzipien des Marxismus-Leninismus gerecht werde. Für diesen obligatorischen ideologischen Zusatz – sowohl in Übersetzungen als auch in Vorworten bzw. Anhängen von Originalwerken – etablierte sich der informelle Ausdruck „vörös farok“ (der rote Schwanz), welcher praktisch niemals fehlen durfte und bisweilen ganz sonderbare Stilblüten hervorbrachte.

Sogar im populären, mehrbändigen von Zoltán Ternai herausgegebenen Werk A gépkocsi (Das Kraftfahrzeug), in welchem, trotz mangelndem Zugang der AutorInnen zu internationalen Automessen und Testfahrten, ein relativ umfassendes Bild über die neuesten Errungenschaften der Automobilbranche gegeben wurde, war der „rote Schwanz“ vorhanden. In dieser beliebten Reihe wurden häufig die ungarischen Übersetzungen englisch-, deutsch- und französischsprachiger Fachartikel publiziert. Die HerausgeberInnen wussten, dass die Chancen für eine Veröffentlichung ohne ein ideologisches Anhängsel sanken. Daher ließ man auch in dieser Reihe, selbst in Zeiten von Trabant, Wartburg und Co., die sich im Eiltempo entwickelnde sozialistische Autoindustrie hochleben (Mérő 2003; Boros 2017).

Der „rote Schwanz“ war auch in Bezug auf literarische Übersetzungen von Bedeutung. Für die offizielle kommunistisch-sozialistische Kulturpolitik vom ideologisch-erzieherischen Standpunkt aus ein Problem darstellende, bisweilen aber auch weltanschaulich neutrale, übersetzte Werke der Literatur galt, dass sie in vielen Fällen zunächst gar nicht und später in der sogenannten „weichen Diktatur“ in der Regel nur mit dem „roten Schwanz“, d.h. entsprechenden Kommentaren bzw. Vor- und Nachworten versehen, erscheinen durften (Gedeon [o.J.]). Das Nachwort an sich wurde laut Bart (2002) beinahe zu einem eigenständigen Genre der Literaturkritik, wobei anhand bestimmter Beispiele sogar die Rezeptionsgeschichte so mancher AutorInnen in Ungarn rekonstruiert werden könne (ibid.: 45). Ein gutes Beispiel für die Anwendung ideologisch motivierter Zusätze in der übersetzten Literatur sind Werke von Dostojewski. Diese waren, wie viele Werke russischer AutorInnen, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunächst über deutsche und französische Übersetzungen ins Ungarische übertragen worden bis dann in den 1920er und 1930er Jahren ungarische literarische ÜbersetzerInnen direkt die russischen Originale als Ausgangspunkte ihrer Arbeit wählten. Von 1948 bis 1956 galt, dass klassische russische AutorInnen, deren Werke in der Sowjetunion damals nicht erscheinen durften – dazu gehörte u.a. Dostojewski –, auch in Ungarn nicht publiziert wurden. Nachdem Dostojewski ab 1955 in der Sowjetunion wieder verlegt werden durfte, wurden seine Bücher nach und nach auch in Ungarn, im Allgemeinen mit Kommentaren der marxistischen Literaturkritik versehen, wieder herausgegeben. In Nachworten aus der zweiten Hälfte der 1950er Jahre wurde Dostojewski vielfach als Realist (vgl. „sozialistischer Realismus“) bezeichnet, der aufgrund seiner Darstellung des menschlichen Leidens inmitten schwieriger gesellschaftlicher Verhältnisse geschätzt wurde. Die geschilderten Zustände wiederum wurden häufig als Beweis für den negativen Charakter der kapitalistischen Gesellschaft instrumentalisiert (Gedeon [o.J.]).

8 Die „Politik der drei T“

Laut einer pejorativen Auffassung von Standeisky (2003) bedeutete „Kulturpolitik“ im Sozialismus Unterdrückung durch die Staatsmacht (ibid.: 123). Aus diesem Kontrollbedürfnis des Regimes heraus sind auch die kulturpolitischen Richtlinien zu verstehen, die vom Zentralkomitee über eineinhalb Jahre hindurch ausformuliert und schließlich per Beschluss am 25. Juli 1958 unter dem Titel Az MSZMP művelődési politikájának irányelvei (Die Richtlinien der Bildungspolitik der MSZMP) erlassen wurden und an welche man sich in Ungarn noch unter dem Schlagwort „Politik der drei T“ erinnert (Eörsi 2008: 75). Demnach müssten die Voraussetzungen für die Umgestaltung der Gesellschaft im Sinne des Sozialismus und die Entwicklung einer sozialistischen Denkweise geschaffen werden. Für die Umsetzung dieser Richtlinien in der Praxis seien die staatlichen Organe zuständig, deren Aufgabe auch darin bestehe, schädliche und negative Bestrebungen sowie feindliche Versuche bzw. Experimente zu unterbinden. Daher sei ein organisiertes Vorgehen gegen zerstörerisch wirkende Werke berechtigt (Kalmár 1998: 148). Durch diese Richtlinien wurde auch eine Kategorisierung in einerseits höherwertige und andererseits minderwertige bzw. zerstörerisch wirkende Kunst vorgenommen (Eörsi 2008: 76).

Alles das hatte prägende Auswirkungen auf die vorherrschende Translationskultur und ihre Normen. In der Ära Kádár war die Anwendung der Zensur laut Gedeon ([o.J.]) hinsichtlich der übersetzten Literatur sogar einfacher möglich als bei der bisweilen schwer durchschaubaren ungarischen Literatur. Ein Grund dafür war ihrer Meinung nach, dass in ersterem Fall die Tabuthemen offensichtlicher gewesen seien. Ausländische, insbesondere nicht zeitgenössische AutorInnen seien in dieser Zeit eher vor regulierenden Eingriffen gefeit gewesen als ihre ungarischen KollegInnen. Ihre Werke konnten aber in den meisten Fällen nur mit entsprechenden Vor- und Nachworten erscheinen, die für ideologische Klarheit sorgen und die Absichten der HerausgeberInnen schützen sollten. Diese Praxis des Selbstschutzes hatte sich bereits seit Beginn der Ära Kádár entwickelt. Gemäß einer Vorlage des Politbüros aus dem Jahr 1957 sollten die HerausgeberInnen schöngeistiger Literatur die Bestrebungen des sozialistischen Realismus sowie jene literarischen Strömungen unterstützen, welche auf den sozialistischen Realismus hinweisen. Inkorrekte Ansichten enthaltende, kontroverse Werke sollten mit einem entsprechenden marxistischen Vorwort versehen werden, wobei gleichzeitig von der Publikation feindseliger Arbeiten in jedem Fall abzusehen sei (ibid.).

Die drei T stehen für „tiltott“ (verboten), „támogatott“ (gefördert, unterstützt) und „tűrt“ (geduldet), wobei die Reihenfolge, in der diese Wörter genannt werden, je nach Quelle variiert. In gewisser Weise lässt sich hier eine Parallele zu der Definition von Normen als Überbegriff für Gebote, Verbote und Erlaubnisse ziehen. Die Kategorisierung von Kunstwerken und KünstlerInnen, Werken und AutorInnen bzw. Übersetzungen und ÜbersetzerInnen entsprechend der „Politik der drei T“ geht auf György Aczél zurück. Regimetreue, marxistische bzw. den Sozialismus in den Vordergrund rückende Werke sollten gefördert, politisch mehr oder minder neutrale Werke geduldet und regimekritische, antimarxistische Werke verboten werden (vgl. Romsics 2005: 497 oder Herkli/Krizbai 2017).

Unter dem Deckmantel der Qualitätssicherung in der Kunst diente diese Evaluierung der Auswahl von ideologischen Kriterien am ehesten gerecht werdenden Werken. Beispiele für ungarische AutorInnen, deren Werke in Ungarn nicht publiziert und übersetzt werden durften, sind einer der bedeutendsten Autoren der ungarischen Avantgarde, Lajos Kassák, sowie der Schriftsteller Sándor Márai. Das erste Werk des zweisprachig aufgewachsenen, in Košice (Kaschau) geborenen und in San Diego verstorbenen Sándor Márai (1900–1989) wurde in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) publiziert als er gerade einmal 19 Jahre alt war. Mittlerweile gilt er als sehr renommierter bürgerlicher Autor. Besonders bekannt ist sein Roman A gyertyák csonkig égnek (Die Glut). Er gilt übrigens als der erste Übersetzer von Werken von Franz Kafka ins Ungarische. 1947 veröffentlichte er als Teil des Zyklus A Garrenek műve (Das Werk der Garrens) den Roman mit dem Titel A Sértődöttek (Die Gekränkten), dessen zweiter Band von der gleichgeschalteten Literaturkritik angefeindet und dessen dritter Band in Ungarn überhaupt eingestampft wurde (Klaniczay 1985: 375f.). Der in diesem als die ungarischen Buddenbrooks geltendem Werk thematisierte Niedergang der (groß-)bürgerlichen Familie Garren als Zeichen für den Zerfall der sorgsam aufgebauten bürgerlichen Gesellschaft und für das Ende eines goldenen Zeitalters, die Bezugnahme auf zeitgenössische Entwicklungen und die äußere und innere Emigration als letzter Ausweg widersprachen den Zielsetzungen der sozialistischen Kulturpolitik (Walcher 2016; Libri Könyvkereskedelmi [o.J.]). Problematisch für die Zensur waren u.a. Márais liberale Gesinnung sowie seine hohe Wertschätzung geistiger Unabhängigkeit. Die Freiheit und deren Abwesenheit thematisierte er z.B. im 1932 erschienenen und 1940 auf Deutsch herausgegebenen Roman Csutora (Ein Hund mit Charakter). 1948 verließ Márai Ungarn und kam, obwohl er später mehrfach eingeladen wurde, solange das sozialistische Regime an der Macht war, nicht mehr zurück. Vereinsamt und verarmt nahm er sich im US-amerikanischen Exil das Leben. Posthum wurde er geehrt, indem ihm 1989 die Mitgliedschaft in der Ungarischen Akademie der Wissenschaften sowie der Kossuth-Preis verliehen wurden (Klaniczay 1985: 375f.).

 

Dass der Schriftsteller Albert Wass in die Kategorie „tiltott“ (verboten) fiel, zeigt sich schon allein daran, dass sein Roman Farkasverem (Wolfsgrube) auf Ungarisch in Buenos Aires, also im Exil, herausgegeben wurde (Benedek 1963: 562). Mittlerweile werden für ihn in Ungarn Denkmäler errichtet, obwohl er eigentlich als antisemitischer Autor und wegen seiner Beteiligung an der Ermordung von Jüdinnen und Juden in Rumänien als Kriegsverbrecher gilt, was ebenfalls erklärt, weshalb er in der Ära Kádár verboten war (Dokumentationsstelle für ost- und mitteleuropäische Literatur [o.J.]).

Über den sich viel mit der Revolution 1956 beschäftigenden, in viele Sprachen übersetzten1 und mehrfach ausgezeichneten Schriftsteller György Konrád (Herderpreis, Friedenspreis des Deutschen Buchhandels etc.) wurde in der Ära Kádár ein langjähriges Publikationsverbot verhängt. Bereits in seiner Studienzeit hatte er mehrfach wegen seiner bürgerlichen Herkunft und seines oppositionellen Verhaltens Studienverbot bekommen. Der Roman A látogató (1969, Der Besucher), der u.a. vom Scheitern des Individuums in der Gesellschaft handelt, wurde offiziell vernichtend kritisiert, war aber inoffiziell ein großer Erfolg. Das Manuskript seines gemeinsam mit Iván Szelényi herausgegebenen Essaybands Az értelmiség útja az osztályhatalomhoz (1978, Die Intelligenz auf dem Weg zur Klassenmacht) wurde von den Behörden beschlagnahmt. Gegen ihn und seinen Koautor wurden Ermittlungen wegen staatsfeindlicher Umtriebe aufgenommen. Szelényi wanderte aus, während Konrád die innere Emigration wählte (Veres [o.J.]).

Den Gegenpol zu den verbotenen AutorInnen und ihren Werken bildeten die politisch verlässlichen, dem System kritiklos dienenden Kulturschaffenden, die neben staatlichen Preisen und Auszeichnungen eine für die Mehrheit unerreichbare, bisweilen auch exorbitant hohe materielle Anerkennung erhielten. Sie gehörten zur Gruppe von geförderten KünstlerInnen, die unzählige Aufträge bekamen und deren Werke dank des Mäzenatentums der Staatspartei auch im Ausland inklusive westlichen Ländern präsentiert wurden. Als Sachverständige durften sie auch mitbestimmen, wer welchen Auftrag bekam und wer seine Kunst einer breiteren Öffentlichkeit darbieten durfte. Zu solchen geförderten AutorInnen gehörte z.B. Klára Fehér, deren übersetzte Bühnenwerke in der DDR, in Polen, in der Tschechoslowakei, in Bulgarien etc. aufgeführt wurden (Benedek 1963: 339). Genannt werden können an dieser Stelle auch Béla Illés oder Zoltán Zelk (ibid.: 408f.) sowie der literarische Übersetzer und Vertreter des sozialistischen Humanismus István Vas (Klaniczay 1985: 405).

Von den sowjetischen AutorInnen, die dank ihrer Linientreue in die geförderte Kategorie eingestuft und ins Ungarische übersetzt wurden, soll hier als Beispiel Michail Scholochow (Der stille Don, ung. Csendes Don) erwähnt werden. Später wurde er des Plagiats verdächtigt.

Zwischen diesen beiden Extremen gab es eine weitere, später eingeführte Kategorie, in die KünstlerInnen fielen, die nicht wirklich vom Staat gefördert wurden, deren Werke aber auch nicht komplett verboten waren. Da viele Kulturschaffende mal in die Kategorie „tűrt“ (geduldet), mal in die Kategorie „tiltott“ (verboten) eingeordnet wurden, können die Übergänge zwischen diesen beiden Gruppen als fließend bezeichnet werden. Zwischen den Kategorien „tűrt“ (geduldet) und „támogatott“ (gefördert) jedoch, gab es diese Übergänge nicht. Nur in Ausnahmefällen konnte es geschehen, dass geduldete Werke letztendlich in die Liste der geförderten Kulturprojekte aufgenommen wurden. So galt z.B. der Schriftsteller Tamás Aczél anfänglich als förderungswürdig. Aufgrund seiner Unterstützung für die sogenannten „Revisionisten“ und seiner Flucht nach 1956 in den Westen wurde er dann verboten, letztendlich aber doch geduldet (Benedek 1963: 7).

Hervorzuheben sind der Schriftsteller, Dichter, literarische Übersetzer und Literaturwissenschaftler Sándor Weöres sowie dessen Frau Amy Károlyi, die ebenfalls literarische Übersetzerin war und u.a. Gedichte von Emily Dickinson ins Ungarische übertrug. Beide, Weöres und Károlyi, waren zunächst verboten. Ausschlaggebend war wahrscheinlich ihre Ablehnung des staatlich propagierten sozialistischen Realismus. Da ihre Arbeit aber qualitativ hochwertig war und die beiden auch internationale Bekanntheit errangen, wurden sie in den 1970er und 1980er Jahren schließlich in die Kategorie „geduldet“ eingereiht (Klaniczay 1985: 350, 355–358, 427). Als weitere Beispiele für geduldete AutorInnen sind auch noch die Übersetzerin Ágnes Nemes Nagy sowie der Schriftsteller György Petri (ibid.: 411) zu erwähnen.

Nicht zu vergessen ist auch der 1938 geborene, sehr produktive Übersetzer und Autor Dezső Tandori. Seine Übersetzungen von T.S. Eliot, Johann Wolfgang von Goethe, Heinrich Heine, Karl Kraus (Az emberiség utolsó napjai 1976, Die letzten Tage der Menschheit), Georg Lukács, Robert Musil (A tulajdonsagok nélküli ember 1977, Der Mann ohne Eigenschaften) etc. (Klaniczay 1985: 410) gelten als ausgezeichnet.

Verbotenen AutorInnen und ihren ÜbersetzerInnen blieb, aufgrund des Bruchs mit den Normen der vorherrschenden Translationskultur, oft nur die Publikation in Form des sogenannten „Samisdat“. Ab dem Beginn der 1980er Jahre nahm György Konrád an der demokratischen Oppositionsbewegung in Ungarn teil. Der Großteil seiner Werke in Ungarn in der Ära Kádár erschien im „Samisdat“ (Veres [o.J.]).

9 Samisdat-Literatur als normbrechendes Phänomen

Verbotene Werke übten, besonders in autoritären Systemen, von je her eine gewisse Faszination auf die potenziellen LeserInnen aus. Sofern sie übersetzt wurden, stellten sie Abweichungen von den Normen der offiziell geltenden Translationskultur dar. Der wichtigste Weg zur Verbreitung derartiger Bücher im Sozialismus war der sogenannte „Samisdat“.

Der Begriff „Samisdat“ (самиздат: russisch сам „selbst“, издавать „auflegen“) ist eine aus dem Russischen stammende „Kurzform von самоизда́тельство“ (samoisdatelstwo), was so viel wie „Selbstverlag“ bedeutet. Er bezieht sich im weiteren Sinne auf den „Selbstverlag von Büchern, die nicht erscheinen dürfen“, im engeren Sinne auf „im Selbstverlag erschienene [verbotene] Literatur in der UdSSR“ (Duden 2017). Da in den sozialistischen Ländern dank groß angelegter Alphabetisierungskampagnen generell viel gelesen wurde, wurde über Druckerzeugnisse versucht, möglichst viele Menschen zu erreichen. Besonders riskant war die Verbreitung unzensierter, die offiziellen Normen verletzender Schriften (Alejewa 2017). Der Zweck der Samisdat-Literatur bestand aber gerade in der Zeit der „nachstalinistischen […] weichen Diktatur“ in Ungarn (Grob 2008) in der Verbreitung von Inhalten, die ansonsten von der Zensur verboten worden wären, weshalb die damit verbundenen Risiken (z.B. Ordnungs- und Verwaltungsstrafen, polizeiliche Vernehmungen etc.) (Jakab 2017) von RegimekritikerInnen immer wieder eingegangen wurden.

Obwohl es Vorläufer in den 1950er Jahren gegeben hatte, erschienen in Ungarn erst ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre Samisdat-Werke in größerer Zahl. Maschinengeschriebene Manuskripte wurden z.B. an bestimmten Tagen und zu bestimmten Zeiten in zum Teil eigens zu diesem Zweck angemieteten Wohnungen (ohne jeglichen Komfort) abgeholt. Später wurden diese Manuskripte mithilfe von Blaupausen von Sekretärinnen in verschiedenen Büros und auf Ämtern insgeheim neu getippt oder von Angestellten einer staatlichen bzw. genossenschaftlichen Druckerei jeweils nach Dienstschluss – beim Áramlat-Verlag in einer durchschnittlichen Auflage von 1.000 Exemplaren – heimlich gedruckt und die fertigen Kopien bzw. Bücher wieder zurück in die betreffende Wohnung gebracht, von wo aus sie wieder weiter verteilt wurden. In Ungarn wurde in diesem Zusammenhang auch von „butik-irodalom“ (Boutique-Literatur) gesprochen, wobei die jeweilige konspirative Wohnung, bisweilen auch das eine oder andere Kaffeehaus, gleichsam die „Boutique“ war. Diese „zweite“ Öffentlichkeit geriet immer mehr ins Fadenkreuz der Geheimdienste. Unter den AbnehmerInnen der Samisdat-Literatur befanden sich manchmal auch Maulwürfe und Spione der Polizei. Die für die Produktion und den Vertrieb von Samisdat-Literatur Verantwortlichen wurden regelmäßig vorgeführt, bedrängt und eingeschüchtert. Es gab mehrere Hausdurchsuchungen, und verschiedene Prozesse wurden vorbereitet, wobei das Regime jedoch keine Märtyrer schaffen wollte. Kurz vor der Wende in den Jahren 1988 und 1989 war Samisdat-Literatur schon vielerorts erhältlich. Zum Teil wurde bis dahin sogar die Fővárosi Szabó Ervin Könyvtár (Szabó-Ervin-Bibliothek), das einzige Netzwerk öffentlicher Bibliotheken in Budapest, mit Samisdat-Literatur beliefert (Jakab 2017).

Zu den weit verbreiteten Samisdat-Werken in Russland gehörten etwa Boris Pasternaks Doktor Schiwago und Alexander Solschenizyns Archipel Gulag (Alejewa 2017). Die ungarische von Judit Pór stammende Übersetzung des 1957 verfassten Romans Doktor Schiwago erschien offiziell erst 1988, d.h. ein Jahr vor der Wende (Régikönyvek 2017). Auch die ungarische Übersetzung des Romans Archipel Gulag kam offiziell erst 1989 heraus (Antikvárium.hu 2017). Die Übersetzung des gesamten Textes erschien 1993 im Európa-Verlag und stammte von András Soproni (Pálfalviné Wacha Orsolya [o.J.]).

Zu den wichtigsten Samisdat-Verlagen und -Zeitschriften gehörten neben dem AB-Verlag die Verlage ABC, Áramlat, Beszélő, Égtájak Között, Hiány, Katalizátor Iroda und Magyar Október (MO), wobei jedoch alle diese Samisdat-Verlage und -Zeitschriften Texte vom Beszélő-Verlag übernahmen.

Der Áramlat-Verlag beschäftigte sich zu einem großen Teil mit dem Nachdruck im Westen bereits erschienener Werke, wobei im Fall von zeitgenössischen Schriftstellern wie György Konrád, dessen Bücher in viele Sprachen übersetzt wurden, eine mündliche Einverständniserklärung zur Herausgabe derselben im „Samisdat“ eingeholt wurde. Die „Tantiemen“ wurden in Form von fünf bis zehn Autorenexemplaren „ausbezahlt“ (Jakab 2017).

Zu den bekanntesten Beispielen für zunächst verbotene und im „Samisdat“ erschienene, ins Ungarische übersetzte Texte gehören George Orwells Dystopie eines totalitären Überwachungsstaates, nämlich 1984, und die Satire Farm der Tiere (ung. Állati gazdaság). In Ungarn gab es bereits in den 1960er Jahren maschinengeschriebene, im „Samisdat“ erschienene Übersetzungen dieser Werke. Diese Übersetzungen stammten zunächst nicht von literarischen ÜbersetzerInnen, sondern engagierten AmateurInnen. Die Übersetzung von László Szíjgyártó wurde ab 1984 als „Samisdat“ veröffentlicht. Die ungarische Erstausgabe erschien 1986 im Verlag Forum Kiadó (Novi Sad), in Ungarn wiederum zuerst im Jahr 1989 (Európa Könyvkiadó) (vgl. Múlt-kor Kulturális Alapítvány 2013).

Ein weiteres bekannteres Beispiel ist Bulgakows Erzählung Hundeherz (russ. Собачье сердце, ung. Kutyaszív), wobei es sich um eine zynische Satire auf den „neuen sowjetischen Menschen“ handelt. Die ungarische Übersetzung dieses Romans wurde 1986 vom Csiky-Gergely-Theater in Kaposvár in Auftrag gegeben. Die Aufführung des Stücks wurde jedoch von den Behörden untersagt. Im selben Jahr wurde dieses Buch vom Samisdat-Verlag Katalizátor Iroda Könyvkiadó ohne Angabe des Namens des Übersetzers das erste Mal herausgegeben. Bei den haarsträubenden Experimenten des Protagonisten Professor Filipp Filippowitsch Preobraschenski handelt es sich um eine Warnung vor den Gefahren, die mit dem 1917 begonnenen Aufbau der kommunistischen Gesellschaft verbunden sind. Der Autor lehnt, vergleichbar mit Orwell, jede Form von Diktatur ab. Wie in Hundeherz spielen Tiere in vielen Werken Bulgakows eine wesentliche Rolle. Sie eignen sich besonders, um verschlüsselt Kritik zu üben. Dieses 1926 entstandene Werk konnte, wegen des vielfachen Normenbruchs, erst Jahrzehnte nach Bulgakows Tod 1987 offiziell in der Sowjetunion erscheinen. (Slonim 1972: 47, 49; Schröder 1994: 316, 318).

 

Die Samisdat-Literatur trug zur geistigen Vorbereitung der Wende 1989 in Ungarn bei, u.a. indem in ihr zum Teil im Wege der Übersetzung importierte regimekritische Inhalte aufgegriffen und verbreitet wurden und somit von Staat, Parteiideologie und Zensur auferlegte Denkverbote und Normen umgangen werden konnten.