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Historische Translationskulturen

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Binnenübersetzung als Teilbereich der italienischen Übersetzungskultur

Emanuela Petrucci

1 Übersetzungskultur und Binnenübersetzung

Im Rahmen der Reflexion über historische Translationskulturen werden hier der italienische Kulturraum und im Besonderen der Aspekt der Binnenübersetzung als Spezifikum der italienischen Übersetzungskultur untersucht. Ausgehend von einer Verortung des Terminus Übersetzungskultur sowie des Begriffs der Binnenübersetzung analysiert die folgende Arbeit auf Grundlage der Entstehung der italienischen Sprache die Binnenübersetzungen in der italienischen Literatur der vergangenen Jahrhunderte bis zur Gegenwart. Ziel dieser Arbeit ist es, auf Basis von Sekundärliteratur die Charakteristika der Binnenübersetzung herauszuarbeiten.

Bei Übersetzungskulturen handelt es sich „um die Praxis der literarischen Übersetzungstätigkeit, die der ‚eigenen‘ Lesekultur ‚fremde‘ Literaturen zugänglich macht und auf diese Weise die ‚eigene‘ Literaturlandschaft ergänzt“ (Kujamäki 2010: 259). Nach Kujamäki wird der Terminus Übersetzungskulturen durch drei Dimensionen definiert, die zugleich die Aufgaben der Übersetzungsforschung darstellen: äußere Übersetzungsgeschichte (Was, wo, wann, wie oft übersetzt worden ist?), innere Übersetzungsgeschichte (Wie ist die Übersetzung beschaffen?), Analyse von Übersetzungskonzeptionen im Sinne von Normvorstellungen und Erwartungen (vgl. ibid.: 261). Bezugnehmend auf die historische Dimension in der Betrachtungsweise der Übersetzungskultur wird nun die italienische Übersetzungskultur kurz umrissen.

In Italien setzt die Übersetzungskultur, bedingt durch einen im europäischen Vergleich späten Beginn der volkssprachlichen Literatur- und Schriftsprache, erst in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts mit den sogenannten volgarizzamenti1 ein. Ist die Anfangsphase der volgarizzamenti (bis etwa Mitte des 14. Jahrhunderts) noch von Unbefangenheit im Umgang mit dem Originaltext in Form von „[…] Einschüben, Aktualisierungen, Vereinfachungen und Umschreibungen“ (Lieber/Winter 2011a: 1913) geprägt, legt man im weiteren Verlauf besonderes Augenmerk auf Stil und Ausdruck bei gleichzeitigem Verzicht auf Manipulation des Originaltextes. Durch die übersetzerische Auseinandersetzung mit den Klassikern tragen die volgarizzamenti dai classici2 „am nachdrücklichsten zu einer Verfeinerung und Ausformung der italienischen (Schrift)sprache und literarischen Kultur bei“ (ibid.). Die Weiterentwicklung der volkssprachlichen Ausdrucksfähigkeit und die Vielfalt der volgari waren der Nährboden für die Herausbildung von Binnenübersetzung als spezielles Segment der Übersetzungskultur. Zunächst als Rezeption der sizilianischen Dichterkunst ins toskanische volgare, dann im Cinquecento vorwiegend als „‚dialektaler Protest‘ gegen das florentinisch-toskanische Primat innerhalb der Literatursprache“ (Lieber 2011: 1932) bis zum dialektalen Selbstbewusstsein „ohne jegliches legitimatorisches Bedürfnis“ (ibid.) im Ottocento und der wiederentdeckten Dialektalität des 20. und 21. Jahrhunderts.

Der Begriff der Binnenübersetzung ist untrennbar mit dem von Roman Jakobson zeichentheoretisch analysierten Begriff der „intralingualen Übersetzung“ verbunden. In seinem Artikel „On linguistic aspects of translation“ (1959/1995) unterscheidet der russische Linguist Roman Jakobson zwischen intralingualer, interlingualer und intersemiotischer Übersetzung. Die Grenzen zwischen den einzelnen Übersetzungstypen sind nicht immer eindeutig. Jörn Albrecht etwa weist darauf hin, dass sich die Grenze zur „intersemiotischen Übersetzung“ verhältnismäßig deutlich ziehen lässt, diejenige zwischen intralingualer und interlingualer Übersetzung aber davon abhängt, „welche sprachlichen Zeichen man als zum selben Zeichensystem gehörig ansieht“ (Albrecht 2008: 12).

Die Komplexität möglicher Grenzziehungen zwischen den einzelnen Übersetzungstypen ist auch daran erkennbar, welch unterschiedliche Übersetzungsaktivitäten dem Bereich der „intralingualen Übersetzung“ zugeordnet werden können. Wolfgang Pöckl etwa zählt dazu auch Übersetzungen: „[…] aus einem älteren Sprachzustand in den heutigen, aus einem Dialekt in die Standardsprache (und umgekehrt), aus einer medizinischen Fachsprache in die patientenfreundlichere Gemeinsprache, aus der Sondersprache der Drogendealer in die Protokollsprache der Juristen etc.“ (Pöckl 2007: 73). Auch Özlem Berk Albachten lenkt den Blick auf die überlappenden Bereiche von intralingualer und interlingualer Übersetzung. Ihr Fokus liegt auf dem Begriff der „interdialectal translation“, bei dessen Verortung sie auf Anthony Pym zurückgreift: „Translation between idiolects, sociolects, and dialects, might be considered ‘no different from those between more radically distanced language systems‘“ (Berk Albachten 2014: 574). Ebenso auf den Kontext von Dialekten bezogen schlägt Brian Mossop im Zusammenhang mit übersetzungstheoretischen Zuordnungen vor, „dialect rewording“ einer Sprache nicht dem intralingualen, sondern dem interlingualen Feld zuzuweisen, versteht er doch Standardsprache und Sprachvarietät als „different ‚linguas‘“, sobald ein Sprecher oder eine Sprecherin der „Lingua Y“ Hilfe benötigt, um die Aussage in der „Lingua X“ zu verstehen (vgl. Mossop 2016: 5)

Nach Maria Lieber „stellt die Binnenübersetzung, also die im spezifisch italienischen Kontext sprachkulturell verankerte, bewusste übersetzerische Tätigkeit von Autoren, eine durchaus traditionsreiche Konstante der italienischen Übersetzungskultur dar“ (Lieber 2011: 1932). Robert Lukenda übernimmt von Lieber die Bezeichnung der Binnenübersetzung als ein Spezifikum der italienischen Übersetzungskultur, deren übersetzerisches Handeln durch die jahrhundertelange Suche nach einer überregionalen Landessprache geprägt ist (vgl. Lukenda 2014: 43) und weist auf ihre multiple Vermittlungsfunktion zwischen Sprache und Dialekt hin: „[…] übersetzt wurde dabei sowohl in vertikaler Richtung, also vom Standarditalienischen in regionale Varietäten und vice versa, als auch in horizontaler Richtung, d.h. zwischen den einzelnen Dialekten […]“ (ibid.: 44). Im italienischen Sprachraum ist für das Wort Binnenübersetzung als Teilbereich der intralingualen Übersetzung keine korrespondierende Bezeichnung bekannt, die Themen der Binnenübersetzung werden nach der klassischen Dreiteilung von Jakobson unter traduzione endolinguistica bzw. intralinguistica (intralingualer Übersetzung) behandelt. Als Beispiel seien hier Lubello (2012: 49) und Desideri (2012: 15) erwähnt, die die Selbstübersetzungen von Luigi Pirandello vom Sizilianischen ins Italienische bzw. von neudialektalen Autorinnen und Autoren von einem italienischen Dialekt ins Standarditalienische und vice versa autotraduzione endolinguistica o intralinguistica nennen. Um das Phänomen der Binnenübersetzung anhand eines historischen Streifzuges durch die Literatur besser einordnen zu können, lohnt es sich, zuerst einen kurzen Blick auf die Entwicklung der Standardsprache und der Sprachvarietäten in Italien zu werfen.

2 Standardsprache und Sprachvarietäten in Italien: Ein historischer Überblick

Mit dem Ende der politischen Einheit ab dem Untergang des Weströmischen Reiches im Jahre 476 n. Chr. endet auf der italienischen Halbinsel auch die Zeit mit Latein als offizieller Sprache des Reiches. Italienisch als einheitliche Nationalsprache etabliert sich offiziell erst ab dem Jahre 1861 mit der Gründung des italienischen Staates. Dazwischen und weit darüber hinaus ist die Sprachlandschaft von regionalen, sich aus dem Vulgärlatein entwickelten Volkssprachen mit teilweise schriftlicher Tradition geprägt. Latein als Sprache der Gelehrten und der schriftlichen Kommunikation bleibt weiterhin jahrhundertelang parallel bestehen, wird aber langsam und stetig von den Volkssprachen verdrängt.

Die Frage nach jenem volgare (Volkssprache), das sich am besten als überregionale einheitliche Hochsprache eignet, stellt sich lange vor der politischen Einigung und dominiert im Laufe der Jahrhunderte als questione della lingua (Sprachfrage) die Sprachdebatte unter den Gelehrten. Dante Alighieri und die anderen trecentisti1 Francesco Petrarca und Giovanni Boccaccio erheben im 14. Jahrhundert mit ihren Werken das toskanische volgare in den Rang einer Literatursprache, die als Schriftsprache auch für nicht literarische Bereiche weit über die Toskana hinaus Verwendung findet. Im 16. Jahrhundert wird die Suche nach einer einheitlichen Dachsprache zugunsten des toskanischen volgare der trecentisti nach dem in seinem Traktat Prose della volgar lingua (erste Druckausgabe 1525) dargelegten Regelkanon des humanistischen Gelehrten Pietro Bembo (1470–1547) entschieden. Über die Benennung der Sprache wird ebenfalls debattiert: Häufige Bezeichnungen bleiben bis zur politischen Einigung fiorentino, toscano und italiano. Grundlegend für die Kodifizierung des toskanischen volgare vor, während und nach der Sprachdebatte sind im 15. und 16. Jahrhundert die Werke der Grammatiker, Lexikografen und neu gegründeten Akademien, allen voran der Accademia della Crusca. Die Erfindung des Buchdruckes um 1450 wirkt gleichfalls regulierend auf die Fixierung einer einheitlichen sprachlichen Norm und fördert die rasche Verbreitung der Schriftsprache.

Zum Zeitpunkt der Staatsgründung 1861 sind nur 2,5 % der gesamten Bevölkerung italophon. Zu den ersten Maßnahmen für die Italienisierung zählt die verpflichtende Einführung von Italienisch in den Grundschulen. Entscheidend für eine breitere Durchsetzung in den bildungsfernen Schichten und einen Rückgang der Dialekte sind Militärdienst, Industrialisierung, Urbanisierung und Binnenmigration (vgl. De Mauro 2002: 44–53). In der Zeit der faschistischen Diktatur (1922/25–1943) wird, nach einer zunächst toleranten Haltung in der Sprachpolitik, ab den 1930er Jahren die unbedingte Durchsetzung der Nationalsprache mit gleichzeitiger Ablehnung und Unterdrückung von Dialekten, Minderheitssprachen und fremdsprachlichen Einflüssen autoritär verfolgt (vgl. Reutner/Schwarze 2011: 178f.). Mit dem beginnenden wirtschaftlichen Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg sowie durch den massiven Einfluss audiovisueller Medien kommt es zum endgültigen Durchbruch einer gemeinsamen Sprache (Sabatini/Coletti/Maraschio 2006: 1f.; Murrali 2015).

 

Zusammenfassend ist anzumerken, dass die fast achthundertjährige Geschichte der italienischen Sprache, von den volgari illustri2 über die Etablierung, dann Normierung und erst Jahrhunderte später die Verbreitung des toscano illustre als italienische Landessprache einen Prozess darstellt, der noch heute andauert. Seit jeher ist die italienische Literatur von der wechselseitigen Beeinflussung von Sprache und Dialekt geprägt und nach Contini (1970: 611) „sostanzialmente l’unica grande letteratura nazionale“3, deren dialektale Produktion untrennbarer Teil des literarischen Kulturgutes ist. In diesem Zusammenhang kommen Binnenübersetzungen ins Spiel: „[I]n principio fuit interpres“, schreibt Gianfranco Folena in seinem berühmten Werk Volgarizzare e tradurre (1994: 3) und hält fest: „[…] all’inizio di nuove tradizioni di lingua scritta e letteraria […] sta molto spesso la traduzione“.4

3 Binnenübersetzung in Italien: Von Anonimo toscano bis Zanzotto

Bereits Dante setzte sich mit der Vielzahl der zu seiner Zeit auf der italienischen Halbinsel verbreiteten volgari auseinander. In seinem Werk De Vulgari Eloquentia (zw. 1303 und 1305) ordnet er vierzehn sprachliche Hauptvarietäten geografisch zu und merkt an: „[A] considerare anche le varietà ‚secondarie e minime, in questo solo piccolissimo cantone del mondo […] si potrebbe giungere a mille parlate e anche oltre‘“1 (Vignuzzi 2010). Aus dieser Sprachvielfalt ergab sich eine rege Übersetzungstätigkeit. Neben den volgarizzamenti bilden ab der Hochrenaissance Binnenübersetzungen ein eigenes Kapitel innerhalb der letterature dialettali (dialektalen Literaturen) (vgl. Brevini 1999: 1518f.; Arcangeli 2015: 12). Der folgende Abschnitt behandelt ausgewählte Originalwerke im Kontext von Binnenübersetzungen, die unter dem Aspekt der Zielsprache und in chronologischer Reihenfolge erfasst sind.

3.1 Von den volgari illustri ins toscano illustre

Erste Formen von Binnenübersetzungen von den unterschiedlichen volgari illustri ins toscano illustre finden sich in handschriftlichen Transkriptionen von im siciliano illustre verfassten Originalwerken der sizilianischen Dichterschule des 13. Jahrhunderts. Die auslösende Motivation dafür war der Wunsch, das Wissen der damaligen Zeit zu sichern und zu verbreiten. Diese Manuskripte wurden vorwiegend von toskanischen Kopisten ab dem letzten Viertel des 13. bis zur ersten Dekade des 14. Jahrhunderts erstellt, beginnend von Anonimo toscano bis hin zu bekannten Vertretern wie Bonaggiunta Orbiggiani oder Guittone d’Arezzo. Es handelt sich um eine „vera e propria ‚conversione‘ da un sistema linguistico a un altro“1 (Coluccia 2005).

Ein weiterer Grund für Binnenübersetzungen ins toscano illustre war das Ansehen des Toskanischen im Zusammenhang mit der questione della lingua. Ein Beispiel dafür ist das von Matteo Maria Boiardo (1441–1494) in einer norditalienischen, im Raum der Po-Ebene geprägten Sprachvariante verfasste, sehr populäre dreibändige Ritterepos Orlando innamorato (1495), dessen Sprache im Zuge der Sprachdebatte des 16. Jahrhunderts als minderwertig betrachtet wurde. Einige Gelehrte bemühten sich daraufhin um eine sprachliche Neugestaltung des Werkes ins Toskanische. Die bis ins 19. Jahrhundert anerkannteste Version (1541) des toskanischen Dichters Francesco Berni weist im Vergleich zum Original einen dem Zeitgeist angepassten Charakter mit burlesken Passagen auf (vgl. Mutini 1967).

Ein weiterer Anlass für Binnenübersetzungen vom volgare illustre ins toscano illustre war das Bemühen um eine bessere Verständlichkeit und größere Verbreitung der betreffenden Inhalte. Der in Bezug auf seine eigene Sprachvarietät sehr selbstbewusste venezianische Autor Carlo Goldoni (1707–1793) übertrug „per essere inteso in Toscana, in Lombardia e in Venezia“2, wie Goldoni selbst anmerkte (Trifone 2015: 198), weite Teile seiner auf Venezianisch verfassten Komödien ins Toskanische bzw. erstellte Glossare einzelner Ausdrücke zum besseren Verständnis, allerdings „ohne purifizierende Intention“ (Lieber/Winter 2011b: 1928).

Auch bei der Suche nach einer überregionalen Literatursprache als Basis für die Entwicklung einer Nationalsprache spielten Binnenübersetzungen vom volgare illustre ins toscano illustre eine Rolle. So überarbeitete der Mailänder Alessandro Manzoni (1785–1873) in seiner Rolle als interdialektaler Selbstübersetzer die erste Fassung seines Romans I promessi sposi gleich zweimal und brachte diesen von einer lombardisch-toskanisch-französischen Sprachmischung in die im zeitgenössischen Florentinisch gehaltene dritte Version des Jahres 1840. Die Toskanisierung des Werkes dauerte somit fast zwanzig Jahre (vgl. Lieber 2011: 1932f.; Lukenda 2014: 44f.).

3.2 Vom toscano illustre in die volgari illustri

Der Klassiker der toskanischen Literatur, Dante Alighieris (1265–1321) Divina Commedia, wird ab Beginn des 19. Jahrhunderts Gegenstand einer „vera e propria ‚Dantemania‘“1 (Basile 2015: 15): Unter der beachtlichen Anzahl an Übertragungen – darunter auch parodistischer Natur – der Commedia in unterschiedliche regionale Sprachvarietäten finden sich sowohl Übersetzungen ausgewählter Gesänge als auch des gesamten Werkes (ibid.: 19). Die allererste Übersetzung erschien in Form einer Parodie und stammt vom Mailänder Mundartdichter Carlo Porta, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts ausgewählte Gesänge der Commedia ins Lombardische übertrug (vgl. Isella 1970). Noch im ausgehenden 19. Jahrhundert werden die ersten zwei vollständigen Übersetzungen der Commedia, 1875 die venezianische Fassung von Giuseppe Cappelli und 1892 die kalabrische von Salvatore Scervini, herausgegeben. Am Beispiel dreier Übersetzungen ins Genuesische von Giovan Battista Vigo (1889), Angelico Federico Gazzo (1909) und Silvio Opisso (1950) analysiert Fiorenzo Toso in seiner Abhandlung Riprodurre il senso o la forma (2009) Zugänge zur Binnenübersetzung: Bei der volkstümlichen, leicht parodistischen Version von Vigo steht der Unterhaltungswert im Vordergrund, bei Gazzo das Bestreben, die Ausdrucksfähigkeit „seines“ genovese illustre zu beweisen; bei Opisso ist die sinngemäße Wiedergabe des Inhaltes, mitunter auf Kosten der sprachlichen Reinheit, Priorität (vgl. Toso 2009: 40ff.).

In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurde das Decameron (1349–1351) von Giovanni Boccaccio (1313–1375) einer inhaltlichen und sprachlichen Revidierung unterzogen: Sein Florentinisch des 14. Jahrhunderts wurde in das Florentinische des 16. Jahrhunderts übertragen. Im Zuge dessen befasste sich auch Leonardo Salviati (1540–1589), der Initiator der Accademia della Crusca, mit dem Werk Boccaccios und ließ, inmitten der Debatte über die Sprachenfrage, aus dem Decameron die neunte Novelle des ersten Tages La dama di Guascogna e il re di Cipro in zwölf italienische Sprachvarietäten übersetzen. Diese Gegenüberstellung sollte einerseits die sprachliche Kontinuität zwischen der florentinischen Urfassung aus dem 14. Jahrhundert und der Version in modernem Florentinisch, andererseits aber auch die großen Unterschiede zu folgenden nicht toskanischen Regionalvarianten sichtbar machen: bergamasco, veneziano, friulano, istriano, padovano, genovese, mantovano, milanese, bolognese, perugino und napoletano. Die römische Variante wurde nicht berücksichtigt, und die Varietäten der südlichen Regionen der italienischen Halbinsel wurden unter dem neapolitanischen Dialekt subsumiert (vgl. Finco 2014: 315). Zum Anlass des fünfhundertsten Todestages von Boccaccio und als Beitrag zur Dialektforschung publizierte 1875 der Bibliograf Giovanni Papanti aus Livorno unter dem Titel I Parlari Italiani in Certaldo nel V Centenario di Messer Giovanni Boccacci eine Sammlung der Übersetzungen der obengenannten Novelle in den Dialekten von 704 italienischen Ortschaften (Vignuzzi 2010).

Im Jahre 1540 übertrug unter dem Titel Roland furius de Mesir Lodevic Ariost. Stramudad in lengua bergamesca ein unbekannter Übersetzer das im toscano illustre verfasste Epos Orlando furioso (1532) von Lodovico Ariosto (1474–1533) in die Sprachvarietät der Stadt Bergamo. Ebenfalls anonym, aber in einer parodisierenden paduanischen Version erschien 1582 Li tre primi canti dell’Orlando furioso tradotti in lingua rustica padovana.

Ein ebenfalls im toscano illustre verfasstes Werk, das eine beachtliche Anzahl an Binnenübersetzungen in nicht toskanische Sprachvarianten erfährt, ist La Gerusalemme liberata (1575) von Torquato Tasso (1544–1595). Das Heldenepos wurde im 17. und 18. Jahrhundert zum Gegenstand von Travestien und Parodien. Eine volkstümliche Variante zum Toskanischen ist die vollständige Version von Giovanni Francesco Negri in der Mundart von Bologna Tradottione della Gerusalemme liberata del Tasso in lingua bolognese popolare (1628). Als parodistische Reinterpretation der heroischen Inhalte versteht sich die zweisprachige venezianische Ausgabe aus dem Jahre 1693 von Tommaso Mondini El Goffredo del Tasso cantà alla barcariola (vgl. Lasagna 2011). Unter den auszugsweisen bzw. vollständigen Übertragungen in andere regionale Varietäten finden sich Versionen in den Sprachvarietäten der Städte Belluno, Bergamo, Genua, Mailand und Perugia sowie der Region Kalabrien (vgl. Serassi 1785: 562f.). Die Übertragung ins Neapolitanische unter dem Titel La Gierusalemme Libberata de lo sio Torquato Tasso stammt von dem Geistlichen Gabriele Fasano (1654–1689). Er gestaltete seine Übersetzung zwar in Form einer Parodie, verstand sie aber nicht als bloße parodistische Nachahmung des Originals, sondern wollte sich mit den linguistischen Aspekten auseinandersetzen (vgl. Marotta 1995) und beweisen, dass auch ein literarisch anspruchsvolles Werk wie jenes von Tasso in ein von Alltagssprache bzw. volkstümlichen Ausdrücken bereinigtes napoletano illustre übertragen werden kann. Die erste Ausgabe des Jahres 1689 ist eine zweisprachige Luxusausgabe mit der toskanischen Originalversion von Tasso und wurde der neapolitanischen Aristokratie als Dank für die Finanzierung gewidmet (vgl. De Maio [2012]). Ausgehend von Fasanos Urversion auf Neapolitanisch wurden sieben weitere Ausgaben veröffentlicht, die letzte im Jahre 2013 von Vito Pinto unter dem Titel Lo tasso napoletano mit einer Übersetzung ins Italienische.

Bereits im 15. Jahrhundert hatte sich Venedig als Zentrum des Buchdruckes etabliert und zu einem „Zentrum der dialektalen Binnenübersetzung“ (Lieber/Winter 2011b: 1928) entwickelt. So übertrug im Jahre 1747 Giuseppe Pichi einen Text der italienischen Literatur rein volkstümlichen Charakters vom Toskanischen ins Venezianische. Es handelt sich um die populären Erzählungen von Giulio Cesare Croce (1550–1609) und Adriano Banchieri (1568–1634) Bertoldo, Bertoldin e Cacasenno (1620). Das Werk Pichis wurde unter dem Titel Traduzion dal Toscan in Lengua Veneziana de Bertoldo, Bertoldin e Cacasseno zweisprachig gestaltet und enthielt ein Wörterverzeichnis wie auch Phrasen venezianischer Redensarten mit Bedeutungserklärungen.