Historische Begegnungen

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Der Anfang vom Ende? Rudolf Brun und Agnes von Ungarn als Teil einer abdankenden Generation

Rudolf Brun hält sich als herzoglicher Rat im Sommer 1360 in Thann im südlichen Elsass auf und bezeugt mit seinen Ratskollegen die Übergabe der Besitztümer des Bistums Chur für acht Jahre an Habsburg-Österreich. Wenige Wochen später stirbt er. Er wird in der Peterskirche in Zürich, deren Patronat er 1345 selbst gekauft hatte, begraben. Brun fühlt sich bis zu seinem Tod als Teil des vorderösterreichischen Adels und sucht die Nähe zu den habsburgischen Herzögen. Nach dem Tod von Albrecht II. 1358 ist dies der junge und äusserst ehrgeizige Rudolf IV., Schwiegersohn des Kaisers. Rudolf treibt den Ausbau der habsburgischen Besitzungen in Schwaben und der heutigen Schweiz intensiv voran. Vor Augen hat er eine Wiedererrichtung des seit dem Interregnum Mitte des 13. Jahrhunderts zerfallenen Herzogtums Schwaben. Die Stadt Zürich ist nach wie vor von starken Positionen von Habsburg-Österreich umgeben, und Bruns Ziel, ein städtisches Territorium vor allem am oberen Zürichsee aufzubauen, ist mit dem Regensburger Frieden vorerst gescheitert. Und trotzdem bleibt mit dem Bündnis mit den Waldstätten, Luzern und Bern etwas bestehen, das längerfristig Bestand haben wird. Bruns Nachfolger als Bürgermeister Zürichs wird Rüdiger Manesse. Manesse sucht verstärkt die Nähe zum Reich und erreicht schon 1362 eine Privilegienbestätigung des Kaisers für die Stadt. Die eidgenössisch gesinnte Partei in Zürich erstarkt. Herzog Rudolf ist unterdessen mit seinen Anmassungen bei seinem kaiserlichen Schwiegervater in Ungnade gefallen.

Nicht nur in Zürich bahnen sich Änderungen an. In den folgenden 25 Jahren werden auch die Führungsgruppen in den Waldstätten, die noch Beziehungen zum habsburgischen Adel haben, gestürzt oder ausgewechselt. Die Ära der Attinghausen in Uri ist mit dem Tod von Landammann Johann von Attinghausen 1359 zu Ende. Im gleichen Jahr löst das Land Uri einen grossen Teil der Rechte von verschiedenen Klöstern im Tal aus. Die Hunwil in Obwalden werden 1382 gestürzt, der Luzerner Schultheiss Peter von Gundoldingen zwei Jahre später. In Zürich stehen sich bis nach der Schlacht bei Sempach eine eidgenössisch und eine habsburgisch orientierte Partei gegenüber. Die Optionen sind auf beiden Seiten noch offen. 1393 gibt es einen Annäherungsversuch an Habsburg-Österreich, der aber rasch gestoppt wird. Und 50 Jahre später wechselt Zürich tatsächlich noch einmal die Seiten und nähert sich Habsburg-Österreich an. Der Alte Zürichkrieg zwischen 1436 und 1450 zeigt auf, dass die alten Fronten immer noch offen sind und auch ein anderer Ausgang möglich gewesen wäre.

Agnes von Ungarn überlebt Rudolf Brun um vier Jahre. Ihren politischen Einfluss als Schiedsrichterin hat sie schon früher eingebüsst. Ihr gescheiterter Vermittlungsversuch zwischen Zürich und Habsburg im Oktober 1351 wird ihrem Ruf als unabhängige Vermittlerin geschadet haben. In der Familie selbst scheint sie aber nach dem Tod ihres Bruders Albrecht 1358 weiterhin eine Rolle gespielt zu haben. Insbesondere vermittelt sie ihren Schützling Johann Ribi Schultheiss aus Lenzburg ihrem Neffen Rudolf als Kanzler. Ribi wird Bischof von Gurk und später von Brixen und entwickelt sich zur wichtigsten Figur um den Herzog über dessen Tod hinaus. Agnes beginnt in dieser Zeit ihren Nachlass zu ordnen. Rudolf bestätigt anlässlich eines Besuchs in Königsfelden an Ostern 1361 sämtliche von Agnes zugunsten des Klosters gemachten Vergabungen und Verordnungen. Agnes betraut Johann Ribi Schultheiss zusammen mit ihrem Neffen Rudolf am 8. Februar 1362 mit der Verwaltung der Güter. Bis kurz vor ihrem Tode kauft sie zugunsten des Klosters Besitztümer, so zum Beispiel Kirche und Dorf Birmenstorf am 11. Juli 1363. Und sie verfügt, dass ihr Haus neben dem Chor der Kirche nach ihrem Tod abgerissen wird. Altersschwach geworden, verstirbt sie im Juni 1364 im hohen Alter von 84 Jahren. Bereits ein Jahr zuvor war es Rudolf IV. gelungen, die Grafschaft Tirol in den Habsburger Machtbereich zu integrieren.

Die Dynastie gerät nach dem frühen Tod von Herzog Rudolf IV. im Jahr 1365 in eine schwere innere Krise, die mehrere Jahrzehnte andauert. Teilungen und bürgerkriegsähnliche Zustände folgen sich innert weniger Jahre. Der Präsenz und dem Einfluss der Habsburger in den vorderösterreichischen Ländern ist dies nicht zuträglich. Die Katastrophe von Sempach 1386 mit dem Tod von Leopold III. und der Verlust des Aargaus 1415, später weiterer Gebiete in der Ostschweiz, sind auch vor diesem Hintergrund zu verstehen, nicht nur als Ausdruck einer erstarkenden Eidgenossenschaft. Auch das Kloster Königsfelden verliert nach dem Tod der Agnes rasch an Glanz und Prestige.

Unterschiedliche Deutungen zweier aussergewöhnlicher Persönlichkeiten

Obwohl sich Rudolf Brun und Agnes von Ungarn auf Augenhöhe begegneten, fällt das Urteil der eidgenössischen Geschichtsschreibung mit Blick auf diese zwei aussergewöhnlichen Persönlichkeiten sehr unterschiedlich aus.

Rudolf Brun wird als der bedeutendste Politiker Zürichs im 14. Jahrhundert bewertet. Positiv wird vermerkt, dass er stets die Interessen seiner Stadt verteidigte, die Stellung der Stadt innerhalb des Reichs und gegenüber Habsburg-Österreich und den Waldstätten stärkte und eine städtische Territorialpolitik einleitete. In die Schweizer Geschichte eingegangen ist er als der Initiator des Bundes mit den Waldstätten vom 1. Mai 1351. Auch wenn eher aus der Not geboren, blieb das Bündnis für die Zukunft bedeutsam. Der Erfolg der Eidgenossenschaft im 15. Jahrhundert liegt vor allem im Zusammengehen von Städten und Ländern begründet, einem Modell, das im Reichsverband einzigartig blieb. Umgekehrt blieb Brun seiner adligen Herkunft treu, fühlte sich im Umkreis des vorderösterreichischen Adels wohler als unter den Landleuten der Innerschweiz. Und mit seinem fast diktatorisch auf seine Person zugeschnittenen Regime wurde er aus eidgenössischer Perspektive auch ambivalent beurteilt, als ehrgeiziger Emporkömmling, der wenig mit dem später so hochstilisierten demokratischen Ursprung der Eidgenossenschaft gemein hatte. Die oligarchisch geprägten Verfassungen, die keine diktatorischen Alleingänge mehr zuliessen, setzten sich in den Städten durch. In diesem Sinn war Brun eine Person des Übergangs, Vertreter einer zumindest im Raum des schweizerischen Mittellandes verschwindenden Adelslandschaft, der aber Grundlagen für die Zukunft erarbeitet hatte.

Auch Agnes von Ungarn kann in Bezug auf die Dynastie der Habsburger als Person des Übergangs betrachtet werden. Als Enkelin von Rudolf von Habsburg und Meinhard von Görz-Tirol war sie noch Teil der Generation der grossen Aufsteiger aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Sie lebte nicht mehr das Leben eines kleinen Grafengeschlechts aus dem Elsass und dem Aargau, sondern das einer Reichsfürstin mit Beziehungen in die höchsten Kreise.

In der eidgenössischen Geschichtsschreibung erfuhr die Person der Agnes eine völlig andere Beurteilung als Rudolf Brun. Sie erhielt in der Befreiungsgeschichte eine Rolle zugewiesen, die zum allergrössten Teil erfunden war: als grausame Rächerin ihres Vaters, die im Blut der Verschwörer vom 1. Mai 1308 watete. Aus der weisen wurde eine listige, aus der politisch begabten eine brutal agierende Frau. Die jüngere Geschichtsschreibung hat nachgewiesen, dass eine Beteiligung von Agnes an der Blutrache ausgeschlossen ist.

Das negative Bild aus eidgenössischer Sicht wird nicht nur aus der ihr zugeschriebenen Rolle in der Blutrache genährt. Agnes erhielt auch das Etikett der bösen Stiefmutter. Dies rührt aus dem wahrscheinlich erzwungenen Eintritt ihrer Stieftochter Elisabeth in das Kloster Töss bei Winterthur. Nachdem ein Heiratsprojekt Elisabeths mit König Wenzel von Böhmen gescheitert war und die Habsburger die Thronfolge des Karl Robert Anjou in Ungarn anerkannt hatten, hatte die ungarische Prinzessin ihre Bedeutung als politisches Pfand verloren, konnte sogar zur Hypothek werden. Ein Verschwindenlassen hinter Klostermauern war daher naheliegend. Die Chronik von Töss, wahrscheinlich im letzten Viertel des 14. Jahrhunderts entstanden, schiebt Agnes die Hauptrolle in dieser Versorgung der Stieftochter ins Kloster zu. Agnes als politischer Arm der Habsburger im Westen könnte diese Rolle durchaus gespielt haben. Allerdings förderte Agnes neben Königsfelden auch das Kloster Töss stark.

Das Bild der politischen Agnes wird in der habsburgnahen vorländischen Chronistik des 14. Jahrhunderts angedeutet – bei Matthias von Neuenburg und Johannes von Winterthur, die beide die Zeit der Agnes noch zu Lebzeiten erfuhren –, aber noch wenig herausgearbeitet. Die frühe eidgenössische Chronistik – die Chronik der Stadt Zürich und die Berner Chronik des Konrad Justinger – hebt die Schiedstätigkeit der Habsburgerin erstmals deutlich hervor. Aus dieser politisch weisen Frau wurde an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert in der eidgenössischen Geschichtsschreibung die listige und böse Frau. Die Grundlage dazu legte der Zürcher Chronist Heinrich Brennwald in seiner Chronik im Jahr 1515. Brennwald würdigt zwar noch die Schiedstätigkeit der Agnes, schreibt ihr aber eine wesentliche Rolle in der Blutrache nach 1308 zu. Brennwalds Darstellung wurde dann von Johannes Stumpf und Aegidius Tschudi noch markant ausgeweitet. Bei Tschudi wird auch ihre Tätigkeit als Schiedsrichterin negativ bewertet: Sie habe immer nur den Vorteil ihres Hauses im Blickfeld gehabt. Damit war das Bild der Agnes in der Schweizer Geschichte festgeschrieben. Erst die moderne, auf Urkunden basierende Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert begann das Bild zu korrigieren. Der Biograf Hermann von Liebenau schoss dabei mit seiner fast hagiografischen Lebensgeschichte 1868 über das Ziel hinaus. Die Schweizer Geschichtsschreibung Ende des 19. Jahrhunderts würdigte Agnes schliesslich als kluge habsburgische Politikerin, ein Bild, das nach wie vor gültig ist. Aus heutiger Sicht wird man zudem ihre besondere Rolle als Frau hervorheben. Aufgrund ihrer Herkunft und ihres Status konnte sie sich als eigenständige Frau in den Herrschaftsstrukturen der Zeit behaupten – auf Augenhöhe mit den Mächtigen der Zeit. Ganz wenige Frauen haben dies geschafft.

 

Literatur

– Boner, Georg: Königin Agnes von Ungarn. In: Brugger Neujahrsblätter 1964, 3–30. Brugg 1963.

– Boner, Georg: Die politische Wirtksamkeit der Königin Agnes von Ungarn. In: Brugger Neujahrsblätter 1965. Brugg 1964, 3–17.

– Geschichte des Kantons Zürich, Band 1, Frühzeit bis Spätmittelalter. Hg. von der Stiftung Zürcher Kantonsgeschichte. Zürich 1995.

– Kurmann-Schwarz, Brigitte: Die mittelalterlichen Glasmalereien der ehemaligen Klosterkirche Königsfelden. Corpus Vitrearum Medii Aevi Schweiz II. Bern 2008.

– Largiadèr, Anton: Bürgermeister Rudolf Brun und die Zürcher Revolution von 1336. Mitteilungen der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich, Band 31, Heft 5. Zürich 1936.

– Largiadèr, Anton: Geschichte von Stadt und Landschaft Zürich, Band 1. Zürich 1945.

– Liebenau, Hermann von: Urkundliche Nachweise zu der Lebensgeschichte der verwitweten Königin Agnes von Ungarn 1280–1364. In: Argovia 5. Aarau 1866, 1–192.

– Liebenau, Hermann von: Lebens-Geschichte der Königin Agnes von Ungarn, der letzten Habsburgerin des erlauchten Stammhauses aus dem Argaue. Regensburg 1868.

– Liebenau, Hermann von: Hundert Urkunden zu der Geschichte der Königin Agnes, Wittwe von Ungar, 1288–1364. Regensbrug 1869.

– Meyer, Bruno: Die Bildung der Eidgenossenschaft im 14. Jahrhundert. Vom Zugerbund zum Pfaffenbrief. Zürich 1972.

– Nevsimal, Alfred: Königin Agnes von Ungarn. Leben und Stellung in der habsburgischen Politik ihrer Zeit. Dissertation Universität Wien. Wien 1951 (Typoskript).

– Regli, N.: Das Bild der Königin Agnes von Ungarn in der schweizerischen Geschichtsschreibung. Lizentiatsarbeit Universität Zürich. Zürich 1970 (Typoskript).

– Schneider, Jürg E.: Bürgermeister Rudolf Brun, 1336–1360. In: Geschichte der Schweiz. Fenster in die Vergangenheit I, Heft 32. Hg. von der Gesellschaft für militärhistorische Studienreisen. Zürich 2011, 73–79.

– Stettler, Bernhard: Habsburg und die Eidgenossenschaft um die Mitte des 14. Jahrhunderts. In: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, 23. Jahrgang. Basel 1973, 750–764.

– Teuscher, Simon; Moddelmog, Claudia (Hg.): Königsfelden. Königsmord, Kloster, Klinik. Baden 2012.

– Zürich 650 Jahre eidgenössisch. Hg. vom Staatsarchiv des Kantons Zürich und von der Zentralbibliothek Zürich. Zürich 2001.

Der Reformator gegen
den Radikalen
Ulrich Zwingli
UND
Conrad Grebel


Wie revolutionär durfte die Zürcher Reformation sein
Peter Kamber

Zwingli gab sich kühl, als der Täufer Conrad Grebel am 8. Oktober 1525 in der Nähe von Hinwil im umkämpften Zürcher Oberland durch Landvogt von Grüningen verhaftet und in den Neuen Turm in Zürich eingeliefert wurde: «Der Unglücksmensch suchte ja immer ein Schauspiel mit traurigem Ende, jetzt hat er es.» Über mehrere Monate lagen Conrad Grebel und sein am 31. Oktober 1525 ebenfalls eingefangener Freund Felix Manz mit zahlreichen anderen Täufern und Täuferinnen im Neuen Turm, der an der damaligen Stadtmauer hinter dem Predigerkloster stand – bis ihnen allen am 21. März 1526 eine spektakuläre Flucht gelang. Mit einem losen Brett, das sie aus dem Fussboden gerissen hatten, stiessen sie in der Nacht ein loses Brett in der Decke weg, halfen einander gegenseitig ins obere Stockwerk, von wo sie sich aus einer schmalen Fensteröffnung über die Aussenmauer abseilen konnten.

Auf der Flucht erlag Conrad Grebel, der pazifistische täuferische Prediger gegen die Obrigkeit, im Sommer 1526 bei seiner ältesten Schwester Barbara in Maienfeld im Bündner Rheintal der Pest. Ohne diesen frühen Tod wäre es ihm gleich ergangen wie seinem Freund Felix Manz. Der wurde im Dezember 1526 einmal mehr gefangen genommen und auf Betreiben von Ulrich Zwingli am 5. Januar 1527 in Zürich hingerichtet – durch Ertränken in der Limmat. Auch manche Hexen und die Kindsmörderinnen starben so, aber die Strafmassnahme gegen die Täufer erschien zusätzlich als Symbol: In ihrem Taufwasser sollten sie zugrunde gehen, die daran festhielten, Jesus und seine Apostel hätten gewollt, dass zur Einsicht gebrachte Erwachsene getauft würden, nicht ahnungslose Neugeborene.

Conrad Grebel, Sohn eines Mitglieds des regierenden Kleinen Rats, und Felix Manz, das illegitime Kind eines Chorherren am Grossmünster, der schon vor der Reformation verstorben war, waren die prominentesten jungen Stadtzürcher im Kreis jener Radikalen, die im Januar 1525 in der Limmatstadt die Taufbewegung begründeten und sich mit diesem Schritt, nach langem Richtungsstreit, endgültig mit Zwingli überwarfen. Sie wollten die Kirche vom Staat lösen, um als Gemeinschaft Gleicher ohne Hierarchie helfend füreinander einzustehen, auch in der Not zu teilen, was sie besassen. Auch sollte jeder und jede predigen und aus den Evangelien vortragen dürfen. In der Glaubenstaufe sahen sie ein einigendes Zeichen.

Hoffnung einer Jugend

Conrad Grebels Geburtsdatum ist nicht bekannt, aber 1504 waren er, sein jüngerer Bruder Andreas sowie drei seiner Schwestern, Barbara, Euphrosine und Martha, schon auf der Welt. Grebel dürfte etwa 15 Jahre jünger gewesen sein als der am 1. Januar 1484 in Wildhaus/Toggenburg geborene Ulrich Zwingli.

1517 zählte Conrad Grebel vermutlich noch keine 20 Jahre und studierte seit zwei Jahren in Wien, als er einen Brief Zwinglis erhielt. In humanistischen Kreisen kannte jeder jeden, und Zwingli musste zu Ohren gekommen sein, dass da ein junger, vielversprechender Zürcher mit lateinischen Dichtungen von sich reden machte. Conrad Grebel litt an einer leichten Sprechhemmung, über die nichts weiter bekannt ist, als dass er selbst sich als «einsilbig» bezeichnete und als Jüngling in beständiger Furcht gelebt hatte, einen Anlass zu geben, ihn auszulachen. Umso freier äusserte er sich schriftlich. Wie seine zahlreichen erhaltenen Briefe zeigen, schwankte er ständig zwischen aufschiessender Euphorie und Melancholie. Oft blieb er selbst in der Schwermut ironisch.

Verschwenderisch lebte er von ungeliebten, politisch heiklen Stipendien, die ihm sein Vater zuerst bei Vertrauten des Kaisers und dann bei der französischen Krone besorgte, gab dieses Geld vielleicht gerade deshalb für «Bauch, Bücher und Kleider» aus, wie er Vadian – der bekannte St. Galler Humanist und Arzt wurde im Sommer 1519 sein Schwager – am 14. Januar 1520 selbst gestand. Seit Ende 1518 studierte Conrad Grebel in Paris weiter. Er suchte die Geselligkeit, stellte aber so hohe Anforderungen an die Freundschaft, dass er entsprechend schnell zu enttäuschen war. Durch den plötzlichen Briefkontakt mit Zwingli fühlte er sich geehrt und gerührt.

Dieser Fernfreundschaft haftete etwas Ungleiches an. Grebel hatte sich schon in Wien auf einen üblen Fechtkampf eingelassen, bei dem ihm beinahe der rechte Arm abgetrennt worden wäre. In Paris nun gerieten er und seine Freunde am 1. Mai 1519 mit Franzosen in einen Kampf, bei dem zwei französische Widersacher tot liegen blieben. Vermutlich entging Grebel nur deshalb einem Strafprozess, weil kurz danach die Pest ausbrach und er vor ihr nach Melun an der Seine flüchtete, ehe er im Januar in die Hauptstadt zurückkehrte und schliesslich Anfang Juli 1520 wieder in Zürich eintraf.

Nicht auszuschliessen ist, dass Zwingli, als er die Freundschaft des jungen Conrad Grebel suchte, mindestens ebenso sehr auf die Verbindung zu dessen Vater abzielte: Junker Jakob Grebel war ein einflussreicher Eisenhändler und im Kleinen Rat für die Zürcher Aussenpolitik zuständig. Sein Wort zählte unter Eidgenossen, nicht zuletzt wegen dessen Ehefrau Dorothea, Tochter des ehemaligen Landamanns von Uri, Hans Fries.

Um auch dies schon vorwegzunehmen: Junker Jakob Grebel wurde nur wenige Monate nach der Meldung vom Tod seines Sohnes Conrad am 30. Oktober 1526 auf massiven Druck Zwinglis nach einem Schnellverfahren mit dem Schwert auf dem Zürcher Fischmarkt hingerichtet. Jene Monate im Herbst 1526 können als die Terrorphase der Zürcher Reformation angesprochen werden. Junker Jakob Grebel galt, zu Unrecht oder zu Recht, als Anhänger der Partei Frankreichs. Die Stadt Zürich selbst aber war seit der – durch eidgenössische Bestechlichkeit – verlorenen Schlacht von Marignano 1515 antifranzösisch eingestellt.

Solddienst, Pest und die Frage nach der «Gnade»

Magister Ulrich Zwingli glänzte durch seine umfassende humanistische Bildung: Zwischen 1498 und 1506 hatte er in Wien und Basel die freien Künste – artes liberales – studiert, ehe er sich in Konstanz zum Priester weihen liess. Was seinen Predigten aber ihren besonderen Zug verlieh, war die erbitterte, durch seinen Lehrer Erasmus von Rotterdam auch philosophisch fundierte Gegnerschaft zum Krieg und zum Solddienst. Das machte ihn in Luzern und Zug verhasst, in Zürich aber anfangs beliebt.

Seine erste Priesterstelle hatte er 1506 in Glarus angetreten, und 1513 und 1515 war er während der Mailänder Kriege mit der Glarner Solddiensttruppe als Feldprediger nach Novara und Marignano gezogen. Das führte ihm drei Dinge vor Augen: die Grausamkeit der Kriege, die Unmoral des Söldnergewerbes und das riesige Ausmass der Bestechungen auf höheren staatlichen Ebenen beim Abschluss der Solddienstverträge. Einst vom Tyrannen Mailands, Ludovico Sforza, ins Land gerufen, lieferte sich Frankreich in Norditalien einen Kampf mit dem über weite Gebiete herrschenden Papst um die weltliche Macht.

Seit November 1516 war Zwingli in der grossen, der Heiligen Maria geweihten Kirche des heruntergekommenen Klosters Einsiedeln Priester. An der alljährlich zu Pfingsten stattfindenden Wallfahrt nach Einsiedeln im benachbarten eidgenössischen Länderort Schwyz lernten ihn die Zürcher Bevölkerung und ihre regierenden Ratsherren näher kennen. Er nahm die Beichte ab und predigte. So entstanden persönliche Kontakte, und als Ulrich Zwingli Anfang 1519 – trotz einem Skandal um eine schwangere, unverheiratete Barbiertochter in Einsiedeln – als Priester ans Grossmünster geholt wurde, war er für die Stadt längst kein Unbekannter mehr.

1521 gingen die Eidgenossen erneut ein Solddienstbündnis mit Frankreich ein. Nur Zürich beteiligte sich nicht und lieferte stattdessen dem Papst Truppen – entgegen Zwinglis grundsätzlichem Widerspruch gegen das blutige Gewerbe und seiner Kritik an den Kardinälen: «Sie tragen mit Recht rote Hüte und Mäntel. Denn schüttelt man sie, so fallen Dukaten und Kronen heraus; windet man sie, so rinnt deines Sohnes, Bruders, Vaters und Freundes Blut heraus», predigte Zwingli laut seinem späteren Nachfolger Heinrich Bullinger damals. Das war etwa ein Jahr bevor 1522 die Reformation in Zürich im eigentlichen Sinn begann – mit Zwinglis provokativer Übertretung der Fastengebote.

Seine persönliche Macht vermochte Ulrich Zwingli erst Schritt für Schritt auszubauen. Zürich galt damals noch als päpstlichste Stadt nördlich der Alpen. Auch die Leibgarde des Papstes wurde von einem Bruder eines der beiden Zürcher Bürgermeister befehligt. Dass die Zürcher Solddiensttruppen – etwa 2000 Mann – aber Ende Dezember 1521 zurückkehrten, ohne den ganzen zugesagten Sold erhalten zu haben, war mit ein Grund, weshalb Zürich schneller, als irgendwer vermutet hätte, reformatorisch wurde.

Zwingli selbst blieb stark antifranzösisch eingestellt. Es war das klar gegen Frankreich eingestellte Lager unter den Chorherren in Zürich, das ihn 1519 zum Prediger im Grossmünster bestimmt hatte, der wichtigsten Kirche der Stadt. Selbst als Zwingli vor seiner Wahl als Chorherr 1521 gestand, bislang jährlich 50 Gulden vom Papst bezogen zu haben – die Annahme fremder Gelder war in Zürich seit einigen Jahren streng verboten –, wurde ihm dies nicht weiter übel genommen.

Unmittelbarer Anlass für die Reformation war bekanntlich der Ablasshandel – gegen Bezahlung würden selbst die Sünden der bereits Verstorbenen erlassen, lautete das Versprechen. Die Kritik erstreckte sich aber schnell auf alle denkbaren übrigen Bereiche. Viele religiöse Handlungen galten auf einmal als nutzlos, schlimmer: als ein offener Betrug. Die reformatorische Generation befand, der Weg zum Seelenheil erfolge nur über die Predigt oder die Lektüre der Evangelien – des «Worts Gottes», das unverfälscht vorliege. Der Zugang zu den höchsten Wahrheiten bedürfe keiner weiteren Vermittlung. Weder den Heiligen noch den Geistlichen komme die Macht zu, das «Seelenheil» – die «Gnade» – zu sichern. Die einzelne Seele, so die neue Doktrin, könne weder durch Anbetung der Heiligen noch durch Opferhandlungen auf die Entscheidung Einfluss nehmen, ob der Himmel sich erbarme. Wie jede Revolution ergriff die Reformation fast jeden Lebensbereich.

 

Schon vor seiner schliesslich überstandenen Pesterkrankung 1519, die in ihm endgültig das Gefühl eines Auftrags des Himmels weckte, begann Zwingli, Vers für Vers die Evangelien durchzupredigen, und er hielt sich nicht mehr an die vom Bischof von Konstanz vorgegebene Auswahl der im Gottesdienst zu verwendenden Bibelzitate. Er konnte sich einer breiten Zustimmung sicher sein, denn er hatte sich bei der Seelsorge für die an Pest Erkrankten angesteckt. Damals nicht geflohen zu sein, wurde ihm in der Stadt hoch angerechnet.

Das Grossmünster war zu der Zeit noch ein Chorherrenstift. Zwinglis traditionalistische Gegner unter den Chorherren hielten sich anfänglich zurück. Sie machten sich erst nach dem Fastenstreit im Frühjahr 1522 laut bemerkbar. Ihre aufgelisteten Klagen wurden Zwingli zwar nicht in Zürich selbst gefährlich – im Grossmünsterstift hielt er seine Widersacher dank der Rückendeckung durch die meisten Ratsherren in Schach –, aber sie bedrohten ihn auf dem Umweg über die Eidgenossen umso mehr. Drohworte fielen, Entführungsgerüchte machten die Runde. Der Rat ordnete am 12. April 1522 eine Untersuchung an.

Luther war im Reich bereits seit Mai 1521 gebannt, und Luzern bekundete spätestens am 30. Dezember 1522 offen den Willen, die lutherischen und zwinglischen Lehren, die sich täglich weiter ausbreiteten, zu bekämpfen. Erste Massnahmen gegen die neue Predigtweise hatten die Eidgenossen an der Tagsatzung vom 27. Mai und 3. November 1522 beschlossen.