HIMMEL UND ERDE

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Fragment (Königin)


Holzwolle | Peter Zemla

Es ist ein seltsames oder doch zumindest und in jedem Fall bemerkenswertes, ein viel sagendes Phänomen, wenngleich es zu den diffizilsten Aufgaben überhaupt gehört, jenes viele Sagen in eine Ordnung zu bringen, die mit dem Verstand erfasst zu werden vermag, dass das Entscheidende oftmals an den Rändern sich abspielt, derweil man im Zentrum des Geschehens sich aufhält und dort lange und längste Zeit seinen Verrichtungen nachgeht, ohne dass man eine Ahnung, nicht die leiseste, davon erhält, was sich um einen her zusammenbraut. Später, viel später, nach den endlosen Befragungen durch diese und jene, dem ständigen Repetieren der Umstände, aus der die Tat schließlich mit einer gewissen Zwangsläufigkeit empor- und hervorgewachsen war, nach dem Prozess und all den Konsequenzen, die mit einer dem Gesetz innewohnenden Gesetzmäßigkeit aus und auf den Prozess folgten, als mithin alles zu spät war, dachte in seiner Zelle, nächtens nach dem Einschluss, wenn er von den trockenen, die Schleimhäute austrocknenden chemischen Dämpfen der Anstaltswäscherei sich freimachte, wenn er das Licht neben seinem Bett ausknipste, Johanno Harzig diesen Gedanken.

Wobei, wie er dachte, erstaunlicherweise, das mit den Rändern in seinem, Harzigs Fall, räumlich festzumachen sei, das Beiseitige und Periphere, das hineinspielt, mehr und mehr hineindrängt ins Zentrale, sich hineinfrisst und dort, im Zentralen, endlich offen die Vorherrschaft für sich beansprucht, in seinem, Harzigs Fall, erstaunlicherweise, räumlich verstanden werden könne. Denn nicht im Esszimmer, wo alle beisammen gesessen waren an jenem Abend, wo sie die aufgespießten Fleischstückchen aus dem Blasen werfenden Fett gezogen und in den Fonduekäse getaucht hatten, die Schröpfs, die Kapps ebenso wie Klaus Krebs, hatte sich, was in der Folge schwären und gären sollte, erstmals Laut gemacht und Luft verschafft. Nicht die schwindsüchtigste der kärgsten Andeutungen hatte dort im Esszimmer das Kauen der Schröpfs, der Kapps, das Kauen des Klaus Krebs kontrapunktiert, das Bröseln der Weißbrotscheiben, das Knistern der Gabeln, wenn diese in die wulstigen Rippen des Eisbergsalats drangen, das Klirren der Messer auf den Tellern, das allgemeine Malmen und Schlucken. Kam etwas im Esszimmer zur Sprache und natürlich wurde fortwährend gesprochen, der Abend, der als ungezwungener, geselliger gedacht gewesen war, hatte sich, in Harzigs Erinnerung jedenfalls, als ebensolcher entwickelt, so war das ein Lob über die aufgetischten Speisen, ein beiläufiger Kommentar zu der im Hintergrund spielenden Musik, ein launiger Einwurf, die Vorgänge in Harzigs Betrieb betreffend, eine Anmerkung zur nationalen, auch zur internationalen Politik, eine allseits mit Schmunzeln quittierte Pubertätsanekdote von der von der Schröpftochter absolvierten Klassenfahrt.

Aber kein Wort, kein Mucks über jenes, was bald darauf nach Harzig fingern, ihn packen, ihn beim Schopf packen sollte, bildlich gesprochen, denn mit dem ihm verbliebenen Haupthaar, dessen Reste raspelkurz geschnitten waren, wäre das selbstverständlich eine Unmöglichkeit gewesen, ihn also packen und hinter sich herschleifen sollte über den, bildlich gesprochen, denkbar schroffsten, aus stachligem Schiefer, aus spitzem Horn, aus scharfen Scherben sich zusammensetzenden Untergrund, ihn also schleifen sollte bis an den Rand eines bodenlos gähnenden Abgrunds, um hohnlachend mit ihm in diesen abzutauchen und zu verschwinden und zu vergehen. Ja, nicht einmal eine nonverbale Andeutung, kein missbilligender Augenaufschlag, kein indigniertes Heben der Brauen, kein unwilliges Verziehen der Mundwinkel, hätte, so Harzigs Empfinden, so Harzigs Auslassungen im Nachhinein, auf eine Verstimmung schließen lassen. Nur Kauen und Malmen und Schlucken, von einem glänzenden Grinsen umrahmt, von einem verstohlenen Kichern umrankt, einem unverhohlenen Meckern umhüllt, Äußerungen des Wohlbefindens mithin, der Behaglichkeit und des Aufgehobenseins, hätten die Runde beherrscht, die an jenem Abend bestand aus den Schröpfs, den Kapps, aus Klaus Krebs, ihm selbst, Harzig, sowie, nicht zuletzt, weil im Grunde der Mittelpunkt und Fixstern aller, seiner Frau natürlich.

Weshalb er, Harzig, gänzlich unvorbereitet war, als er, in den Händen einen Stapel mit von Speiseresten verunziertem Porzellan, in die Küche ging, um den Nachtisch aus dem Kühlschrank zu holen. Getroffene mögen sich so fühlen, wenn eine Kugel sie durchbohrt, sie aber, dergleichen erstmals erlebend, den Treffer und seine Auswirkungen nicht einzuordnen wissen, weil das Adrenalin, das ihren Körper augenblicklich durchflutet, kein Schmerzempfinden gestattet, so dass nichts bleibt neben der dumpfen Unbestimmtheit als die Überraschung. Melanie Kapps, die Frau seines Freundes und Arbeitskollegen, die hinter ihm hergekommen war, die vorgegeben hatte, die Toilette aufsuchen zu müssen, feuerte den ersten Schuss ab, als sie sich an ihm, Harzig, vorbeidrängte und zwischen ihren kleinen Zähnen, die Entspanntheit und das Wohlbehagen des Esszimmers war mit einem Mal aus ihren Zügen gewichen und hatte etwas Hartem Platz gemacht, das um ihren kleinen Mund spannte und ihre kleinen Zähne im Ansatz entblößte, das Wort Unverschämtheit entweichen ließ. Sie hatte es wohl zuvor mithilfe ihrer Zunge und der Wangenmuskulatur zu einem festen Klümpchen geknetet, mehrfach gepresst und gefaltet, die vier Silben fest zusammengebacken, gleichwohl verstand Harzig, was ihn getroffen hatte: Unverschämtheit, und sah für den Bruchteil einer Sekunde den verächtlichen Blick der Melanie Kapps, ehe sie die Toilettentür hinter sich zuzog.

Keine drei Minuten später saßen sie beide, Harzig und Melanie Kapps, wieder neben den anderen am Tisch, fädelte sie, Melanie Kapps, sich wieder ein ins Gespräch, das die gemütliche Gemeinsamkeit, die gemeinsame Gemütlichkeit des Abends in diesem Esszimmer der Harzigs wie mit Samt auskleidete, machte sie, Melanie Kapps, von Harzig aus den Augenwinkeln beargwöhnt, ein Augenwinkelblick, der nicht erwidert wurde, einen Scherz, führte einen sarkastischen, wenn auch harmlosen Streich gegen eine allen Anwesenden bestens bekannte, aber selbst nicht anwesende Person, der, weil er punktgenau saß, mit schallendem Gelächter quittiert wurde. Für Harzig war es Anlass, an dem Zweifel, den das Wort Unverschämtheit mit feiner Präzision in ihn hineingefräst hatte, zu zweifeln. Vielleicht hatte er sich verhört, etwas missverstanden, einen Kontext, auf den Melanie Kapps sich womöglich bezogen hatte, beim Hinaustragen der Teller nicht mitbekommen. Passt man für einen Moment nicht auf, dachte Harzig damals, kann einen das, greift man nach einem der lose umherliegenden Fäden des Geschehens, in die entlegensten Bereiche locken und folglich die weitreichendsten Konsequenzen haben. Doch so besorgniserregend scheint es, dachte er, der sich zurück auf sicherem Terrain wähnte, nicht gekommen zu sein.

Was sich als Trugschluss erwies, als er, Harzig, nach seiner in die Runde, an die Runde gestellte Frage, wer zum Abschluss des Essens einen Kaffee möchte, in die Küche verschwand und vor der Kaffeemaschine das Georderte, zwei Espressos, einen Milchkaffee, ein Tässchen normalen, wie es gewünscht wurde: schwarz und ohne alles, zubereitete, als er mit einem Mal und ohne dass sich für ihn dessen Nähern akustisch angekündigt hätte, hinter sich Daniel Schröpf gewahrte, seinen Freund und Tennispartner, der sich aufgebaut hatte, der nah, ganz nah an ihn, Harzig, herangetreten war und seinen Mund, die vom Fondue in den Ecken noch fettglänzenden Lippen nah, ganz nah an Harzigs Ohr, sein rechtes, brachte und flüsterte, mit scharf akzentuierten Worten, aber so, dass niemand sonst im Haus es hören konnte, das sei ja wirklich ein starkes Stück. Harzig fuhr herum, und, weil er meinte, er hätte Daniel Schröpf des rasselnden Mahlwerks der Kaffeemaschine wegen, nicht richtig vernommen, meinte, das ihm vorgeworfene, zweifellos mit dem Unterton eines Vorwurfs ihm vorgehaltene starke Stück beziehe sich womöglich auf ihr gemeinsames Doppel am vergangenen Wochenende, an dem es für ihren Verein Grün-Weiß eine nicht einkalkulierte Auswärtsniederlage zu verwinden gegolten hatte, berührte Schröpf, den Freund, am Oberarm, eine zwischen ihnen geläufige Geste des Einvernehmens, mit der sich, was etwa zwischen ihnen stand, sich glätten und wegwischen lassen sollte. Doch weggewischt, wie ein lästiges Insekt weggewischt wurde Harzigs Hand, und Schröpf rückte, obgleich das kaum mehr möglich schien, noch näher, und seine Augen verengten sich zu Schlitzen, als versuche er, der Fehlsichtige, so kam es Harzig vor, etwas Verschwommenes in den Blick zu bekommen, und sagte dann, er, Harzig, solle doch gefälligst nicht so tun.

Schon wollte Schröpf sich wegdrehen, die Küche mit der gleichen, Harzig wie einen nassen Lappen hingeworfenen Verächtlichkeit verlassen wie Melanie Kapps zuvor die Toilettentür geschlossen hatte, als Harzig ihn abermals berührte, ihn festhielt, ihn fragte, wie nun, was nun und was überhaupt los und von was überhaupt die Rede sei. Als ob er, Harzig, das nicht am besten wüsste, lautete die Antwort, noch immer geflüstert. Und dann fügte Schröpf, der einen Moment innehielt, ein Moment, der allein mit seinem Starren ausgefüllt war, ein Starren, das in Harzig eindringen und dort, wo es eindrang, zu verwüsten beabsichtigte, hinzu, die Scheinheiligkeit wenigstens könne er, Harzig, sich sparen. Und war der ganze als Daniel Schröpf bekannte Mensch im Grunde im Begriff, der Küchenszenerie mit Harzig als Kristallisationskern den Rücken zu kehren, weil jeder weitere Kommentar eine vertane Liebesmüh wäre, um nicht zu sagen: ein Affront gegen Anstand und Moral, so war, was in ihm, Schröpf, köchelte, was hochgekocht war und darauf drängte überzukochen, doch mächtiger, war der Drang zur Attacke, wie so oft, von größerer Verlockung als die still glimmende Genugtuung, die davon ausgeht, Haltung bewahrt zu haben, und er zischte, aber noch immer flüsternd, dass er, Schröpf, es einem wie ihm, Harzig, nicht zugetraut hätte, dass er, Harzig, so abgefeimt wäre, ihnen, seinen besten Freunden immerhin, so gänzlich ohne ein Wort der Erklärung oder wenigstens eines der Vorwarnung bei einer Einladung der harmlosen Art seine Neue förmlich unterzujubeln.

 

Harzig verstand nicht, was jedoch nicht am Flüstern, an dem das Flüstern verundeutlichenden Zischen lag. Was er rede, was redest du, Daniel, stammelte er, welche Neue? Schröpf sah ihn an, wie er ihn manchmal ansah, wenn eine gegnerische Rückhand die Linie entlang an ihm, Harzig, vorbeischoss, unerreichbar, wie Harzig es schien, für die ihm zur Verfügung stehenden körperlichen und spielerischen Mittel jedenfalls unerreichbar, doch der Auffassung Schröpfs zufolge mit gutem Willen, mit Hingabe und Einsatz absolut retournierbar. Sie uns auch noch in Sonjas Kleid zu präsentieren, zischte Schröpf, mit Sonjas Schmuck um den Hals und mit einer Frisur, die, weil sie Sonjas Frisur in Farbe und Fasson gleiche, das müsse jedem, der Sonja kenne und schätze, wir alle kennen Sonja, wir alle schätzen Sonja, wie ein Hohn erscheinen. Du hättest wenigstens uns, er meinte sich und seine Frau, bei dieser Farce heraushalten können, zischte Schröpf, wo er, Harzig, doch genau wisse, wie eng die Bettina, seine, Schröpfs Frau, und die Sonja befreundet seien, wie eng sie das gemeinsame Engagement in der Kleiderkammer der Flüchtlingshilfe zusammengeschweißt habe. Zischte es und wendete sich abermals, nun aber doch, und ging, nun aber doch, zurück ins Esszimmer, von wo Harzig ein mehrstimmiges Gelächter herüberdringen hörte.

Als Harzig, nachdem er den ihn lähmenden Moment der Irritation hatte abebben lassen, mit den Espressos in den Händen, deren Cremehäubchen, dem Moment der Irritation geschuldet, bereits wieder in Auflösung begriffen waren, in der Tür zum Esszimmer stand, sah er, wie alle Anwesenden, die Schröpfs, die Kapps ebenso wie Klaus Krebs, seiner Frau Sonja an den Lippen hingen, hörte er, wie diese, seine Frau Sonja, lebhaft und anschaulich, unter Zuhilfenahme illustrierender Gesten und Mimen, von einer Kundschaft erzählte. Sie, Sonja, die, seit die Harzigtochter ein Studium im Norden aufgenommen und also das Haus verlassen hatte, montags, mittwochs und freitags stundenweise in einer Innenstadtboutique arbeitete, habe sie, die Kundschaft, eine voluminöse Enormität von Frau, Typ bulgarische Kugelstoßerin, sagte Sonja, partout nicht, das heiße: unter gutwilligen, ihren Körperumstand, der unter modischem Aspekt ein Körpermissstand gewesen sei, verbal umspielend, davon abbringen können, sich in eine viel zu enge Hose, in ein viel zu enges, viel zu formbetontes Oberteil zu pressen, was dazu geführt habe, dass Speckabschnürungen sich bildeten, dass die Haut der Kundschaft, die von vornherein bereits eine gespannte, eine wursthautglatte gewesen sei, stellenweise zu glänzen begonnen hätte, selbst im künstlichen Licht der Innenstadtboutique glänzte, woraufhin sie, Sonja, nicht mehr habe hin- und zuschauen können, woraufhin sie auf die Frage der vor dem Spiegel sich drehenden und wendenden Kundschaft, ob das Oberteil auch in gelb vorhanden sei, habe kapitulieren und unter dem Vorwand, nachzusehen, ob das Oberteil auch in gelb vorhanden sei, in den Kabuff hinter der Kasse habe verschwinden müssen, wo es aus ihr lachend herausgebrochen sei. Anderes, so Sonja, vor den nun ihrerseits prustenden Schröpfs und Kapps, dem quiekenden Klaus Krebs, sei ihr nicht mehr möglich gewesen, was sie aber im selben Augenblick bereut habe, was sie sich habe schlecht, weil gemein fühlen lassen und was sie noch jetzt, hier am Esszimmertisch bereue, noch hier am Esszimmertisch fühle sie sich schlecht, weil gemein, sagte sie und grinste, Bestätigung suchend, hinein in die geröteten Gesichter der Schröpfs, der Kapps und in das von Klaus Krebs.

Harzig, der auch die restlichen Getränke geholt und vor seine Gäste gestellt, der während der Erzählung seiner Frau zugesehen hatte, wie aus den Tässchen sich nach oben verengende, oben sich auflösende Rauchschlieren aufstiegen, wie der Kaffee schließlich aufhörte zu dampfen, weil an Wärme nichts mehr vorhanden war, was hätte aufsteigen können, stimmte nicht ein in die allgemeine Heiterkeit, in der der Abend auslief. Harzig hatte anderes im Kopf. Nicht, dass er es zu dieser Zeit hätte benennen und also dingfest machen können, was ihn beschäftigte, es war mehr, wie er später zu Protokoll gab, ein ineinander verwickeltes Knäuel, bei dem man vergeblich nach den losen Enden tastet und Ausschau hält, um einen Ansatzpunkt zu haben, es zu entwirren, oder, wenn man so will, so waren seine Worte, zwei Handvoll Holzwolle, die sich dort, in seinem Kopf, breit gemacht hätten, bei denen nicht auszumachen war, was, wenn überhaupt, zusammengehöre, bei denen nur eines feststand, nämlich dass sie, diese Holzwolle, immer wieder, so vermerkte es das Protokoll, sprach Harzig von Holzwolle, an den Innenseiten seines Kopfes schabte und scheuerte und mit dem Schaben und Scheuern gar nicht mehr aufhören wollte.

Später, nicht viel später, keine Stunde später, standen alle vor dem Haus der Harzigs und verabschiedeten sich. Es fielen Bemerkungen über die Frühlingsluft, der, vor allem nächstens, noch nicht zu trauen sei. Es fielen Beteuerungen, den Abend, es sei ein wundervoller Abend gewesen, sagte jemand, so gemütlich, zu wiederholen, in naher Zukunft, spätestens in Monatsfrist, es dürfe nicht wieder so lange Zeit verstreichen, ehe man erneut zusammenfinde. Die Kapps’, Jürgen und Melanie Kapps, bestanden darauf, das nächste Mal sei die Reihe an ihnen einzuladen, das nächste Mal kommt ihr zu uns, sagte Melanie Kapps, und Jürgen Kapps stellte in Aussicht, die Kappskinder zu den Nachbarn zu stecken, dann hätte man sturmfreie Bude. Umarmungen folgten, Küsschen oder wenigstens die Andeutungen von Küsschen wurden auf Wangen gehaucht.

Als Klaus Krebs Harzig im Zuge einer Umarmung an sich zog, ihm mit der flachen Hand freundschaftlich den Rücken klopfte, die beiden kannten sich seit Studientagen, hatten seit Studientagen einen vergleichbaren Werdegang eingeschlagen und all die Jahre einer den anderen unterstützt und bestärkt, hörte Harzig Krebs sagen, er, Harzig, sei schon so einer. Harzig, nach den Vorfällen des Abends für das Angedeutete sensibilisiert, für Untertöne hellhörig geworden, verstand die Sentenz schon so einer zu sein unmittelbar nicht in dem Sinne von ein Guter, ein Bester zu sein, nicht als Ausdruck solider Wertschätzung eines Freundes, sondern als Andeutung eines im Grunde nicht zu billigenden Schlawinertums, eines Hallodrigebarens, was er, als er Krebs ein Stück weit von sich schob, im verschwörerischen Zwinkern des Freundes bestätigt fand. Was er damit sagen wolle, fragte Harzig mit gedämpfter Stimme, auf was er, Krebs, anspiele, wenn er ihn, Harzig, schon so einen nenne? Aber bitte, antwortete Krebs, auch er sprach, sich Harzig entgegenneigend, gedämpft, gewissermaßen in den Kragen von Harzigs Hemd hinein, vor ihm, Krebs, müsse er, Harzig, er nannte ihn Hanno, Mensch, Hanno, doch kein Theater spielen. Die Sonja einfach so auszutauschen, sagte er, mir nichts, dir nichts und ohne ein Wörtchen darüber zu verlieren, das sei doch durchaus dreist zu nennen, er, Krebs, hätte dergleichen ihm, Harzig, jedenfalls nicht zugetraut, aber offenbar werde man manches Mal selbst von ältesten Gefährten noch überrascht.

Harzig verstand zwar die einzelnen, an ihn gerichteten Worte, aber nicht ihren Zusammenhang. Dass Krebs, wie er, Harzig, meinte, immer schon ein Interesse an seiner, Harzigs Frau gezeigt hatte, das über jenes, das ein Freund für die Frau eines Freundes aufbringt, hinausreichte, kam ihm in diesem Moment in den Sinn. Doch diesen Gedanken zu vertiefen, gelang Harzig nicht, weil Krebs ihn mit der Mitteilung, er müsse nun wirklich sehen, dass er in die Heia komme, am morgigen Tag stünde für ihn, Krebs, einiges, ganz und gar nicht Aufschiebbares, auf dem Programm, und man würde telefonieren, nicht morgen, aber mit Sicherheit in den kommenden Tagen, stehen ließ. Harzig, umwölkt von einer schlierigen, klebrigen Substanz des Unverständnisses, so umschrieb er in den Vernehmungen jedenfalls seinen Zustand, sah die sich entfernende Rückansichten, sah in die Höhe gereckte, winkende Hände, die der Schröpfs, der Kapps, die von Klaus Krebs, registrierte das Anlassen von Motoren, sogar das Gummiknirschen der ausparkenden Reifen auf dem Asphalt, die roten Rücklichter, die am Ende der Straße um die Ecken bogen und schließlich verschwunden waren, aber er verstand nicht mehr, was all dies, das Winken, das Knirschen, die Lichter mit ihm zu tun hatte.

Harzig ging zurück ins Haus, von dem er angenommen hatte, es sei seines. Aus der Küche drangen Geräusche zu ihm, das Klirren, das Klappern von Geschirr und Besteck, das schnarrende, in einem dumpfen Pochen endende Ziehen, das entsteht, wenn Schubladen aufgezogen und wieder geschlossen werden, das ratschende Sägen, das noch einen Moment in der Luft verharrt, wenn ein Stück Frischhaltefolie von der Rolle gerissen wird. Er trat unter die Küchentür und sah seine Frau, die mittels einer Gabel dabei war, Essensreste von den Tellern in die Mülltonne zu bugsieren, um die Teller anschließend in den Spülmaschinenkorb zu schlichten. Er habe, gab Harzig zu Protokoll, sie, von der er so viele Jahre lang angenommen hatte, sie sei seine Frau, in diesem Moment angesehen wie eine Fremde. Sie hätte von sich wohl noch behauptet, so Harzigs Aussage, müde zu sein, aber beschwören könne er das nicht, hätte er sie doch nicht mehr richtig verstanden.



Fragment 004 (Karo)


Fragment eines Traumes | Ruth Möbius-Hanssen

Wo waren nur die verflixten Bilder vom letzten Urlaub? Nina durchwühlte die Schublade mit den Alben. Doch sie wusste genau, sie hatte die Fotos noch nicht eingeklebt. Sie mussten sich noch in der Hülle vom Drogeriemarkt befinden.

Gerade hob sie ein Album hoch, da flatterte ein Foto heraus. Nina hob es auf und betrachtete es: Petra, ihre jüngere Schwester, im Alter von vier Jahren posierte in ihrem Nachthemd, mit einem Riesenhut und Mutters High Heels.

Schon damals wusste Petra es ganz genau, sie würde einmal Model werden. Mit acht bekam sie einen Fotoapparat geschenkt und fotografierte sich durch den Spiegel in unterschiedlichen Posen. Später besuchte sie mit ihrer Freundin einen Schminkkurs und es machte ihr unsagbar viel Spaß, neue Techniken auszuprobieren. Ihre Mutter und Nina mussten stets herhalten, wenn ein neuer Look Einzug in ihre Ideenwelt gehalten hatte.

Nach Schule und Abitur entdeckte sie ein Fotograf, der eine so talentierte Frau gern ablichten wollte. Er bot an, sie fortan unentgeltlich zu fotografieren, wenn er ihre Bilder als Werbung für sein Studio benutzen durfte.

Petra war einverstanden und es entstanden ganze Fotoserien und Kalender mit ihrem Konterfei. Von einer Ausbildung zum Mannequin hielt sie nichts. Die war zu teuer und vor allen Dingen zu stressig.

Der Modelberuf blieb ein Traum. Sie sah sich als Naturtalent und das genügte. Ihr Geld investierte sie lieber in eine Reitbeteiligung. Die groß gewachsene, hübsche, blonde Frau war bald der Schwarm vieler junger Männer.


Petra machte ihre Erfahrungen mit dem männlichen Geschlecht, doch niemand vermochte ihr Herz zu erobern. Sie hatte feste Vorstellungen von ihrem Leben. Vor ihrer Ausbildung zur Industriekauffrau, absolvierte sie ein soziales Jahr in einer Behinderteneinrichtung und engagierte sich mit ihrer Freundin in Vereinen und karitativen Projekten.

Bei einer Tanzveranstaltung forderte sie ein Mann auf, den sie vorher noch nie gesehen hatte. Er schlang seinen Arm um sie und führte sie wie eine Puppe über das Parkett. Er ließ keinen Tanz aus und Petra fühlte sich ungemein wohl in seinen Armen. Später verabredeten sie das nächste Treffen, das sie Wochen und Monate fortsetzten, bis sie sicher waren, nie mehr voneinander zu lassen.

Petra heiratete ihren Tanzpartner und bekam drei Kinder. Mit fünfunddreißig Jahren war sie immer noch attraktiv. So bat sie der Fotograf von Zeit zu Zeit, ihm weiter Model zu stehen, was sie unter Vorbehalt tat. Die Aufnahmen, die er heute von ihr machte, unterschieden sich deutlich von seinen früheren Bildern. Sie gingen ins Künstlerische.

 

Eines Tages erschien ein Foto von ihr in einem Kunstband. Eine Frau, reduziert auf eine füllige Haarpracht, einen aufregenden Mund, spitzenbesetzten Höschenabschluss an den Beinen, einen Arm in einem schwarzen, kurzen Ärmel, sowie ein paar angewinkelte Beine im Hintergrund.

Petra zeigte voll Stolz das Foto, das der Fotograf von ihr gemacht hatte. Es war das Fragment ihres Modeltraums.

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