Hermann Broch und Der Brenner

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Fazit

Der makroskopische Blick auf den Gesamtbriefwechsel Ludwig von Fickers, kombiniert mit mikroperspektivischen Schlaglichtern, offenbart in der Frage nach direkten und indirekten Referenzen auf Hermann Broch kulturelle Entwicklungen und Interdependenzen, die sich nicht auf den ersten Blick erschließen. Es wird damit deutlich, dass es nach Kriegsende 1945 in erster Linie Außenstehende waren, die sich aktiv an Ficker wandten. Sie erinnerten ihn an die frühe Phase des Brenner und die Zusammenarbeit mit Hermann Broch bzw. apostrophierten Fickers Rolle als dessen Entdecker und Förderer (gleichwohl er, wie die Briefstelle an Paula Schlier zeigt, Broch durchaus als positiven Charakter wahrgenommen hatte und ihm wohlgesonnen begegnete). Dieser Prozess vollzog sich über mehrere Jahre und erfuhr im Laufe der Zeit verschiedenartige Ausprägungen – sei es im Zuge von Editionsprojekten, in Form von wissenschaftlichem Diskurs oder von literarischer Rezeption. Dabei kam den Exilant*innen eine herausragende Rolle zu; sie sorgten wesentlich dafür, dass die Negativstimmen der Vorkriegszeit, die in der Auseinandersetzung zwischen Broch und Carl Dallago um die Frage nach dem Verhältnis von Ethik und Ästhetik ihre konkreten Ausprägungen fanden, nach dem Zweiten Weltkrieg endgültig verstummten. Stattdessen ist ein Grundton der würdigenden Verehrung und Anerkennung festzustellen.

1960 hatte Ficker die Rolle des „Auctor Austriae“52 offensichtlich schon soweit verinnerlicht, dass er mit Selbstverständlichkeit auch Broch für seine Sache vereinnahmen konnte, obwohl dieser für seine Arbeit am Brenner „vor allem ein Autor der Zeitschrift und nicht mehr gewesen ist“53 und spätestens seit dessen Vorstoß mit der Völkerbundresolution praktisch ohne Bedeutung war. Dies führte dazu, dass er schließlich selbst in den Diskurs, der im Zuge der kulturellen Etablierung Brochs manifest wurde, eintrat. Repräsentativ dafür steht die Episode, dass Ficker 1960 von der Überzeugung getragen war, Broch hätte ihm 1937 das Manifest für einen Abdruck im Brenner übergeben wollen. Diese Information hatte er gegenüber Julius Kiener im „Gespräch mit Ludwig von Ficker über Hermann Broch“, das in der Seefelder Zeitung 1960 veröffentlicht worden war, preisgegeben.54 Broch hingegen war, wie sein Brief vom 28.11.1937 verrät, tatsächlich nicht mehr von einer Publikationsmöglichkeit ausgegangen und hatte darum sogar darum gebeten, das Manuskript zurückzuerhalten.55

Durch die Frage nach der Rezeption Brochs im Gesamtbriefwechsel ist vor allem das gesellschaftliche Dispositiv der Nachkriegszeit berührt und damit auch Fickers spezifische, in der ostentativen Überbetonung des Katholischen in Zeiten zunehmender Ent-Säkularisierung fast schon als anachronistisch zu bezeichnende Position innerhalb dieses kulturellen Feldes. Denn die Paradoxie bzw. die offensichtliche Schieflage zwischen der Nicht-Wahrnehmung Brochs im Brenner-Umfeld der Zwischenkriegszeit und der sukzessiven Re-Integration Brochs in die (im besten Fall als konservativ zu bezeichnende) kulturelle Landschaft im Nachkriegsösterreich besteht gerade darin, dass die Position Fickers diffus bleibt. Durch den Kulturbetrieb wurden ab 1950 Ehrungen und Auszeichnungen an Ficker herangetragen, die ihn dadurch in der Rolle des Kulturvermittlers und Vertreters der intellektuellen österreichischen Speerspitze legitimierten. Dieser Prozess vollzog sich trotz der im Nachkriegs-Brenner sichtbaren, nicht mehr zeitgemäßen ästhetisch-kunsttheoretischen Fundierung und der damit verbundenen ideologischen Uneindeutigkeit (wenn man vom allgemein-humanistischen Impetus absieht). Die Person Broch hat für Ficker in dieser Situation zunächst wenig Bedeutung, sie gibt aber Impulse an Andere weiter, die mit diesem Input arbeiten, ihn perpetuieren und dadurch produktiv werden, was sich wahrnehmbar im kulturellen Diskurs niederschlägt. Das Interesse, das ein Kreis von Intellektuellen an der frühen Phase des Brenner bekundete, in welcher auch Hermann Broch als Teil des Autor*innenkreises der Zeitschrift gewirkt hatte, veränderte zum einen die Wahrnehmung Ludwig von Fickers hinsichtlich der Person Brochs wie zum anderen ex post seine Wahrnehmung hinsichtlich des Einflusses des Brenner auf Broch. Wenngleich die Zusammenarbeit aus einer Reihe von Gründen nach 1914 eingestellt und auch nach dem Versuch eines neuerlichen Anlaufs zwischen 1935 und 1937 nicht fortgesetzt worden war, blieben doch latente Impulse bestehen, die erst nach dem Zweiten Weltkrieg ihre vollen Wirkungen zeitigten.

Angesichts dieser komplexen Situation erscheint in hohem Maße symptomatisch, dass Ernst Schönwiese in der Einleitung des 10. Bandes der im Rhein-Verlag erschienenen Broch-Ausgabe Ficker als den „Förderer und Freund Georg Trakls, [...] eine der lautersten und verehrungswürdigsten Gestalten des österreichischen literarischen Lebens in den letzten Jahrzehnten“56 bezeichnete. Mit dieser Zuschreibung – und, zumindest in einem sehr weit gefassten Sinne, sich parallel dazu in der Rolle als Entdecker und Förderer Brochs wiederfindend – dürfte sich Ficker letztlich identifiziert haben. Was die aktive Vermittlung Brochs in den europäischen Kulturraum angeht, hat er sich nach dem Zweiten Weltkrieg, wie die spärliche Rezeption im Gesamtbriefwechsel zeigt, weitgehend im Hintergrund gehalten und stattdessen anderen Akteuren, die in vielen Fällen divergente kulturpolitische Interessen verfolgten, das Feld überlassen.

Anmerkungen

1 Patrick Sahle: Digitale Editionsformen. Zum Umgang mit der Überlieferung unter den Bedingungen des Medienwandels. Teil 2: Befunde, Theorie und Methodik. Norderstedt: BoD 2013 (= Schriftenreihe des Instituts für Dokumentologie und Editorik, Bd. 8), 148f.

2 Ebenda, 149.

3 Vgl. zu diesem Problemkomplex die Korrespondenz des Otto-Müller-Verlages mit Hermann F. Broch de Rothermann. FIBA, Sammlung Briefwechsel Ludwig von Ficker. Broch de Rotherman gab schon 1967 an, keine Briefe seines Vaters mehr zu besitzen.

4 Vgl. Sigurd Paul Scheichl: Hermann Broch und Ludwig von Ficker im Spiegel von Brochs Briefen. In: Endre Kiss, Paul Michael Lützeler, Gabriella Racz (Hg.): Hermann Brochs literarische Freundschaften. Tübingen: Stauffenberg 2008, 21–37.

5 Im Vergleich dazu umfasst beispielsweise der Briefwechsel Ludwig von Fickers mit Paula Schlier über 1250 Briefe und Gegenbriefe, die Korrespondenz mit Carl Dallago knapp 550 Stück, jene mit Theodor Haecker knapp 300 Stück.

6 Scheichl: Broch und Ficker (Anm. 5), 21–37.

7 Johann Holzner: Broch und „Der Brenner“. In: Zeitschrift für mitteleuropäische Germanistik, 4. Jg., 1. Heft 2014, 95–103; hier 95f.

8 FWF-Projekt „Ludwig von Ficker als Kulturvermittler“ (P 24283-G23; Laufzeit 2012–2015); FWFProjekt „Ludwig von Ficker: Kommentierte Online-Briefedition und Monografie“ (P 29070-G23; Laufzeit 2016–2020).

9 Der erste Aufsatz Theodor Haeckers erschien im Brenner unter dem Titel F. Blei und Kierkegaard in der 10. Nummer des 1. Halbbandes 1913/14 vom 15. Februar 1914, 457–465.

10 Vgl. dazu Anton Unterkircher: Ich hab gar nichts erreicht. Carl Dallago (1869–1949). Innsbruck: Studienverlag 2013, 195–199.

11 Brief von Harald Binde (Rhein-Verlag, Zürich) an Ludwig von Ficker, 24.11.1959. FIBA, Nachlass Ficker, Sign. 41-3-38-1.

12 Exemplarisch sei auf das bereitwillige Entgegenkommen Fickers bei der Arbeit an den Werkausgaben Else Lasker-Schülers, Rainer Maria Rilkes oder jeder der Werke Ferdinand Ebners verwiesen.

13 Vgl. den Brief von Ignaz Zangerle an Harald Binde, 3.12.1959. FIBA, Nachlass Ficker, Sign. 41-54-63-2.

14 Ebenda.

15 Paul Michael Lützeler: Biographie. In: Hermann-Broch-Handbuch. Hg. von Michael Kessler und Paul Michael Lützeler. Berlin; Boston: de Gruyter 2016, 3–53; hier 15.

16 Ernst Schönwiese: Herausgeber des „Brenner“ 70 Jahre alt. Zu Ludwig Fickers Geburtstag. In: Salzburger Nachrichten, 6. Jahrgang, 13.4.1950, 8: „Hermann Broch, soeben von österreichischer Seite für den Literatur-Nobelpreis vorgeschlagen, hat seine ersten Dichtungen im ‚Brenner‘ veröffentlicht.“

17 Vgl. den Brief von Ludwig von Ficker an Ernst Schönwiese, 22.4.1950. FIBA, Sammlung Briefwechsel Ludwig von Ficker.

18 Brief von Ludwig von Ficker an Ernst Schönwiese, 22.4.1950. FIBA, Sammlung Briefwechsel Ludwig von Ficker.

 

19 Brief von Ernst Schönwiese an Ludwig von Ficker, 12.4.1960. FIBA, Nachlass Ficker, Sign. 41-45-35-6.

20 Ebenda.

21 Brief von Ernst Schönwiese an Ludwig von Ficker, 19.8.1960. FIBA, Nachlass Ficker, Sign. 41-45-36-1.

22 Vgl. Hermann Broch: Gesammelte Werke. Bd. 10: Die unbekannte Grösse und frühe Schriften. Mit den Briefen an Willa Muir. Hg. und eingeleitet von Ernst Schönwiese. Zürich: Rhein-Verlag 1961, 251–256.

23 Vgl. den Brief von Ernst Schönwiese an Ludwig von Ficker, 12.11.1966. FIBA, Nachlass Ficker, Sign. 41-45-36-5.

24 Victor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen. Berlin: Aufbau Verlag 1947.

25 Ebenda, 29.

26 Vgl. Ursula Weyrer: „Das Silberboot“. Eine österreichische Literaturzeitschrift (1935–36, 1946–52). Innsbruck 1984 (= Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft. Germanistische Reihe, Bd. 22).

27 Werner Kraft: Der Sonntag. Über ein Motiv bei Karl Kraus. In: Der Brenner, XVII. Folge 1948, 162–170.

28 Brief von Werner Kraft an Ludwig von Ficker, 29.09.1948. FIBA, Nachlass Ficker, Sign. 41-24-51-3.

29 Vgl. Werner Kraft: Hermann Brochs „Tod des Vergil“. In: Eckart. Blätter für evangelische Geisteskultur 27/1958, Heft 8, 325–345.

30 Vgl. dazu Margit Riml: Parallelkonstruktionen als Mittel der Konstituierung von Langsätzen im Sprachstil Ludwig von Fickers. In: Walter Methlagl; Eberhard Sauermann; Sigurd Paul Scheichl (Hg.): Untersuchungen zum „Brenner“. Festschrift für Ignaz Zangerle zum 75. Geburtstag. Salzburg: Otto Müller Verlag 1981, 130–146.

31 Brief von Ludwig von Ficker an Werner Kraft, 29.9.1948. FIBA, Sammlung Briefwechsel Ludwig von Ficker.

32 Brief von Friedrich Torberg an Ludwig von Ficker, 18.1.1961. FIBA, Nachlass Ficker, Sign. 41-49-22-7.

33 Ebenda.

34 Brief von Ludwig von Ficker an Friedrich Torberg, 24.1.1961. Wienbibliothek im Rathaus, Handschriftensammlung, Nachlass Torberg (ZPH 588); Sign. 24/3.

35 Walter Bapka: Der „Brenner“ von 1910 bis 1915. Geschichte seines Werdens. Diss., Universität Innsbruck 1950.

36 Brief von Walter Bapka an Ludwig von Ficker, FIBA, Nachlass Ficker, Sign. 41-2-6-8.

37 Ludwig von Ficker: Frühlicht über den Gräbern. III: Das Vermächtnis Georg Trakls. In: Der Brenner, XVIII. Folge 1954, 248–269; hier 253.

38 Ebenda.

39 Brief von Ludwig von Ficker an Walter Bapka, 7.8.1965. FIBA, Sammlung Briefwechsel Ludwig von Ficker.

40 Brief von Sidonie Cassirer an Ludwig von Ficker, 15.11.1953. FIBA, Nachlass Ficker, Sign. 41-5-22-1.

41 Brief von Sidonie Cassirer an Ludwig von Ficker, 10.12.1953. FIBA, Nachlass Ficker, Sign. 41-5-22-2.

42 Sidonie Cassirer: Hermann Broch’s Early Writings. In: PMLA Vol. 75, No. 4 (September 1960), 453–462; hier 458.

43 Zum Verhältnis von Karl Kraus und Ludwig von Ficker vgl. Markus Ender; Ingrid Fürhapter; Friedrich Pfäfflin (Hg.): „Erinnerung an den einen Tag in Mühlau“. Karl Kraus und Ludwig von Ficker: Briefe, Dokumente 1910–1936. Göttingen: Wallstein 2017.

44 Vgl. Hermann Broch, Daniel Brody: Briefwechsel 1930–1951. Hg. von Berthold Hack und Marietta Kleiß. Frankfurt am Main: Buchhändler-Vereinigung 1971, Sp. 702–703.

45 Brief von Julius Kiener an Ludwig von Ficker, 29.9.1959. FIBA, Nachlass Ficker, Sign. 41-23-6-6.

46 Vgl. [Wolfgang Pfaundler:] „Das Tiroler Porträt“: Gerhild Diesner. In: das Fenster 17 (1975/76), 1702–1722.

47 Brief von Ludwig von Ficker an Julius Kiener, 6.10.1959. FIBA, Nachlass Kiener, Sign. 97-11-61-3.

48 Brief von Ludwig von Ficker an Julius Kiener, 25.1.1960. FIBA, Nachlass Kiener, Sign. 97-11-61-4.

49 Paula Schlier: Legende zur Apokalypse. Freiburg im Breisgau: Herder 1949.

50 Brief von Ludwig von Ficker an Paula Schlier, 26.11.1946. FIBA, Nachlass Schlier, Sign. 117-8-17-11.

51 Ebenda.

52 Ein Titel, mit dem er vom dänischen Publizisten Friedrich Hansen-Löve in einer Würdigung zu seinem 85. Geburtstag im April 1965 bedacht wurde; vgl. Friedrich Hansen-Löve: Auctor Austriae. Zum 85. Geburtstag Ludwig von Fickers am 13. April 1965. In: Forum XII (Nr. 136), April 1965, 192–193.

53 Scheichl: Broch und Ficker (Anm. 5), S. 22.

54 Julius Kiener: Gespräch mit Ludwig von Ficker über Hermann Broch. In: Seefeld-Tirol. Kur- und Reisezeitung. Hg. vom Verkehrsverein Seefeld. 5. Jahrgang 1960 (Nr. 18), 4: „Er arbeitete an einer Denkschrift über die berühmte Friedensrede von Nansen, die er mir zur Veröffentlichung im ‚Brenner‘ übergeben wollte.“

55 Vgl. den Brief Hermann Brochs an Ludwig von Ficker, 28.11.1937: „Wenn Sie das Resolutionsmaterial nicht mehr brauchen, so erbitte ich es zurück; ich habe immer zu wenig Exemplare.“ FIBA, Nachlass Ficker, Sign. 41-4-35-1.

56 Ernst Schönwiese: Einleitung. In: Hermann Broch. Gesammelte Werke (Anm. 22), 7–36; hier 21.

Ethik und Ästhetik sind (nicht) Eins: Hermann Broch und das geheime Motto des Brenner
von Anton Unterkircher (Universität Innsbruck)

„Ethik und Ästhetik sind Eins“, so formulierte es Wittgenstein im Tractatus (6.421). Natürlich ist dieser Satz nur im Zusammenhang mit den umliegenden Formulierungen und Sätzen zu verstehen und zu interpretieren. Schon in seinen Tagebuchaufzeichnungen im Ersten Weltkrieg hat sich Wittgenstein mit diesem Thema beschäftigt: „Das Kunstwerk ist der Gegenstand sub specie aeternitatis gesehen; und das gute Leben ist die Welt sub specie aeternitatis gesehen. Dies ist der Zusammenhang zwischen Kunst und Ethik“.1 Während Wittgenstein im Tractatus zum Schluss kam, dass über dieses Thema nichts Sinnvolles ausgesagt werden könne, war man in der seit Juni 1910 erscheinenden Kunst- und Kulturzeitschrift Der Brenner gegenteiliger Ansicht. Angesichts der verschiedensten Moderne-Bestrebungen seit der Jahrhundertwende mutet die Vorstellung von der Einheit von Ethik und Ästhetik allerdings etwas antiquiert an. Dies erinnert an eine Aussage des Geologen und Schriftstellers Adolf Pichler (1819–1900) aus dem Jahre 1874; Pichler schreibt da über Michelangelo: „Nur dadurch waren seine ungeheuren Schöpfungen möglich, weil seine gigantische Persönlichkeit die Werke deckte.“2 In diesem Sinne verstanden die Brenner-Leute die Einheit von Ethik und Ästhetik vor dem Ersten Weltkrieg. Daraus erklärt sich bis zu einem gewissen Grad auch, warum der Brenner mit den Moderne-Bestrebungen überraschend wenig gemein hat; viele AutorInnen der Moderne werden in der Zeitschrift kaum zur Kenntnis genommen, zu Jung-Wien steht sie in Opposition: Schnitzler oder Hofmannsthal werden nur ganz am Rande erwähnt, Hermann Bahr ist Zielscheibe von satirischen Angriffen.3 Den Brenner als expressionistische Zeitschrift zu bezeichnen, nur weil darin ein Theodor Däubler, Albert Ehrenstein, Georg Trakl oder eine Else Lasker-Schüler publiziert haben, das geht viel zu weit, ist aber aus der Forschungsliteratur spätestens seit der Aufnahme der Zeitschrift in den Index Expressionismus4 nicht mehr hinauszubringen. Ebenso nicht die Bezeichnung Brenner-Kreis: Einen gleichgesinnten Kreis im Sinne etwa des George-Kreises hat es nie gegeben; wohl aber eine Gruppe von eigenbrötlerischen Individualisten, die unterschiedlicher nicht hätten sein und denken können. Notdürftig zusammengehalten wurde das Unternehmen vom allein verantwortlichen Herausgeber Ludwig von Ficker.

Ich habe im Titel in Klammern ein „nicht“ eingeführt. Das erklärt sich daraus, dass diese Vorstellung im Brenner, nicht nur beim Lebensentwurf des Hauptmitarbeiters Carl Dallago (1869–1949), Risse zeigt.5 Sein Versuch, Kunst und Leben zur Deckung zu bringen, war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Zum einen, weil Dallago streng genommen kein Künstler war, zum anderen, weil er von der Welt nicht loskam, mit der er eigentlich gebrochen zu haben glaubte. Der rund dreißigjährige bürgerliche Lebenswandel als Kaufmann vor seiner Hinwendung zur Schriftstellerei hatte in ihm selbst unauslöschliche Spuren hinterlassen. Sein leidenschaftlicher Kampf gegen die Spießbürger, die Philister, war, wenn auch unbewusst, immer auch ein Kampf gegen den Philister in sich selbst. Dallago sah sich selbst ohne Einschränkung als Künstler, freilich hatte er eine recht eigenwillige Vorstellung von diesem Beruf: Dem freien Menschen sei die Kunst nur Ersatz für ein Leben, das er nicht leben könne.6 Die Sorge und der Einsatz für seine zweite Familie schränkten seine persönliche Freiheit und die schriftstellerische Arbeit ein. Theorie und Praxis des Lebensentwurfs – „Wo ich bin, muß das eines sein!“7 – klafften oft weit auseinander. Seine Philosophie sollte eine der Tat sein:8 „Sie ist gelebtes Sein.“9 Dieses rigide philosophische Denken war mit der praktischen Lebensführung schwer in Einklang zu bringen. Wenn also Broch den von Dallago und den Brenner-Leuten propagierten Antagonismus von Philister und Künstler in seinem Aufsatz Philistrosität, Realismus, Idealismus der Kunst in Frage stellt, so rüttelt er an den Grundfesten des Brenner-Konzepts.


Ludwig von Ficker als Schauspieler, um 1900, Nl. Ficker, Sign. 41-95-38-1

Sören Kierkegaard definiert drei Stadien auf dem Lebensweg: „Es gibt drei Existenzsphären: die ästhetische, die ethische, die religiöse.“10 Wenn man diese Stadien auf eine Zeitschrift wie den Brenner beziehen kann, dann deshalb, weil dahinter eine dominante Herausgeberfigur steht, deren persönliche Entwicklung untrennbar mit der Konzeption der Zeitschrift und deren Entwicklung verbunden ist. Zur Person Fickers (1880–1967) ist vorauszuschicken, dass er sich ab der Jahrhundertwende selbst als Schriftsteller versuchte und drei Werke in Buchform herausbrachte, zwei Dramen und einen Gedichtband.11 Er betätigte sich um die Jahrhundertwende auch als Schauspieler und Regisseur. Eine regelrechte Schauspielerkarriere einzuschlagen wurde ihm aber von seinem Vater, dem Rechtshistoriker Julius von Ficker, untersagt. Mit seinem 1904 erschienenen Lyrikband Inbrunst des Sturms erlitt er – zu Recht – Schiffbruch, und von da an wandte er sich vermehrt der Literatur von anderen zu, verfasste vor allem Besprechungen und baute ein weitverzweigtes Korrespondenznetzwerk auf, das neben dem Brenner zu seinem zweiten Lebenswerk werden sollte.12

 

Ficker hatte also die ästhetische Phase schon hinter sich, als er 1910 den Brenner allein für Carl Dallago gründete, der damals sein sogenanntes ‚Landschaftsmenschentum‘ zu leben und zugleich in seinen kulturkritischen Essays zu beschreiben versuchte. Ficker ließ ihn das „Geleitwort“ zur Zeitschrift verfassen.13 Da es nicht namentlich gezeichnet ist, wird es bis heute oft noch irrtümlich Ficker zugeschrieben. Der zentrale Satz des Brenner-Programms, sofern man dieses Geleitwort überhaupt als solches bezeichnen kann, lautet: „Es bedeutet uns im Kerne ein Unterbringen der menschlichen Natur – ein Unterbringen von Menschentum.“ Der halbe Satz davor: „daß es uns die Begriffe: Kultur, Kunst, Dichtung lebendig und fruchtbar erhält“, ist sehr allgemein formuliert und hat somit wenig Aussagekraft. Um mit Kierkegaard zu reden, startete Ficker – so meine These – mit dem Brenner bereits in das ethische Stadium.

Ficker war keineswegs so naiv, Dallagos künstlerische Schwächen zu übersehen. So schrieb er bereits im Juli 1910 an seinen Freund Robert Michel, als er schon frustriert war über die geringe Resonanz der Zeitschrift und zudem die Innsbrucker Zeitschrift Der Föhn als Konkurrenzblatt wiederauferstand:

Ich weiß zwar erst jetzt so recht, wie niedrig ich den „großen Dichter“ Kranewitter14 und seinen Anhang einzutaxieren habe (die Qualität dieses Anhangs ist für das menschliche Niveau dieses gewiß stark und ursprünglich Begabten schon sehr bezeichnend), aber das wird mir ein Ansporn sein, vor allem auf Persönlichkeitsgehalt im „Brenner“ zu halten. Drum spiel’ ich mit Wärme den Dallago aus, so wenig er – rein litterarisch genommen […] auf völlig zuverlässiger Höhe steht.15

Diese Formulierung enthält implizit die Vorstellung der Einheit von Ethik und Ästhetik, zeigt aber zugleich, dass Ficker von Anfang an den Schwerpunkt auf die Ethik legte, in diesem Fall auf die Lebensführung, das Lebensbeispiel seines Hauptmitarbeiters. Der Anspruch war hoch, doch in der Praxis kaum umzusetzen: Ficker musste nämlich alle vierzehn Tage ein Heft füllen, hatte aber vorerst wenig Mitarbeiter und daher auch nicht immer genug qualitativ hochstehende Beiträge. So war Fickers Konzept auch manchem Mitarbeiter nicht leicht verständlich. Schon Anfang September 1911 schrieb der Tiroler Autor Hans von Hoffensthal an Ficker in Bezug auf Dallago: „Sperren Sie endlich diesem Narren Ihre Spalten. Dann kann aus dem Brenner mühelos das Blatt werden, das Sie und viele Freunde Tirols wünschen.“16 Hoffensthal erhielt daraufhin eine an Karl Kraus geschulte Abfertigung, die eigentlich nur deswegen in ihrer Schärfe und Härte erklärbar ist, weil mit der Persönlichkeit Dallagos Fickers Konzept in Frage gestellt wurde. Ficker überstieg dabei gar die Grenze des Anstands und publizierte gegen Hoffensthals Willen dessen Briefe an ihn.17 Gegenüber dem Menschen Hoffensthal war Ficker schon einige Zeit früher misstrauisch geworden: Er vermisste bei ihm „ein gewisses selbstverständliches Distanzgefühl – jenes seelische Distanzgefühl, das bei Menschen von tieferer Herzensbildung mit dem Grade ihrer Vertraulichkeit eher zu- als abnimmt.“18 Hoffensthals Ausscheiden als Mitarbeiter war eine logische Folge.


Max von Esterle: Carl Dallago, 1911

Eberhard Sauermann versuchte in dem 1981 erschienenen Sammelband Untersuchungen zum „Brenner“ – in dem übrigens der erste grundlegende Aufsatz von Paul Michael Lützeler über Broch und den Brenner erschienen ist – dem Lyrik-Verständnis Ludwig von Fickers, dessen ästhetischen Maßstäben auf die Spur zu kommen. Dies konnte auch bei profunder Kenntnis der Quellen kaum gelingen, weil es Ficker eben auf die Persönlichkeiten ankam, er also primär ethische Maßstäbe anlegte.19 Gerade in einem Brief, in dem Ficker 1912 ein Gedicht von Ludwig Erik Tesar, einem ehemaligen Fackel-Mitarbeiter, und damit wohl prinzipiell als Brenner- Mitarbeiter sanktioniert, mit verklausulierten Formulierungen ablehnte, findet sich nämlich ein bezeichnender Nebensatz über Dallago, bei dem „der menschliche Bekenntniswert den künstlerischen Gestaltungswert so sehr überwiegt, daß nur der Tieferblickende erkennen kann, zu welch notwendiger Einheit Genialität und – sagen wir meinethalben – Dilettantismus sich hier verbinden.“20

Doch noch einmal zurück zum Beginn des Brenner. Schon im zweiten Brenner- Heft legte Ficker unter dem Pseudonym ‚Fortunat‘ seine bedingungslose Kraus-Verehrung offen: Kraus habe es zustande gebracht, „die Welt voll leeren Grauens bloß zu legen, die sich hinter dem dekorativen Putz unserer traditionellen Fortschritts- und Grundfesten-Pathetik verbirgt“,21 der in „unseren Tagen schöngeistiger Exzessiersucht und zerebraler Bildungsvöllerei geradezu asketisch anmutet.“22 Da musste nun der Hauptmitarbeiter Dallago erleben, dass bei Fickers Zeitschriften-Konzept noch eine, ihn weit überragende Persönlichkeit Pate stand. Gerade im Vergleich mit Kraus zeigen sich die Schwächen Dallagos, der von Fickers Kraus-Verehrung bis zu diesem Zeitpunkt nichts wusste und erst von Ficker zur Kraus-Lektüre angehalten wurde. Vorerst zögerlich und erst als er merkte, wie wichtig dies Ficker war, ließ er sich für Kraus begeistern. Es ist bezeichnend, dass Dallago seinen Aufsatz über Kraus mit „Karl Kraus, der Mensch“ betitelte.23 Im Grunde beruhte Dallagos Verhältnis zu Kraus von Anfang an auf einem Missverständnis. Während Kraus am Zustand der Sprache den Zustand der Welt ausmachte und mit seiner meisterhaften Sprachhandhabung beißende Kulturkritik übte, war für Dallago das Gesagte nie die Hauptsache, auch nicht der Stil, sondern für ihn musste das Geschriebene „echt, wahr und existenziell beglaubigt sein“.24 In der Brenner- Gruppe praktizierte Ficker ein radikales Entweder-Oder. Wer gegen Kraus war, hatte die Mitarbeiterschaft an der Zeitschrift verwirkt, oder aber er bekam keine Chance, daran mitzuwirken.

Der wohl wichtigste Beleg dafür, wie Kraus – nun auch mit Billigung Dallagos – in das ethische Konzept der Zeitschrift eingebaut wurde, ist jene Widmung an Ficker in Pro domo et mundo, die Kraus nach der zweiten Lesung in Innsbruck Anfang 1913 formuliert hat:

Wenn ich – statt sie „nur zu zerstören“ – mich auf allgemeines Verlangen entschlösse die Welt „auch aufzubauen“, so brauchte ich einen Plan. Und den nähme ich von der Erinnerung an den einen Tag in Mühlau.25


Karl Kraus: Widmung in Pro domo et mundo, 1913

Unter Anführungszeiten zitiert Kraus offensichtlich aus jenem Gespräch, das am Abend nach der Lesung im Gasthaus geführt wurde, bei dem auch Dallago dabei war. Es gibt auch noch andere Stellen, in Briefen und auch im Brenner, die auf diese Rollenverteilung anspielen: In seinem Essay Verfall rechnet Dallago Kraus zu den Zerstörern, zu den Vorbereitern, sich selbst hingegen sieht er in der Rolle des Aufbauers, als „Humanisten der Tat“.26 Ernst Knapp, der seinen Freund als „vollkommene Menschennatur“ verehrte, schlug in dieselbe Kerbe. Nach Kraus müsste man immer Dallago lesen: „Und ein gütiges Geschick hat Kraus zugleich zum Niederreißen gesandt um Dallago dem Aufbauer die Arbeit etwas zu erleichtern.“27

Kraus wird als der Zerstörer, der Einplanierer verstanden und die Brenner-Leute als diejenigen gesehen, die darauf ein neues Werte-Gebäude errichten: Kraus ist der negative, Dallago der positive Ethiker.

Ein schönes Beispiel, wie Dallago von einem Kunstwerk auf dessen Schöpfer schloss, ist seine Beurteilung einer Streitschrift von Albin Egger-Lienz im sogenannten Hodler-Streit. Max von Esterle hatte Egger-Lienz im Brenner mit Ferdinand Hodler verglichen. Im selben Heft berichtete Ficker über die erste Kraus-Lesung in Innsbruck.28 Im Gegensatz zu anderen Kollegen rund um die Zeitschrift bewertete Dallago das Nebeneinander von Egger-Lienz und Kraus positiv: „Und gerade den Vollkünstlern wie Egger L. kommen Vollsäuberer – ganze Reinemacher – Künstler in diesem Sinn – zu gute. Sie erst machen klare Luft – verjagen Nebel u. Wolken, in deren Schutz sich gleichsam jeder Hügel – ja geringste Anhöhen wie hohe Berge u. Gipfel gebärden möchten.“29 Im selben Heft ist übrigens der zweite Teil von Dallagos Philister abgedruckt,30 von dem noch die Rede sein wird. In Dallagos Aussage wird das geheime Brenner-Motto bekräftigt und wiederum deutlich, dass der ethische Aspekt überwiegt. Als Dallago im Sommer 1912 von Egger-Lienz dessen Aufsatz Monumentale Kunst31 erhielt, war er von diesem Rundumschlag entsetzt und schrieb ihm sofort:

Ich kann das Gelesene mit Ihrer Persönlichkeit nicht vereinen. Ich sage es offen: ich glaube nicht, daß der Aufsatz Ihnen entsprungen ist, sondern höchstens Ihnen aufgedrungen wurde von Anderen. […] Nochmals: ich empfand Ihre Kritik in ihrer Form vielfach schrecklich, – Ihrem Wesen u. Ihrem herrlichen letzten Werke so ganz u. gar nicht liegend.32

Egger-Lienz hatte Das Leben Anfang 1912 fertiggestellt und eine Gruppe von Brenner-Mitarbeitern, darunter auch Dallago, hatten es in seinem Atelier in Hall besichtigt.33 Wer ein solches Kunstwerk geschaffen habe, könne nicht der Verfasser dieser Schrift sein, so Dallago. Und da trog ihn sein Gefühl nicht, denn an diesem Text hatte maßgeblich ein Journalist, Otto Kunz, mitgewirkt. Freilich konnte Egger-Lienz nur aus Dallagos Sicht einen Freispruch bekommen, denn dieser hatte eben doch seinen Namen dafür hergegeben, weil er nicht frei von Eitelkeit war und ihm der Vergleich mit Hodler gar nicht behagte. Egger-Lienz hat schon bald nach Esterles Artikel das Abonnement des Brenner gekündigt.34 Wie eng von Dallago Leben und Kunst zur Lebenskunst zusammengeführt wurde, belegt eine Aussage über Jesus, den er als die „tiefste Künstlernatur der Menschheit“ bezeichnet hat.35


Max von Esterle: Widmung für Georg Trakl, 1913

Noch ein anderes Beispiel, das gewissermaßen eine Parallele zu Kraus darstellt, sei hier angeführt: Georg Trakl. Als dieser seit Herbst 1912 Dallago die Hauptmitarbeiterschaft am Brenner streitig machte, wollte ihn Dallago eine Zeitlang nicht gelten lassen, bezeichnete ihn als Dichter des Verfalls: „nein; der ist ein völlig Eingeschlossenes, Zusammenhängendes, Unveränderliches, aber dieses als Ganzes ist wankend u schwankend, als ein Niedersinkendes einem anderen gegenüber, das sich erheben will.“36 Auch da brauchte es von Seiten Fickers einige Überredungskunst, bis Dallago von der Deckung von Person und künstlerischem Werk überzeugt war. Den Ausschlag gaben dabei nicht Trakls Verse, sondern ein Brief des Lyrikers an Ficker, den dieser an Dallago weitergeschickt hatte. Darin heißt es:

Zu wenig Liebe, zu wenig Gerechtigkeit und Erbarmen, und immer zu wenig Liebe; allzuviel Härte, Hochmut und allerlei Verbrechertum – das bin ich. Ich bin gewiß, daß ich das Böse nur aus Schwäche und Feigheit unterlasse und damit meine Bosheit noch schände. Ich sehne den Tag herbei, an dem die Seele in diesem unseeligen von Schwermut verpesteten Körper nicht mehr wird wohnen wollen und können, an dem sie diese Spottgestalt aus Kot und Fäulnis verlassen wird, die nur ein allzugetreues Spiegelbild eines gottlosen, verfluchten Jahrhunderts ist.37

„Trackls Schreiben ist erschütternder als seine Gedichte“, schrieb Dallago daraufhin an Ficker: „Da ist er noch mehr Untergang – Untergang auch in seinem Christentum. […] Trackl ist alles, was er dartut. Ich bin ihm sehr zugetan: sein Menschentum verlangt in mir in vielem Gegnerisches der Anschauung […].“38 Trakls Verse waren nun aus Dallagos Sicht – wenn auch negativ – existenziell beglaubigt.

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