Hermann Broch und Der Brenner

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Die Exilanten (Werner Kraft und Friedrich Torberg)

Hinsichtlich der Frage nach der direkten und indirekten Rezeption Brochs im Spiegel des Gesamtbriefwechsels fällt neben der direkten Bezugnahme aufgrund editorischer Interessen auf, dass der Diskurs um Hermann Broch nach Kriegsende 1945 vor allem von Exilant*innen und Persönlichkeiten, die im Umfeld mit der Verfolgung im Dritten Reich zu kämpfen hatten, reaktiviert wird. Als einer der wichtigsten Akteure ist hier der jüdische Autor Werner Kraft zu nennen. Kraft stammte aus Hannover und hatte dort an der Vormals Königlichen und Provinzial-Bibliothek eine Anstellung inne, bis er nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 aufgrund der stärker werdenden politischen und gesellschaftlichen Repressalien gezwungen war, Deutschland zu verlassen. Über Schweden und Frankreich exilierte er nach Jerusalem und richtete dort seine Schriftstellerexistenz ein, so gut er dies vermochte. Dies gelang ihm lange Jahre mehr schlecht als recht, denn er nahm zeitlebens davon Abstand, Hebräisch zu lernen und publizierte stattdessen konsequent auf Deutsch. Er war nicht gewillt, die kulturelle Identität, die ihn mit Karl Kraus und Rudolf Borchardt verbunden hatte, durch einen Sprachwechsel aufzugeben, obwohl das Deutsche durch die Lingua Tertii Imperii,24 „durch die Einzelworte, die Redewendungen, die Satzformen, die [der Nazismus] ihr in millionenfachen Wiederholungen aufzwang und die mechanisch und unbewußt übernommen wurden“,25 nachhaltig usurpiert worden war. Als Folge beschäftigte sich Kraft zeitlebens mit jenen Schriftsteller*innen, die er als integre Beispiele einer „deutschen“ Kultur interpretierte, da sie nicht vom Nationalsozialismus vereinnahmt worden waren. Zu dieser Gruppe zählten neben Karl Kraus unter anderem auch Autor*innen aus dem Brenner-Umfeld, so z.B. Ferdinand Ebner, Else Lasker-Schüler – oder eben Hermann Broch.

Kraft war eng mit Hermann Broch und Ernst Schönwiese vernetzt; ebenso wurde aber auch Ludwig von Ficker zur wichtigen Anlaufstelle. Schönwiese war eine der ersten Persönlichkeiten des kulturellen Lebens, mit der er nach Kriegsende in Österreich brieflich in Kontakt getreten war, die Wiederaufnahme des Briefverkehrs mit Ficker folgte nur wenig später. Dieses Verhältnis findet in Krafts Publikationen einen Widerhall: Er hatte 1946 im silberboot Aufsätze u.a. zu Karl Kraus, Rudolf Borchardt, Goethe und Paul Valéry sowie eigene Gedichte und Teile seines Romans Der Wirrwarr veröffentlicht26 und 1948 zu Kraus im Brenner publiziert.27 Kraft stand in der Zwischenkriegszeit und nach dem Weltkrieg mit Broch in brieflichem Kontakt und gab seinerseits Informationen über die eigene Situation im Exil, aber auch über das Befinden und die kulturellen Aktivitäten anderer Exilant*innen weiter. In diesem Sinne nahm er die Rolle eines Kulturvermittlers ein – eines Vermittlers aus der geographischen Ferne freilich, da er sich dazu entschieden hatte, nicht mehr nach Deutschland zurückzukehren, sondern in Jerusalem zu verbleiben. An Ludwig von Ficker berichtete er am 29. August 1948:

Eben erhalte ich von Hermann Broch in Princeton – dessen „Tod des Vergil“ ich für ein außerordentliches Buch halte – einen Brief, aus dem hervorgeht, daß er meine Aufsätze über Kraus und Supervielle gelesen hat. Leider ist er seit Monaten krank, wenn auch auf dem Wege der Besserung und arbeitsfähig.28

Obwohl prinzipiell gutes Einvernehmen zwischen Kraft und Ficker bestand, nahm Ficker die Nachricht offenbar nicht zum Anlass, näher auf diesen Verweis einzugehen. In der überlieferten Korrespondenz lässt sich kein Hinweis auf eine dezidierte Antwort auf den Brief ausmachen, vielmehr klafft eine dreijährige Lücke bis zur nächsten Kontaktnahme. Umso erstaunlicher erscheint deshalb der Umstand, dass Ficker elf Jahre später [!] im Jänner 1959 in einem Brief an Kraft einen unmittelbaren Bezug zu dessen Interpretation des Brochschen Tod des Vergil herstellte. Vermutlich als Reaktion auf ein Gespräch bei einer persönlichen Begegnung, bezog sich Ficker dort auf Krafts Vergil-Interpretation, die in der Zeitschrift Eckart erschienen war.29

Die Ausführungen, mit denen er diesen Text kommentiert, sind von jenem Duktus geprägt, der Ficker unverwechselbar zueigen war und der sich oftmals in schwer verständlichen Formulierungen manifestiert.30 So ist auch in der betreffenden Briefstelle die Bedeutung der Phrasen nicht leicht zu entschlüsseln. Trotz der Nebulosität der Formulierungen scheint aber durch, dass Ficker mit dem Bild, das Werner Kraft von Broch gezeichnet und durch seine Publikationstätigkeit auch öffentlich verbreitet hatte, durchaus einverstanden war:

Was Ihre Ausführungen zu Brochs „Tod des Vergil“ betrifft, so war ich erstaunt. Es ist das Tiefstüberdachte in all dem Wohlbedachten, das ich von Ihnen gelesen habe. Welch ein Aushub beachtlicher Gesichtspunkte in der Konfrontierung mit einem Werk, das, geschaffen von einer geistigen Kapazität, in der sich Denker und Dichter ergreifend durchringen, zu einer Form der Ausreflektiertheit aufgeblüht ist, die als Beispiel eines erhabenen Dilemmas der Erkenntlichkeit zwischen persönlicher und menschlicher Gewissenhaftigkeit mächtig zum Nachsinnen anregt! Wie aufschlußreich sind da auch die Zitate, die Sie aus Ihrem Briefwechsel mit Broch hervorheben!31

Neben Werner Kraft, dessen Bedeutung für die Kulturvermittlung erst allmählich und nach wie vor nur bruchstückhaft erkannt und wahrgenommen wird, tritt mit Friedrich Torberg eine weitere Persönlichkeit als Impulsgeber aus dem Broch-Umfeld an Ficker heran. Torberg hatte im Frühjahr 1938 unmittelbar nach dem ‚Anschluss‘ ebenfalls die Flucht ins Exil angetreten, war aber im Gegensatz zu Kraft 1951 wieder nach Österreich zurückgekehrt. Unmittelbar nach seiner Ankunft hatte er damit begonnen, sich neben bzw. gemeinsam mit Hans Weigel als selbsternannter Proponent des (antikommunistisch apostrophierten) kulturellen Wiederaufbaus zu positionieren. Torberg trat im Jänner 1961 aus der Peripherie in das Netzwerk ein, das im Zeitraum von rund einem Jahrzehnt rund um die Besorgungsaktion der Broch-Briefe für die Gesamtausgabe entstanden war. An Ficker schrieb er: „Vielleicht haben Sie schon davon gehört, dass der Rhein-Verlag (Zürich) im Rahmen der Gesammelten Werke von Hermann Broch einen Ergänzungsband herausbringt, der u.a. auch Ihren Briefwechsel mit Broch enthalten wird“.32 Torberg handelte mit seiner Anfrage aber stärker aus persönlichen Motiven heraus, denn im Gegensatz zu den zuvor Zitierten verfolgte ein anderes Ziel:

Im kommenden Mai jährt sich Hermann Brochs Todestag zum 10. Male und ich muss Ihnen nicht erst sagen, wie glücklich ich wäre, wenn unter den Aufsätzen, die wir aus diesem Anlass veröffentlichen (und zu denen ich ein paar unerhebliche persönliche Erinnerungen beisteuern will) auch ein Beitrag von Ihnen wäre. Sie haben noch hübsch ein paar Monate Zeit dafür, und ich hoffe sehr, dass es Ihnen möglich sein wird, meine Bitte zu erfüllen.33

Die Briefe Fickers an Torberg, die sich im Nachlass Torbergs in der Wienbibliothek im Rathaus befinden, geben Aufschluss darüber, dass Ficker die Anfrage einmal mehr abschlägig beschied und den Ball erneut an Schönwiese zurückspielte. Er bemerkte: „Was Ihre Anfrage wegen Broch betrifft, so muß ich Sie bitten, sich mit Dr. Schönwiese in Verbindung zu setzen. Er gibt ja diesen Ergänzungsband heraus und in seinen Händen befinden sich noch die Briefe von Broch an mich, die ich ihm letzten Sommer zur Einsicht übermittelt habe.“34

Die Wissenschaftler*innen (Walter Bapka und Sidonie Cassirer)

Neben der Rezeption durch Vermittlerpersönlichkeiten, die sich dem kulturellen Wiederaufbau verschrieben hatten, geriet Hermann Broch nach 1945 zunehmend in den Fokus von Akteuren des Wissenschaftsbetriebs, die auch im Umfeld des Brenner ihre Forschungen betrieben. Zum einen trat Walter Bapka nach Kriegsende aus wissenschaftlichem Interesse an Broch mit Ficker in Kontakt. Bapka hatte bereits 1950 zur frühen Phase der Zeitschrift eine Dissertation verfasst35 und sich 1963 mit seiner Familie in Salzburg als Gymnasialprofessor niedergelassen. Konkret fasste Bapka in seinem Brief an Ficker vom 24. Juli 1965 mit dem Tod des Vergil ein Werk von Broch ins Auge, das er mit einem definierten methodischen Ansatz einer Interpretation unterziehen wollte:

So wächst mir in der Landschaft dieser Stadt ein inneres Land jetzt zu, mit dem Gedicht Trakls, mit dem Liebeslicht, das aus Ihrem Abschiedsgruß an Georg Trakl („Der Brenner“, IX. Folge, Herbst 1925) leuchtet und den Meditationen von H. Broch in seinem „Tod des Vergil“ (H. Broch erscheint ja auch schon im „Brenner“ vor 1914!).

Überhaupt! wie diese drei Zeugnisse einander erhellen. Das ist Zu-Fälliges der Ordnung, des Geistes.

Das müßte eine herrliche Arbeit geben, eine Studie, die Trakls Dichtung mit Brochs „Tod des Vergil“ zur Konjunktion brächte!

 

Was für ein brüderliches Gestirn!

Wortwerdung des menschlichen Daseins, mit demselben Pulsschlag der Wortbildung, aus demselben Erlebniskern, mit derselben unendlichen Geduld und Leidens-Gefaßtheit! und Zuversicht: „Gesang einer gefangenen Amsel“!

Alle Kunstgriffe der wissenschaftlichen Durchdringung und Fragestellung würden das zu Tage fördern: Die Mikro- und die Makrostruktur beider Werke sind vom gleichen Kraftfeld strukturiert, schwingen in derselben Frequenz, sind auf denselben Ton gestimmt.36

Es liegt auf der Hand, dass die Formulierung „Zu-Fälliges der Ordnung, des Geistes“ Ficker geschmeichelt hatte. Der Brenner-Herausgeber war der Idee vom poeta vates, dem göttlich inspirierten Dichter-Seher, durchaus zugetan. Insbesondere Georg Trakl wurde (ex post und zumeist indirekt) von ihm mit ebendiesem Attribut versehen. So sprach Ficker im Brenner von dessen „Sehergabe“ und von der Wirkung „jenes schrecklichen Zwielichterlebnisses von Offenbarung und Untergang“,37 das in seiner Auffassung die Dichtung Trakls charakterisierte. Das „Zu-Fällige“ bezeichnet in diesem Zusammenhang jenes von göttlicher Macht eingegebene (d.h. zugefallene) Geschick, das im Verborgenen waltet. Im Grunde bedeutet es das Gegenteil von Willkürlichem oder Zufälligem; es wurde von Ficker gerne mit dem Begriff der metaphysisch aufgeladenen „Vorsehung“ umschrieben, der er sein gesamtes Wirken zugrunde legte.

Bapka präsentierte mit dem Gedankenspiel, die Werke Trakls und Brochs „in Konjunktion“ zu denken, einen Ansatz, der exakt dem kulturpolitischen Bestreben Fickers entsprach: KünstlerInnen verschiedenster Couleur sollten unter das Dach jener interpretatorischen kunsttheoretischen Prämisse gebracht werden, deren Basis seit 1912 gleichsam alternativlos der Nimbus der Traklschen Dichtung bildete und unter den sich sämtliche im Umfeld des Brenner publizierte (literarische) Kunst zu unterwerfen hatte. Diese Dichtung war kompromisslos christlich determiniert, wie Fickers Aufsatz Frühlicht über den Gräbern38 aus der letzten Brenner-Nummer von 1954, in dem das Kunstverständnis Fickers offen zutage tritt, illustriert hatte. Da Bapka Mitte der 1960er-Jahre die Spezifik der Briefsprache Fickers weitgehend internalisiert hatte, übernahm er deshalb auch hier diese Deutungsmuster bis in die Motivik und die semantischen Bedeutungszuschreibungen einzelner Schlüsselbegriffe hinein. Der Begriff der „Wortwerdung“ verweist beispielsweise auf den schöpferischen Logos, wie er im ersten Kapitel des Johannes-Evangeliums eingeführt wird. Gepaart mit jenem bereits zu Trakls Lebzeiten gepflegten, seit dessen Tod im November 1914 dann über Jahrzehnte exzessiv perpetuierten Leidens-Topos fügt sich der Terminus nahtlos in den von Ficker vorgegebenen interpretativen Diskursrahmen. Unter solchen Präliminarien konnte nicht ausbleiben, dass Fickers Antwort an Bapka in positiv-bestärkender Weise ausfiel. Einmal mehr diente Brochs Tod des Vergil als Angelpunkt der Argumentation:

Was Sie mir über die seltsame Schicksalsverknüpftheit, die geistige, zwischen Trakl und Broch, (in dessen „Tod des Vergil“) herausgewachsen aus dem Boden des „Brenner“ mitteilen, leuchtet mir ein. Um so mehr möchte ich Ihnen Mut machen, unter den Gesichtspunkten, die Sie andeuten, sich dieser gewichtigen Aufgabe zu unterziehen. Ich, der ich die Art Ihres Vorgehens von früher her kenne, bin überzeugt davon, daß viel und Wesentliches dabei herauskommen wird.39

Im Abstand von mehr als fünf Jahrzehnten ist nur schwer nachzuzeichnen, ob Bapka jemals begonnen hat, an der Studie zu arbeiten, die in diesen Briefen in ihren Umrissen skizziert wird. Von Bedeutung ist jedoch die Tatsache, dass in diesen Überlegungen ein diskursives Gedankengebäude aufgespannt wird, dem konkrete Prämissen zugrunde liegen. Diese machten es möglich, die Kunst Trakls und Brochs mit Fickers kunsttheoretischen Positionen in einer hypothetischen Trias zu vereinen und als eine Einheit zu denken. Angesichts des latent durch eine spezifische Form des Katholizismus’ geprägten Klimas im Umfeld des Nachkriegs-Brenner erscheint evident, dass Bapka damit weniger den Autor Broch im Auge hatte, sondern vielmehr darauf abzielte, die Interpretation ganz im Sinne Fickers zu gestalten.

Neben den Briefen Walter Bapkas ist eine zweite wissenschaftliche Korrespondenz hervorzuheben, die zwar vom Umfang knapp dimensioniert ist, gleichwohl aber interessante Aussagen enthält. Die angehende Germanistin Sidonie Cassirer arbeitete 1953 an einer Dissertation zu Brochs Werk und wusste um die frühen Kontakte Fickers mit Broch. Aus diesem Grund wandte sie sich mit ebenso präzise wie konkret formulierten Fragen an den Brenner-Herausgeber. In ihrem Schreiben vom 15. November erbat sie Auskunft zu folgenden Themenkomplexen:

1. Gehoerte Broch zum „Brennerkreis“ (gab es so etwas ueberhaupt), oder sandte er ganz einfach sein erstes Manuskript an den „Brenner“ als Unbekannter.

2. Wissen Sie, [...] ob er schon vor seinem ersten Artikel im Brenner (1913) woanders etwas veroeffentlicht hatte?

3. Falls Sie Broch persoenlich kannten, koennten Sie mir darueber Einzelheiten schreiben? Ich habe Hermann Broch nur waehrend seiner letzten Jahre an der Yale Universitaet gekannt und es waere interessant fuer meine Arbeit, wenn ich mehr ueber Broch’s fruehere Taetigkeit erfahren koennte.40

Der Antwortbrief Fickers ist verloren gegangen; wie sich aber aus dem Folgebrief Cassirers erschließen lässt, hatte Ficker auf diese Fragen Rede und Antwort gestanden, wofür sie sich bedankte und feststellte:

Sie haben meine Fragen sehr klar beantwortet und mir darueber hinaus wertvolle Hinweise gegeben. Die ganze Art ihrer Darstellung gab ueberhaupt Einsicht, nicht nur in Ihre Verbindung mit Broch (Sie haben ihn nach seinem Werk und nach seiner Person, wie wir sie hier kannten, zu schliessen, ueberaus treffend charakterisiert) sondern, andeutungsweise auch in die bewegte Periode, die Sie durch (und Broch) erlebt haben.41

An dieser Stelle wird deutlich, dass sich Bezugnahmen im Netzwerk oftmals zu weiteren Spuren verzweigen, diese aber unter Umständen nur mehr unvollständig zu rekonstruieren sind. Im konkreten Fall liegt zwar der eindeutige Verweis auf eine wertende Aussage Fickers vor; mehr als das Indiz, dass Ficker in diesem Brief seinen Standpunkt zu Broch explizit dargelegt haben muss, lässt sich aus dem zweiten Brief allerdings nicht ableiten. Offensichtlich ist hingegen der Umstand, dass Cassirer die „Hinweise“ Fickers rezipiert hat und diese dann als kulturwissenschaftliches Destillat in ihre Arbeit mit eingeflossen sind. Nach gegenwärtiger Quellenlage lässt sich verbürgt ein einziger [!] Satz aus Fickers Antwortbrief vom Dezember 1953 feststellen, den Cassirer 1960 in einem Aufsatz zu den frühen Arbeiten Brochs in einer Fußnote zitiert. Sie schreibt im Wortlaut: „Herr v. Ficker wrote me in a letter dated 10 December 1953: ‚Die Freimütigkeit mit der ich mich gleich zu Beginn für Karl Kraus einsetzte, hat für manche Wiener Intellektuellen-Kreise etwas Anziehendes gehabt, so auch für Broch.‘“42 Mit dem Verweis auf Karl Kraus ist eine weitere Brücke zu einem anderen wichtigen Akteur im kulturellen Feld geschlagen: Wie Cassirer auch in ihren Ausführungen anmerkt, war Ficker davon ausgegangen, dass sein eigenes Engagement, das er für den Wiener Satiriker seit Beginn seiner publizistischen Tätigkeit an den Tag gelegt hatte, Broch dazu bewogen hatte, sich mit dem Brenner-Herausgeber in Verbindung zu setzen. Hinzu kam die positive Rezeption von Kraus’ Agitation im Brenner43 (die bis zur Imitation der Kraus’schen satirischpolemischen Zeitkritik durch Ficker reichte), die ebenfalls zur Mitarbeit Brochs an der Innsbrucker Kunst- und Kulturzeitschrift beitrug.

Die Literat*innen (Julius Kiener und Paula Schlier)

Parallel zur Wissenschaft exponierte sich mit den Literat*innen nach 1945 eine weitere Gruppe Intellektueller in ihrem Bemühen, im Umfeld des Brenner die kulturelle Etablierung Brochs zu forcieren. Während Ernst Schönwiese und Friedrich Torberg sich in ihren Tätigkeiten in der Hauptsache auf Wien konzentrierten, machte sich im Tiroler Kulturraum vor allem der Schriftsteller und Publizist Julius Kiener in der Verbreitung von Brochs Namen und Werk verdient; auch Kiener referiert im Gesamtbriefwechsel direkt auf Hermann Broch. Kiener war von 1953 bis 1972 Herausgeber von Seefeld-Tirol, einem Fremdenverkehrsblatt, das im Kern auf Public Relations angelegt war. Es wollte einerseits den Gästen im aufstrebenden Tourismusort Seefeld niveauvolle Unterhaltung bieten, andererseits sollte es dem Ort zu mehr Bekanntheit verhelfen. Das Ziel bestand letztlich darin, beim bildungsaffinen (und ebenso zahlungskräftigen) Publikum insbesondere auch durch die Integration von Texten bedeutsamer Schriftsteller*innen positiven Eindruck zu hinterlassen. Aufgrund dieses Ansatzes blieb nicht aus, dass Broch, der (mit sporadischen Unterbrechungen) von September 1935 bis Februar 1937 seinen Aufenthalt in Mösern, einem Nachbarort von Seefeld genommen hatte,44 für die Seefelder Zeitung von besonderer Relevanz war. Ludwig von Ficker spielte für Kiener als „Entdecker“ Brochs eine wesentliche Rolle, weshalb er beschloss, einen Beitrag Fickers in die Zeitung zu integrieren. Kiener nahm deshalb am 29. September 1959 mit Ficker Kontakt auf: „Meine Frau sagte, mir, daß Sie Hermann Broch gekannt haben. Einige Worte aus einer Begegnung gerade von Ihnen, lieber Herr Professor, würde die immer zahlreicher werdende Brochgemeinde sehr erfreuen und ich hätte für die Seefelder-Zeitung einen besonders wertvollen Beitrag.“45

Mit dem Verweis auf Ellen Kiener, die aus Dänemark stammende Frau Kieners, die die Zusammenarbeit zwischen ihrem Mann und Ludwig von Ficker in die Wege leitete, wird einmal mehr evident, dass auch Persönlichkeiten außerhalb des engeren Brenner-Umfelds zu einem impulsgebenden Faktor werden konnten, die die Broch-Rezeption vorantrieben. Zu bemerken ist dabei, dass es zwischen Ellen Kiener und Ficker keine unmittelbare Korrespondenz gab. Beide verband aber das in realiter existierende Kultur-Netzwerk, das sukzessive in Seefeld entstanden war und an dem namhafte Persönlichkeiten des Tiroler Kulturlebens partizipierten.46 Ficker antwortete Kiener eine Woche später und machte Kiener das Angebot, „das Material an Handschriftlichem von Hermann Broch […], das sich unter meinen Papieren nachträglich noch vorfand […], in meinem neuen Zufluchtsraum (Mühlau, Richardsweg 1, Parterre, neben, „Badhaus“) zu gefälliger Einblicknahme für Sie bereit und verwahrt“47 zu halten. Die Korrespondenz ist in den Folgebriefen von Glückwünschen zur Verleihung des Sonderpreises des Großen Österreichischen Staatspreises bestimmt, die Rede fällt nur noch ein Mal auf die Seefelder Zeitung. Ende Jännner 1960 erinnerte Ficker Kiener auf humorige Weise daran, dass er nicht auf seine „Broch-Reliquien“,48 d.h. die Briefe Brochs, die sich zu diesem Zeitpunkt in seiner Verwahrung befunden haben mussten, vergessen möge.

Im Zusammenhang mit einer weiteren Autorin und ihrem literarischen Werk findet sich die erste unmittelbare Erwähnung des Personennamens „Broch“ im Gesamtbriefwechsel nach 1945. In einem Brief an die aus Ingolstadt stammende Autorin Paula Schlier vom November 1946 referierte Ficker auf einen Textentwurf Schliers, die die Exposition eines Romans zur Begutachtung an Ficker übergeben hatte. Der Text kam in dieser Form nie zur Veröffentlichung, Teile davon flossen aber in die 1949 bei Herder erschienene Legende zur Apokalypse49 (eine Art Bibelexegese in Romanform) ein. Ficker ließ im Zuge seiner Kritik eine beiläufige, aber dennoch aufschlussreiche Bemerkung zu Broch fallen:

 

[Das Fragment] wird sich über das Niveau eines Hirngespinsts mit poetischen Durchblicken nicht sonderlich erheben, obwohl ihm ein Experiment zugrundeliegt, das – wie in der Geistesluft dieser Zeit liegend – schon anderweitig, wenn auch mit anderen, zum Teil monströsen Mitteln versucht wurde. Wie das aussieht, wenn man dabei von intuitiv zerebralen Erwägungen ausgeht, die leichter theoretisch zu unterbauen als einleuchtend zu gestalten sind, das magst Du aus einigen, James Joyce betreffenden Stellen des beiliegenden „Silberboots“ ersehen, das Hermann Broch gewidmet ist (einem Menschen übrigens, von dem ich überzeugt bin, daß er die Bedeutung Deiner Brenner-Beiträge sofort intuitiv erfassen wird, und den ich auch persönlich gut kenne und schätze).50

In dieser Aussage lässt sich eine der im Briefwechsel sehr seltenen, direkten Stellungnahmen Fickers zum Autor Hermann Broch ablesen. Relevant erscheint neben der Tatsache, dass sie von Ficker selbst stammt, und dem Verweis auf Joyce insbesondere die Wendung des „intuitive[n] Erfassen[s]“ von Schliers Brenner- Beiträgen, das Ficker an dieser Stelle Broch (in sehr hypothetischer Konstruktion) zuschreibt. Damit rückt er Broch in denselben Interpretationsrahmen, in den er schon Trakl (und später sogar Ludwig Wittgenstein oder Else Lasker-Schüler) verortet hat. Wie die Charakteristik dieses „Erfassens“ beschaffen ist, liest sich entsprechend in den folgenden Ausführungen:

Denn die wahre Konzentrationskraft Deines Sehertums im Medium der Dichtkunst erreichst Du dort, wo der aufgeschlossene Horizont des inspirierten Worts ihr jene überraschende Tragweite verleiht, vor der die meisten heute noch am liebsten die Augen schließen möchten, weil die Welt darin und was ihr An- und Aussehen im Bild der Schöpfung bestimmt einem Aspekt der Wahrheit konfrontiert ist, dessen Unbegrenztheit heute noch die wenigsten vertragen.51

Der christlich-mystizistische Impetus, den Ficker in diese Worte legt, wenn er vom „Sehertum“ spricht, ist evident. Aufgrund dessen kann angenommen werden, dass es sich weniger um eine Aussage handelt, bei der es darum bestellt war, die tatsächliche Haltung Brochs explizieren zu wollen. Vielmehr erscheint es als eine subjektive Projektion in Form eines Selbstoffenbarung. Ob Broch mit einer solchen Zuschreibung (von der er mit Sicherheit keine Kenntnis haben konnte) einverstanden gewesen wäre, sei dahingestellt. Was allerdings außer Zweifel steht, ist die Tatsache, dass Ficker hier eine positive Werthaltung gegenüber Broch bewies; die persönliche Ebene blieb von der divergenten Kunstauffassung unberührt. Weil die Korrespondenz mit Schlier aufgrund des persönlichen Naheverhältnisses, das die Autorin mit dem Brenner-Herausgeber verband, um einiges offener gestaltet ist als mit anderen Korrespondenzpartner*innen, kann davon ausgegangen werden, dass es sich hierbei um ein ehrliches Urteil handelte.