Hermann Broch und Der Brenner

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Anmerkungen

1 Rolf Hellmut Foerster: Europa. Geschichte einer politischen Idee. München 1967; Heinz Gollwitzer: Europabild und Europagedanke. Beiträge zur deutschen Geistesgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts. München 21964.

2 Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 2000.

3 Paul Michael Lützeler: Die Schriftsteller und Europa. Von der Romantik bis zur Gegenwart. München 1992; Ders.: Europäische Identität und Multikultur. Tübingen 1997; Ders.: Kontinentalisierung. Das Europa der Schriftsteller. Bielefeld 2007. Abschnitte über die im Eingangsteil dieses Aufsatzes genannten Beiträger zum Europa-Diskurs finden sich in diesen drei Büchern des Verfassers und werden hier nicht eigens bibliografisch nachgewiesen.

4 Paul Michael Lützeler: Die Schriftsteller und das europäische Projekt. In: Merkur 65.1 (2011), 19–29.

5 L. Lampert: Nietzsche’s Teaching. An Interpretation of ‘Thus Spoke Zarathustra’. New Haven, CT 1986; W. Wiley Richards: The Bible and Christian Traditions: Keys to Understanding the Allegorical Subplot of Nietzsche’s Zarathustra. New York, NY 1991.

6 Andreas Urs Sommer: Friedrich Nietzsches ‚Der Antichrist‘. Ein philosophisch-historischer Kommentar. Basel 2000; J[örg] Salaquarda: „Dionysos gegen den Gekreuzigten. Nietzsches Verständnis des Apostel Paulus“. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte XXVI (1974), 97–124; Ursula Homann: Nietzsche und das Christentum, http://ursulahomann.de/NietzscheUndDasChristentum.

7 Areopagrede des Paulus (Apostelgeschichte 17, 16–34). Vgl. Udo Schnelle: Paulus. Leben und Denken. Berlin 2003.

8 Nietzsches titelloses Jugendgedicht Dem unbekannte Gotte.

9 Es handelt sich um ein Leitmotiv, das in Brochs Schlafwandler-Trilogie zuvor bereits mehrfach zitiert worden ist (KW 1, 585, 586, 590). Vgl. Apostelgeschichte 16,28 im Neuen Testament.

10 Paul Michael Lützeler: Hermann Brochs Kulturkritik: Nietzsche als Anstoß. In: Friedrich Nietzsche und die Literatur der Klassischen Moderne, hg. v. Thorsten Valk, Berlin und New York 2009, 183–197.

11 Hermann Broch: Der Tod des Vergil. Zitiert wird nach Band 4 der von Paul Michael Lützeler edierten Kommentierten Werkausgabe mit der Abkürzung (KW 4) und folgender Seitenangabe. Auch die übrigen Arbeiten Brochs werden nach der Kommentierten Werkausgabe zitiert, die zwischen 1974 und 1981 im Suhrkamp Verlag in Frankfurt am Main erschien.

12 Vgl. die Essayfolge mit diesem Titel im dritten Band von Brochs Romantrilogie Die Schlafwandler (KW 1).

13 Hermann Broch: Erwägungen zum Problem des Kulturtodes (1936). In: KW 10/1, 59–66.

14 Kurt Latte: Römische Religionsgeschichte. München 1960; Joachim Molthagen: Der römische Staat und die Christen im zweiten und dritten Jahrhundert. Göttingen 21975. Werner Dahlheim zeigt, wie die Erklärung des Augustus zum im Römischen Reich verehrten Gott der Christianisierung Vorschub leistete. Zum einen habe man (im Gegensatz zu der Vielfalt der Götter in den verschiedenen Teilen des Imperiums) diesen einen Gott überall anerkannt, zum zweiten handelte es sich hier um einen Menschen als Gott wie es sich bei Jesus um Gott als Mensch handelte. Vgl. Werner Dahlheim: Augustus, Aufrührer, Herrscher, Heiland. Eine Biographie. München 2010.

15 Theodor Haecker: Vergil. Vater des Abendlandes. Leipzig 1931.

16 Stefan Freund: Vergil im frühen Christentum. Paderborn 2003.

17 Eduard Norden: Die Geburt des Kindes. Geschichte einer religiösen Idee. Leipzig und Berlin 1924; Hildebrecht Hommel: Vergils ‚messianisches‘ Gedicht. In: Theologia Viatorum 2 (1950), 182–212; Rainer Riesner: Es begab sich aber zu der Zeit… In: Roms erster Kaiser Augustus, ZEIT-Geschichte 2 (2014), 76–77. Vgl. auch: Materialien zu Hermann Broch ‚Der Tod des Vergil‘, hg. v. Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main 1976.

18 Eckard Lefèvre: Catulls Parzenlied und Vergils vierte Ekloge. In: Philologus 144 (2000), 63–80.

19 Edgar Morin: Europa denken. Frankfurt am Main und New York 1988.

20 M. M. Bakhtin: The Dialogic Imagination. Austin 1981.

21 Rémi Brague: Europa. Eine exzentrische Identität. Frankfurt am Main und New York 1993.

22 Paul Petit: Pax Romana. London 1976.

23 Hannah Arendt nimmt an, dass Roms politische Vereinnahmung des Raums zwischen den Völkern „die Welt qua Welt überhaupt erst geschaffen“ habe. Vgl. Dies.: Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlass, hg. v. Ursula Ludz. München 2010, 121.

24 Werner Dahlheim: Die Welt zur Zeit Jesu. München 2013; Jean Seznec: The Survival of the Pagan Gods: The Mythological Tradition and Its Place in Renaissance Humanism and Art. Princeton 1981.

25 Paul Michael Lützeler: Migration und Exil in Geschichte, Mythos und Literatur. In: Handbuch der deutschsprachigen Exilliteratur. Von Heinrich Heine bis Herta Müller, hg. v. Bettina Bannasch und Gerhild Rochus, Berlin und Boston 2013, 3–26. Vgl. ferner Hermann J. Weigand: Broch’s ‘Death of Vergil’: Program Notes. In: PMLA 62.2 (1947), 525–554.

26 Giorgio Agamben: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge. Frankfurt am Main 2003. Zu den politischen Aspekten von Brochs Vergil-Roman und seinen Überschneidungen mit Brochs Massenwahntheorie vgl. Patrick Eiden-Offe: Das Reich der Demokratie. Hermann Brochs ‚Der Tod des Vergil‘. München 2011. Das Buch ist eine umfassende Auseinandersetzung mit dem Gespräch zwischen Augustus und Vergil.

27 Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur und Gegenkultur. Frankfurt am Main 1987.

28 Jürgen Heizmann: Antike und Moderne in Hermann Brochs ‚Tod des Vergil‘. Über Dichtung und Wissenschaft, Utopie und Ideologie. Tübingen 1997. Vgl. ferner: Teivas Oksala: Hermann Brochs ‚Der Tod des Vergil‘ im Verhältnis zum historischen Vergilbild. In: Weder–noch. Tangenten zu den finnisch-österreichischen Kulturbeziehungen, hg. v. Georg Gimpl. Helsinki 1986, 465–478. Vgl. zudem: Walter Hinderer: Die Personen in ‚Der Tod des Vergil‘. In: Materialien zu Hermann Broch ‚Der Tod des Vergil‘ (Anm. 17), 280–294.

29 Vgl. die ähnlich lautenden Formulierungen in Brochs letztem Aufsatz Hugo von Hofmannsthals Prosaschriften. In: KW 9/1, 286, 296, 315.

30 Vgl. dazu den grundsätzlichen Aufsatz von Günter Blamberger: Figuring Death, Figuring Creativity: On the Power of Aesthetic Ideas. In: Morphomata Lectures Cologne 5, München 2013, der zwar nicht auf Brochs Thesen eingeht, aber zu vergleichbaren Schlüssen gelangt.

31 Jattie Enklaar: ‚Der Tod des Vergil‘ – Ein Gedicht über den Tod? In: Hermann Broch, 1886–1986, hg. v. Jattie Enklaar und Jen Aler. Amsterdam 1987, 63–89.

32 Katharina Ratschko: Kunst als Sinnsuche und Sinnbildung. Thomas Manns ‚Joseph und seine Brüder‘ und Hermann Brochs ‚Der Tod des Vergil‘ vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung um die Moderne seit der Frühromantik. Hamburg 2010.

33 Kathleen L. Komar: The Death of Virgil: Broch’s Reading of Vergil’s ‘Aeneid’. In: Comparative Literature Studies 21.3 (1984), 255–269.

34 Frode Helmich Pedersen: ‚Und wie du mich hassest!‘. Das Gespräch zwischen Vergil und Augustus in Hermann Brochs Roman ‚Der Tod des Vergil‘ im Lichte des platonischen Dialogs. In: Text & Kontext 28.2 (2006), 35–55.

35 Tod und Unsterblichkeit. Texte aus Philosophie, Theologie und Dichtung vom Mittelalter bis zur Gegenwart, 3 Bände, hg. v. Annemarie und Erich Ruprecht. Stuttgart 1992/93.

 

36 Gisela Roethke: Zur Symbolik in Hermann Brochs Werken. Platons Höhlengleichnis als Subtext. Tübingen 1992.

37 Alexander Kleinlogl: Götterblut und Unsterblichkeit. Homerische Sprachreflexion und die Probleme epischer Forschungsparadigmata. In: Poetica 13.3-4 (1981), 252–279.

38 Thierry Hentsch: Truth or Death. The Quest for Immortality in the Western Narrative Tradition. Vancouver 2004.

39 Jens Halfwassen: Plotin und der Neuplatonismus. München 2004.

40 Anja Grabowski-Hotaminidis: Zur Bedeutung mystischer Denktraditionen im Werk von Hermann Broch. Tübingen 1995. Vgl. auch die Auslassungen über die Mystik im Tod des Vergil bei Maurice Blanchot: Der Tod des Vergil: Die Suche nach der Einheit. In: Ders.: Der Gesang der Sirenen. Essays zur modernen Literatur. München 1962, 160–172.

41 Vgl. Hermann Broch: Das Teesdorfer Tagebuch für Ea von Allesch, hg. v. Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main 1995.

42 In einem Brief an Rudolf Hartung vom 17.4.1972 schreibt Gershom Scholem über eine Begegnung mit Broch im Jahr 1949: „Mit Broch bin ich […] in New York einmal lange zusammengewesen, bei und auf Vermittlung von Kurt Goldstein (mit dem ich sehr befreundet war). Er (Broch) hatte mein Buch über Jüd. Mystik, das damals nur englisch vorlag, gelesen und war sehr davon aufgeregt. Er war ein eindrucksvoller Mann, und gewiß für mich, der damals nur den Tod des Vergil gelesen hatte.“ Vgl. Gershom Scholem: Briefe III 1971–1982, hg. v. Itta Shedletzky. München 1994, 21 und 22. Gemeint ist Scholems Buch Major Trends in Jewish Mysticism, das 1941 in New York erschienen war.

43 Udo Benzenhöfer: Paracelsus. Reinbek bei Hamburg 2003.

44 Jonathan Bennett: A Study of Spinoza’s Ethics. Indianapolis 1984.

45 Klaus Amann und Helmut Grote: Die Wiener Bibliothek Hermann Brochs. Kommentiertes Verzeichnis des rekonstruierten Bestandes. Wien und Köln 1990.

46 Till Kinzel: Jüdischer Platonismus, Unsterblichkeit und Moderne. Variationen über Moses Mendelssohn und Leo Strauss. In: Text und Kritik 5 (2011), 180–193.

47 Shmuel Feiner: Moses Mendelssohn. Ein jüdischer Denker in der Zeit der Aufklärung. Göttingen 2009.

48 Ulrich Dierse: Et ergo in Utopia. Tod und Unsterblichkeit in glücklichen Gefilden. In: Aufklärung als praktische Philosophie, hg. v. Frank Grunert und Friedrich Vollhardt. Tübingen 1998, 369–375.

49 Martin Papenheim: Dialektik der Unsterblichkeit im Frankreich des 18. Jahrhunderts. In: Lili 18 (1988), 29-43.

50 Werner Keller: Nachwort. In: Peter Meuer: Abschied und Übergang. Goethes Gedanken über Tod und Unsterblichkeit. München und Zürich 1993, 129–153.

51 Hartmut Steinecke: Broch und Goethe. In: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 102–103 (1998), 145–155.

52 Zur Beziehung von Hans Küngs „Welt-Ethos“ zu Brochs „Ethos der Welt“ vgl. Paul Michael Lützeler: Hermann Brochs Kosmpolitismus: Europa, Menschenrecht, Universität. Wiener Vorlesungen. Wien 2002.

Die Rezeption Hermann Brochs im Makrokontext des Gesamtbriefwechsels Ludwig von Fickers
von Markus Ender (Universität Innsbruck)
Vorbemerkung

Briefeditionen ist inhärent, dass sie aufgrund ihrer Sender-Empfänger-Spezifik autorenfokussiert sind. Dieses Prinzip hat für gedruckte Editionen ebenso Gültigkeit wie für digitale; letztere unterscheiden sich jedoch in einem wesentlichen Aspekt, der unter den Begriff „digitales Paradigma“1 subsumiert werden kann, von der „analogen“ Editorik. Das Paradigma umreißt im Kern das Prinzip, dass eine digital Edition bestimmte Merkmale und Funktionsprinzipien aufweist, die bedingen, „dass sie nicht ohne wesentliche Informations- und Funktionsverluste in eine typografische Form gebracht werden kann – und in diesem Sinne über die druckbare Edition hinausgeht.“2 Mit der Möglichkeit, jene Beschränkungen, die analoge Repräsentationen mit sich bringen, durch die Re-Medialisierung der Briefe in den digitalen Raum zu überwinden, wird Nutzer*innen ein Werkzeug an die Hand gegeben, Netzwerkmodelle in großen Textmengen zu erkennen und gewinnbringend einsetzen zu können. Der multidimensionale Zugang, den digitale Editionen auf den Forschungsgegenstand eröffnen, bietet breiten Raum für alternative Blickwinkel auf kulturelle Repräsentationen und lädt zu divergierenden Fragestellungen ein. Vor der Folie des digital aufbereiteten Makrokontexts des Gesamtbriefwechsels Ludwig von Fickers betrachtet, zeitigt die von 1913 bis 1938 reichende Korrespondenz Hermann Brochs mit Ludwig von Ficker, bei der aufgrund diverser Faktoren weder eine wechselseitige noch eine kontinuierliche Briefabfolge existiert, ungewöhnliche Ergebnisse.

Stellt sich die Frage nach den Verflechtungen zwischen Ficker als Herausgebersubjekt, seiner Zeitschrift Der Brenner und dem Autor Hermann Broch vor dem Hintergrund des Gesamtbriefwechsels, so liegt auf der Hand, dass vorderhand die unmittelbare Korrespondenz Brochs mit dem Brenner-Herausgeber Ludwig von Ficker in den Mittelpunkt der Betrachtungen von Interesse erscheint. Doch bereits der Terminus „Briefwechsel“ führt hier in die Irre, denn die Korrespondenzstücke Fickers an Broch müssen bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt sämtlich als verschollen gelten.3 Die erzwungene Exilsituation Brochs und die häufigen Ortswechsel, die damit einhergegangen waren, hatten zur Folge, dass nach mehr als sieben Jahrzehnten von einem definitiven Verlust der Briefe ausgegangen werden muss. Dieser Befund bleibt trotz voranschreitender Digitalisierungen und Erschließungsmaßnahmen in Archiven, die oftmals zu überraschenden Entdeckungen führen können, bis dato unverändert.4 Die Kommunikationsstruktur erscheint folglich nur monologisch, weshalb Zusammenhänge und Ableitungen größtenteils aus Drittbriefen und aus dem weiteren Umfeld des Briefwechsels erschlossen werden oder in letzter Konsequenz sogar spekulativ bleiben müssen. Als wenig zuträglicher Umstand kommt hinzu, dass der Briefbestand – verglichen mit anderen Korrespondenzen von Brenner-Mitarbeiter*innen, bei denen die im Archiv erhalten gebliebenen Korrespondenzstücke zum Teil in die Hunderte gehen – ausgesprochen schmal dimensioniert ist5 – insgesamt sind nur 18 Briefe und Karten von Broch an Ficker überliefert.

Die literarische Freundschaft zwischen Ludwig von Ficker und Hermann Broch ist bereits vor mehr als einem Jahrzehnt von Sigurd Paul Scheichl im Detail in einem Aufsatz aufgearbeitet worden.6 Auch den Einfluss, den Broch auf „den Kurs einer Zeitschrift, die im Jahr 1910 angetreten ist, auf das damals überall in Europa anzutreffende Unbehagen über die politische Stagnation neue Antworten zu geben“7, ausgeübt hat, hat Johann Holzner untersucht. Die Überlegungen, die Scheichl und Holzner anstellen, dienen als Impuls, weiterzudenken; durch eine Ausweitung der Untersuchung auf das gesamte Umfeld des Ficker-Broch-Briefwechsels können die Befunde ergänzt und neue Erkenntnisse generiert werden. Dieses Feld wird im vorliegenden Fall durch die Kommentierte Online-Edition des Gesamtbriefwechsels Ludwig von Fickers, die am Forschungsinstitut Brenner-Archiv seit 2012 im Zuge zweier FWF-Projekte entsteht,8 konstituiert. Die Briefe Hermann Brochs an Ludwig von Ficker können damit systematisch vor der Folie einer Korrespondenz, die über sechs Jahrzehnte andauert und tausende Briefe umfasst, kontextualisiert und inter-pretiert werden.

Für einen bestimmten Personenkreis im Gesamtbriefwechsel lässt sich durch eine Suche im Personenregister, deren Ergebnisse in ein diachrones Raster übertragen werden, feststellen, dass mit gleichbleibender Frequenz auf das Werk oder auf die Person selbst Bezug genommen wird. So erfolgen beispielsweise bis zu Fickers Tod kontinuierlich Referenzen auf Georg Trakl; die Häufigkeit der Erwähnungen liegt bei Trakl als einem der wichtigsten Autoren des Brenner freilich auf der Hand. Ähnliches lässt sich für Theodor Haecker konstatieren, der ab 1914 die Kierkegaard-Rezeption im Brenner anstieß,9 die dann nach dessen Ausscheiden aus der Autorenriege des Brenner ebenfalls über Dekaden regelmäßig perpetuiert wurde. In anderen Fällen sind demgegenüber deutliche Fluktuationen festzustellen, was die absolute Zahl an Erwähnungen im Briefwechsel betrifft. Ein repräsentatives Beispiel für eine solche temporäre Rezeption kann in der Person Ferdinand Ebners festgemacht werden; auf Ebner wurde im Briefwechsel in Abständen von jeweils etwa zehn Jahren mit großer Intensität verwiesen, die Referenzen verebbten jedoch schnell wieder.

Wird eine Registersuche im digitalen Gesamtbriefwechsel auf die Person Hermann Broch angewandt, fallen die Ergebnisse zunächst ausgesprochen ernüchternd aus: In absoluten Zahlen gemessen, finden sich im Falle Brochs nur sehr wenige direkte Bezüge. Diese konzentrieren sich zudem sämtlich auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg – eine Ausnahme stellen lediglich jene vier Briefe Carl Dallagos an Ludwig von Ficker dar, die zwischen 1913 und 1914 verfasst wurden. Eine rein quantitative Analyse liefert somit kaum ein aussagekräftiges Ergebnis, da im Gesamtbriefwechsel sehr spät und nur in seltenen Fällen von Broch die Rede ist. Es muss also darum bestellt sein, Zeiträume, Personen, Inhalte und Diskursformen auf qualitativer Ebene zu untersuchen und aus Kontexten, Gegen- und Drittbriefen sowie über bibliographische Verweise zu erschließen, auf welche Weise und mit welchem inhaltlichen Impetus die Person Brochs und sein Werk rezipiert wurden. Dabei ist zu konstatieren, dass in diachroner Perspektive eine Verschiebung von der Ablehnung, die Broch in der Auseinandersetzung mit Dallago in der Frage nach dem Verhältnis von Philistrosität und Künstlertum entgegenschlug,10 hin zu affirmativer Zustimmung stattfindet.

Die Herausgeber (Harald Binde und Ernst Schönwiese)

Im November 1959 wurde Harald Binde, der Herausgeber des Rhein-Verlags in Zürich, brieflich bei Ludwig von Ficker vorstellig und richtete eine auf Hermann Broch bezogene Bitte an den Brenner-Herausgeber. Als Ergänzung zu den seit Anfang der 1950er Jahre entstehenden Gesammelten Werken Brochs war seitens der Herausgeber ein Nachtragsband geplant, der, so Binde,

das Bild des Dichters Hermann Broch abrunden [soll]. Deshalb wenden wir uns an die Freunde Hermann Brochs mit der Bitte um Hilfe. Auf diese Weise haben wir zu unserer Freude sogar bisher ungedruckte Briefe und Erzählungen oder Essays zugesandt bekommen. Sollten Sie, sehr geehrter Herr Professor, in Ihrem Bekanntenkreis auch Persönlichkeiten wissen, die ebenfalls mit Hermann Broch in Verbindung standen und eventuell solche Dokumente besitzen könnten, wären wir Ihnen dankbar, wenn Sie von unserem Vorhaben erzählen oder uns einen Hinweis geben würden.11

 

Ficker kam diesem Wunsch bereitwillig nach (wie er es bei ähnlich gelagerten Anfragen um Kooperation bei Editionen zu tun pflegte).12 Im konkreten Fall der Broch-Gesamtausgabe geschah seine Mitwirkung allerdings nur in indirekter Weise. Da er seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges zunehmend unter Erschöpfungszuständen litt und aus diesem Grund keine größeren Anstrengungen mehr unternehmen wollte, beauftragte er seinen Adlatus und engen Vertrauten Ignaz Zangerle damit, einen Antwortbrief an Harald Binde zu verfassen. Zangerle sollte diesen darin wegen der Briefe und Karten um einen zeitlichen Aufschub zu bitten und ihn gleichzeitig direkt an den silberboot-Herausgeber Ernst Schönwiese verweisen, der mit der Arbeit am Nachtragsband betraut war. Der Grund für die Verzögerung liege laut Ficker darin, dass die fraglichen Briefe im Moment nur zu einem Teil auffindbar seien.13 Zangerle formulierte in seinem Drittbrief an Binde wie folgt:

Auf Ihren Brief hin hat er versucht, alles, was er von Hermann Broch in Briefen und Manuskripten gefunden hat, für Sie bereitzustellen. Zu seinem nicht geringen Ärger gelingt es ihm nicht, einige Briefe Brochs, an die er sich erinnern kann, zu finden. Er sucht Sie daher, Professor Schönwiese, den Herr v. Ficker außerordentlich schätzt, zu veranlassen, sich mit ihm wegen dieser Beiträge zum Nachtragsband unmittelbar in Verbindung zu setzen. Die Beiträge des Dichters in der Zeitschrift „Der Brenner“ können jederzeit in der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien nachgesehen werden.14

Diese Briefstelle vermag die Mehrdimensionalität des Netzwerks rund um die Person Ludwig von Fickers zu veranschaulichen, da die Kommunikation nach der Delegierung der operativen Agenden an Ignaz Zangerle nicht mehr über den Brenner-Herausgeber, sondern ausschließlich über Drittpersonen abgewickelt wurde. Die digitale Edition stellt angesichts der steigenden Komplexität solcher Kommunikationsprozesse ein hilfreiches Werkzeug dar, um disparate Quellen unterschiedlicher Provenienz synoptisch zusammenzuführen. Aus dem weiteren Verlauf des Briefwechsels sowie aus der Korrespondenz im Umfeld kann auf diese Weise rekonstruiert werden, dass Harald Binde verfahren war, wie Ignaz Zangerle im Auftrag Fickers vorgeschlagen hatte: Im April 1960 wandte sich Ernst Schönwiese persönlich in dieser Sache an Ficker.

Schönwiese, mit dem Broch „bis an sein Lebensende in freundschaftlicher Verbindung“15 blieb, muss in diesem Zusammenhang als wichtiger Akteur und Impulsgeber betrachtet werden. Er war schon im Vorfeld der Arbeiten an der Edition der Zürcher Broch-Gesamtausgabe von sich aus aktiv tätig geworden und ließ Ficker in derselben Weise öffentliche Anerkennung zuteilwerden, wie er auch die Person Hermann Broch wieder ins Bewusstsein des Brenner-Herausgebers rief. Bereits 1950 hatte Schönwiese in einer Würdigung zu Fickers 70. Geburtstag in den Salzburger Nachrichten diesen in Verbindung mit Hermann Broch gebracht, indem er darin den Hinweis lieferte, dass Broch seine frühesten Texte im Brenner veröffentlicht hatte.16 Ficker bedankte sich dafür17 und führte in seiner Antwort zwei bestimmte Aspekte an, die implizit Aufschluss über seine Eigenwahrnehmung geben und eine Interpretation einschließen, welche Position Broch zum Brenner bezogen hatte:

Ihre Aufmerksamkeit hat mich um so mehr erfreut, als sie gerade Gesichtspunkte zur Beurteilung meines abseitigen Wirkens hervorhob, an denen mir in der Tat seit jeher viel gelegen war und die von Geistern, die heute nach ihrem wahren Vaterland suchen – Sie nennen da mit Recht Broch und Werner Kraft –, immer feinfühlig verstanden und respektiert wurden.18

Schönwiese formulierte seinerseits die konkrete Bitte, ob eine Möglichkeit bestehe, Materialien zu Broch zur Verwertung in der Edition zu erhalten. Er unternahm diesen Vorstoß, indem er erneut eine explizit positive Wertung bezüglich der frühen Zusammenarbeit mit Broch in seine Ausführungen mit einbezog:

Die ältesten jener „Frühen Schriften“ sind ja in Ihrem „Brenner“ erschienen, wie es überhaupt Ihr Verdienst ist, als Erster Broch erkannt und ihm die Spalten Ihrer Zeitschrift geöffnet zu haben. Nun lässt mich der Rhein-Verlag wissen, dass Sie noch unveröffentlichte Manuskripte Brochs aus jenen Jahren besässen. Das wäre natürlich in jeder Hinsicht ein ganz grosser Glücksfall und Gewinn! Darf ich Sie fragen, ob Sie so freundlich sein wollten, mir diese Arbeiten zum Zweck der Einsicht- und Abschriftnahme für einige Zeit zu überlassen? Gerade alle Schriften, die vor der „Schlafwandler-“Trilogie liegen, scheinen mir für die Entwicklung und den Werdegang des Dichters von ganz besonderem Interesse.19

Ficker wird von Schönwiese als der „Entdecker“ Brochs apostrophiert; im selben Atemzug erfahren auch die frühen Arbeiten Brochs im Brenner eine indirekte Aufwertung. Dieser Umstand findet seine spiegelbildliche Entsprechung in der zuvor zitierten Antwort Fickers auf die Würdigung in den Salzburger Nachrichten, in der Ficker die Rolle des erstmalig auf Broch aufmerksam Gewordenen für sich selbst reklamiert hatte. Schönwiese hakte im Anschluss auch hinsichtlich der verfügbaren Korrespondenzstücke nach:

Von ebenso grosser Bedeutung hierfür wäre es aber auch, wenn man in den Briefwechsel zwischen Ihnen und Broch Einsicht nehmen könnte. Ich glaube, dass sich daraus sehr wertvolle Aufschlüsse gewinnen liessen! Darf ich meine Bitte auch auf diese Briefe ausdehnen? Verzeihen sie, verehrter Herr Professor, diese mehrfache Bemühung. Aber wer könnte meinen Wunsch besser verstehen, als gerade der Herausgeber des „Brenner“.20

In den Monaten zwischen der Anfrage Bindes im Herbst 1959 und jener Schönwieses im Frühjahr 1960 waren die zuvor vermissten Broch-Briefe durch die tätige Mithilfe von Ignaz Zangerle und Fickers Tochter Birgit von Schowingen wieder aufgefunden und in eine größere Ordnung eingegliedert worden. In einem Dankesbrief Schönwieses an Ficker vom 19. August 1960 findet sich abermals ein Schlüsselsatz: „Und Brochs Briefe aus den Jahren 1913/14 das ist wirklich ein einmaliger Schatz! Besonders der eine über Intuition, denkerische u. dichterische Erkenntnis (später, in der Reifezeit, trat er ganz und gar Ihrer Meinung bei!) ist auch biographisch ein unschätzbarer Fund.“21

Im April 1962 konnte Binde das bereits 1961 erschienene Buch schließlich an Ficker übersenden. Aus allen ihm zur Verfügung gestellten Briefen hatte Schönwiese lediglich vier ausgewählt, die er als relevant erachtete und die schließlich zum Abdruck kamen. Es handelte sich um die Korrespondenzen vom 22. Jänner 1913, 18. Mai 1913, 9. Februar 1914 sowie vom 11. April 1914.22 Bei der Rückgabe der Broch-Briefe kam es zu einer längeren Verzögerung; insgesamt vergingen sechs weitere Jahre, bis die Briefe wieder endgültig in den Besitz Ludwig von Fickers gelangten. Die Ursache dafür lag in einem banalen Versehen begründet. Die nicht erfolgte Rückgabe war von Schönwiese erst zu jenem Zeitpunkt bemerkt worden, als der Otto Müller-Verlag Einsicht in die Briefe nehmen wollte, die Ficker an Schönwiese gerichtet hatte. Bei der Suche nach seiner eigenen Korrespondenz mit Ficker fiel dem silberboot-Herausgeber die Korrespondenz Broch–Ficker in die Hände, die er im November 1966 retournierte und für die entstandenen Umstände formell um Entschuldigung bat.23