Czytaj książkę: «Handbuch Jüdische Studien»
UTB 8712
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Christina von Braun, Micha Brumlik (Hg.)
Handbuch Jüdische Studien
BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN · 2018
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Stiftung Irene Bollag-Herzheimer, Basel, sowie des Selma Stern Zentrums für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg (ZJS).
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind
im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.
Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de.
Umschlagmotiv: El Lissitzky, „Und dann kam das Feuer und verbrannte den Stock“,
entnommen aus: Jüdischer Kulturbund Kiew, 1919; Farblithographie auf Papier,
The Jewish Museum New York, USA. Foto John Parnell.
© 2018 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Wien Köln Weimar
Lindenstraße 14, D-50674 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig.
Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart
Lektorat: Adina Stern
Korrektorat: Ulrike Weingärtner, Gründau
Satz: büro mn, Bielefeld
EPUB-Erstellung: Lumina Datamatics, Griesheim
UTB-Band-Nr. 8712 | ISBN 978-3-8252-8712-2 | eISBN 978-3-8463-8712-2
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Grundsatzfragen
Die Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft
Christina von Braun
Gab es in der griechisch-römischen Epoche ein „Judentum“?
Daniel Boyarin
Die rabbinische Literatur
Elisa Klapheck
Diaspora
Liliana Ruth Feierstein
Sephardim und Aschkenasim
Sina Rauschenbach
Das Verhältnis der drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam, zueinander. Ein historisch systematischer Querschnitt
Joachim Valentin
2. Theologie
Oralität und Literalität. Mündliche Überlieferung und ihre Verschriftung
Stefan Schreiner
Ritual
Charlotte Elisheva Fonrobert
Jüdische Mystik
Karl E. Grözinger
Memorialkulturen („Gedächtnis und Erinnerung“)
Rainer Kampling
Das jüdische Recht
Walter Homolka
Ökonomie
Nathan Lee Kaplan
Männlichkeit, Weiblichkeit, Körperlichkeit und Sexualität im Judentum
Tamara Or
Religiöse Strömungen im Judentum
Michael A. Meyer
3. Kultur/Moderne
Aufklärung
Julius H. Schoeps
Die „Wissenschaft des Judentums“ (WdJ)
Norbert Waszek
Jüdische Philosophie
Christoph Schulte
Jüdisches Gesetz und Staatsbürgerrecht im Übergang zur Moderne
Werner Treß
Jüdische Bildung und Erziehung
Micha Brumlik
Antijudaismus/Antisemitismus
Stefanie Schüler-Springorum
Zionismus/Antizionismus/Postzionismus
Micha Brumlik
Literatur
Irmela von der Lühe
Die bildenden Künste
Inka Bertz
Film
Gertrud Koch
Jüdisches Leben im Film
Werner Schneider-Quindeau
Jüdische Musik
Jascha Nemtsov
Glossar
Abkürzungen
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Literaturverzeichnis
Studien-, Lehr- und Forschungsbereiche
Personenregister
Einleitung
Die „Jüdischen Studien“ – ein Begriff, der in Analogie zu den Jewish Studies des anglophonen Raums entstand – umfassen die Gesamtheit aller Lehrfächer und Forschungsprojekte, die für die Erforschung der jüdischen Geschichte, Philosophie und Religion von Bedeutung sind. Sie beinhalten mithin auch Fragen des Antijudaismus, der Nichtjuden betrifft, aber die jüdische Geschichte immer wieder und tiefgehend geprägt hat. Zu den Jüdischen Studien gehören auch Gebiete wie Memorialkultur, Recht, Ökonomie und Geschlechterrollen, die allesamt in den jüdischen Traditionen spezifische Ausprägungen erfuhren. Auch das Verhältnis von Schrift und Oralität ist Teil dieses Forschungsfelds. Die gesprochene und die geschriebene Sprache hatten einen prägenden Einfluss auf die Entwicklung der jüdischen Religion und Kultur. Weil zu den Jüdischen Studien auch viele „säkulare“ Gebiete gehören – wie etwa Philosophie und Literatur, Zionismus und Diaspora – haben sie sich neben der traditionellen Judaistik etabliert, die, wenn nicht ausschließlich, so doch weitgehend, von den Fragen der Religion bestimmt ist. Die Jüdischen Studien bilden gewissermaßen das Ende einer historischen Entwicklung, die mit der Haskala, der jüdischen Aufklärung, begann, sich über die – vor allem in Berlin und Breslau entwickelte – „Wissenschaft des Judentums“ fortsetzte, bevor der Nationalsozialismus dieser religiösen wie auch bekenntnisneutralen Tradition „des Jüdischen“ ein brutales Ende setzte. Die Flucht vieler deutscher intellektueller Jüdinnen und Juden in die USA, nach Palästina oder nach Lateinamerika führte in diesen Regionen zur Weiterentwicklung dieses Gedankenguts des deutschen Judentums und trug in einigen Ländern schließlich zur Entstehung der Jewish Studies bei. Die sich seit ca. 1980 allmählich auch im deutschsprachigen Raum etablierenden Jüdischen Studien stellen einen Re-Import dieses aus Deutschland und Europa vertriebenen Gedankenguts dar.
Allerdings lässt sich im Land der Täter das Wort „jüdisch“ kaum ohne den Begriff der „Shoah“ denken. Insofern eignet den Jüdischen Studien des deutschen Sprachraums eine Dimension, die auch die Reflexion über die nichtjüdische deutsche Geschichte voraussetzt – mit einem Rückblick nicht nur in die nationalsozialistische, sondern auch die davorliegende Vergangenheit. Die „Wissenschaft des Judentums“ etablierte sich in einem historischen Zeitalter, in dem an den deutschen Universitäten das Fach Geschichte seinen Einzug hielt – mit dem impliziten und oft auch expliziten „Auftrag“, ein Bewusstsein und die psychologische Basis für die „deutsche Nation“ zu schaffen. In Deutschland entwickelte sich der Nationalgedanke zunächst in akademischen Kreisen, bevor er auch bei anderen Bevölkerungsschichten Fuß fasste. Eines der Mittel, dem Nationalismus breite Zustimmung zu verschaffen, bestand darin, das „Jüdische“ zu einem Synonym für „undeutsch“ zu erklären. Gleichzeitig verlangte die Aufklärung nach Rationalität und nach neuen Kriterien der „Wissenschaftlichkeit“ in der akademischen Forschung und Lehre. Die Entstehung der „Wissenschaft des Judentums“ entsprach dem Versuch, sowohl dem Anspruch an Vernunft und Wissenschaftlichkeit gerecht zu werden als auch einen Rahmen zu entwickeln, der die Bewahrung jüdischer Traditionen innerhalb eines neuen antijüdischen Nationalismus zuließ. Die modernen Jüdischen Studien versuchen, an diese Tradition anzuschließen, doch angesichts des Zivilisationsbruchs durch die Shoah kann nur von einem Versuch die Rede sein. Vor allem aber werden sie – anders als ein Teil der Jewish Studies des anglophonen Raums – notwendigerweise immer die nichtjüdische Geschichte explizit oder implizit mitreflektieren.
Jüdische Studien gehören mittlerweile zum festen Bestandteil des akademischen Lebens an vielen deutschen, österreichischen und schweizerischen Universitäten. (Im Anhang haben wir die Studien-, Lehr- und Forschungsbereiche, im deutschsprachigen Raum aufgelistet. Die Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, S. 493.) 2012 wurde mit Unterstützung des Bundesforschungsministeriums sowie der beteiligten Universitäten das Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg (seit Oktober 2017 Selma Stern Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg) gegründet, das der Entwicklung der Jüdischen Studien im deutschsprachigen Raum Rechnung zu tragen versucht. Zu den Gründungsmitgliedern gehören die Humboldt-Universität zu Berlin, die Freie Universität, die Technische Universität, die Universität Potsdam, die Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar sowie das Abraham Geiger Kolleg und das Moses Mendelssohn Zentrum an. 2013 wurde die Viadrina (Universität Frankfurt/Oder) zu einem Mitglied des Verbundes (www.zentrum-juedische-studien.de). Während mit der an der Universität Potsdam angesiedelten School of Jewish Theology ein theologisch-religionswissenschaftlicher Zweig geschaffen wurde, orientiert sich der größere Teil des Zentrums an den bekenntnisneutralen akademischen Disziplinen, für die Stellen für Nachwuchswissenschaftler und -wissenschaftlerinnen geschaffen wurden. Einige dieser Stellen wurden inzwischen von den Universitäten verstetigt und werden für eine dauerhafte Verankerung der Thematik an den Berliner und Brandenburger Universitäten sorgen. In Heidelberg existiert schon seit 1979 die Jüdische Hochschule, an der ebenfalls „säkulare“ wie theologische Inhalte vermittelt werden. In Hamburg wurde 1966 das Institut für die Geschichte der deutschen Juden gegründet, in Leipzig entstand 1995 das Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur und in Graz das Centrum für Jüdische Studien. Diese Zentren sind nur einige der prominentesten Beispiele für das Interesse an Jüdischen Studien im deutschsprachigen Raum und deren Präsenz in akademischen Einrichtungen. Einige Universitäten – etwa die Universität Potsdam – haben auch Studiengänge für Jüdische Studien eingerichtet, die das Fach im BA und im MA anbieten.
Das Handbuch richtet sich an Studierende, für die die Jüdischen Studien oft Neuland darstellen. Es wird aber auch vielen Promovierenden, denen die inter- und transdisziplinäre Perspektive der Jüdischen Studien nicht notwendigerweise vertraut ist, ein Begleiter während des Promotionsstudiums sein. In übersichtlichen Aufsätzen, die nach den wichtigsten Stichworten geordnet sind, bietet das Handbuch eine erste Einführung und einen Überblick über die Gebiete, die sich in den Jüdischen Studien immer wieder als relevant erweisen. Für diese Beiträge konnten exzellente Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen verschiedener Universitäten und akademischer Einrichtungen gewonnen werden. Einer von ihnen, der evangelische Theologe und Filmexperte Werner Schneider-Quindeau, ist zu unserer großen Betroffenheit verstorben – nur kurz, nachdem er uns seinen Beitrag geschickt hatte. Unsere Zielgruppe sind sowohl die Studierenden in den rabbinischen und christlich-theologischen Curricula und Lehreinrichtungen, für die neben ihrer geistlichen auch eine allgemein akademische Ausbildung erforderlich ist, als auch Studierende, die den Themen der Jüdischen Studien in einem bekenntnisneutralen Fach wie etwa der Geschichte nachgehen. Darüber hinaus gibt es auch viele Studierende der Kulturwissenschaft, der Philosophie, der Kunstgeschichte oder der Literaturwissenschaften, die im Laufe ihres Studiums immer wieder auf Fragen der deutsch-jüdischen und europäisch-jüdischen Kultur und Geschichte stoßen. Und es gibt andere, die sich im Verlauf ihres Studiums der bedeutenden jüdischen Anteile an der deutschsprachigen Kultur bewusst werden und darüber Näheres zu erfahren suchen. In zahlreichen Fächern sind heute Texte und Fragestellungen aus dem Bereich der Jüdischen Studien zu einem Teil des Kanons geworden, ohne dass sich die Studierenden dieser Tatsache immer bewusst sind. Wir hoffen, dass dieser Band dazu beiträgt, den Blick für diese Einflüsse zu schärfen.
In einigen Disziplinen und Einrichtungen, in denen Jüdische Studien zum Lehrplan gehören, wie auch in der Öffentlichkeit ist in den letzten Jahren eine Verschiebung des Interesses spürbar geworden: Galt bis in die 1980er Jahre das Interesse vor allem dem Dialog zwischen Judentum und Christentum, so richtete es sich seit den 1990er Jahren auf das Verhältnis der drei monotheistischen Religionen und Kulturen zueinander – und dies auf theologischer wie auf säkularer Ebene. Deshalb wird im Handbuch auch diese interreligiöse/interkulturelle Perspektive einbezogen. Diese Interessenverschiebung hat viel mit aktuellen und weltweiten Entwicklungen zu tun, die Themen wie Diaspora, Migration oder transkulturelle Erfahrungen immer weiter in den Vordergrund treten ließen. In diesem Kontext kommt den Jüdischen Studien eine besondere Rolle zu.
Wie ist es möglich – so könnte man eine der Fragen formulieren, die sich an die jüdische Geschichte richten – wie ist es möglich, dass eine Kultur so lange und gegen so viele Widrigkeiten und Verfolgungen Bestand haben konnte – und dies auch noch in der Zerstreuung? Aus den Sichtweisen, die sich in den verschiedenen Beiträgen auftun, ergeben sich einige mögliche Antworten auf diese Frage. Sie verweisen einerseits auf die Beharrlichkeit eines religiös-kulturellen Konzepts, das schon im 6. Jahrhundert v. u. Z. mit dem Exil in Babylon begann, wo ein Gutteil der biblischen Texte wie auch die Lehren des Monotheismus ausformuliert wurden, und dann mit der Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahre 70 und dem Beginn der Diaspora von den Rabbinen entwickelt wurde. Sie offenbaren andererseits aber auch ein hohes Maß an Flexibilität, das es den jüdischen Traditionen und Lehren immer wieder erlaubte, sich den aktuellen historischen Gegebenheiten und kulturellen Kontexten anzupassen. Heute, wo sich weltweit 65 Millionen Menschen auf der Flucht oder in Migrationskontexten befinden, erweist sich diese Frage auch für andere Kulturen von hoher Relevanz. Die aktuellen Bevölkerungsbewegungen – sowohl bei denen, die zur Migration gezwungen sind, als auch bei denen, die Migranten aufnehmen – erzeugen kulturelle Begegnungen, die oft spannungsgeladen und konfliktreich sind, sich in vielen Fällen aber auch als bereichernd erweisen. So bietet die jüdische Erfahrung, die vieles von anderen Kulturen integriert, in diesen aber auch ihre Spuren hinterlassen hat, Erkenntnismöglichkeiten für eine Welt, in der sich keine Kultur mehr gegen die andere abzuschotten vermag. In den letzten 2000 Jahren haben jüdische Gemeinschaften vorgelebt, wie es gelingen kann, das Eigene zu bewahren, das Andere aber auch in die eigene Erfahrung zu integrieren. Auf diese Weise werden die Jüdischen Studien zum Vorbild für politische Handlungsweisen und universitäre Forschungen, die sich mit Migration, Stereotypenbildung, Minderheitenschutz und interkulturellen Verflechtungen beschäftigen. Diesen Modellcharakter haben sie auch für die neu entstehenden Islamzentren, die u. a. klären müssen, wie eine europäische Kultur, die in der Nachfolge der Aufklärung steht, einer Kultur begegnet, für die die Aufklärung heute – wenn auch nicht früher – in erster Linie eine „westliche“ oder „christliche“ Erfindung ist. Die christliche Gesellschaft hatte viele der großen wissenschaftlichen wie philosophischen Innovationen der Renaissance den Importen aus dem islamischen Raum zu verdanken. Doch heute scheinen – aus Gründen, die modernen politischen Einflüssen zu verdanken sind – Begriffe wie „Emanzipation“‚ „Selbstbestimmung“ oder „Aufklärung“ vielmehr Konfliktpotential zu bergen.
Das Handbuch teilt sich in zwei große Gebiete: Im ersten wird ein historischer Überblick über die Geschichte und Grundlagentexte des Judentums gegeben. Welche Rolle haben Tora und Talmud? Wie entwickelte sich das Judentum, als es unter den Bedingungen der Diaspora zu leben begann? Was waren die Bedingungen für eine Existenz, die von der Begegnung mit anderen Religionen, Kulturen und Traditionen bestimmt war? Und näher an unserer Zeit: Welche Verschiebungen fanden statt, als – unter den Bedingungen der Haskala – aus dem religiösen Begriff „jüdisch“ ein kultureller wurde? Wie definierten Jüdinnen und Juden, die nicht mehr die Synagoge besuchten und sich dennoch als jüdisch verstanden, ihre Zugehörigkeit? Manchmal ist der Übergang von der einen zur anderen Definition fließend. In anderen Fällen – beim Begriff „Ritual“ z. B. – war die Grenzziehung zwischen der religiösen und der kulturellen Selbstdefinition so groß, dass wir dem Begriff zwei getrennte Beiträge gewidmet haben: Im ersten wird das Ritual unter den religiösen Bedingungen beschrieben, im zweiten lässt sich nachverfolgen, wie religiöse Gewohnheiten eine neue, „aufgeklärte“ Begründung erfuhren.
Solche kulturellen Verlagerungen vollzogen sich innerhalb jüdischer Denktraditionen schon lange vor dem Beginn der Aufklärung. Sie waren auch der Diaspora inhärent und wurden von den Rabbinen zunächst in mündlicher Exegese entwickelt, dann im Talmud verschriftet, bevor die Flexibilität der Auslegung zu einem integralen Bestandteil jüdischen Denkens wurde. Man könnte sogar behaupten, dass die Selbstreflexion einen festen Bestandteil der jüdischen Religion ausmacht und dass eben dieser Wesenszug auch den Schock der Aufklärung, die mit der Religion aufzuräumen versuchte, zu überstehen vermochte. Auf der einen Seite entstand in Reaktion auf die Aufklärung die jüdische Orthodoxie, die sich einer weiteren Flexibilität der Auslegung verweigerte – übrigens ein Prozess, der auch in der christlichen Gesellschaft sein Pendant fand: Der Begriff „Fundamentalismus“, das sollte man nicht vergessen, taucht zunächst in der christlichen Gesellschaft (um etwa 1900) auf und stellte die Selbstbezeichnung einer evangelikalen Bewegung innerhalb des amerikanischen Christentums dar. Auf der anderen Seite wurde die Selbstreflexion aber auch zu einem Teil der modernen jüdischen Selbstdefinition und fand in zahlreichen nichtreligiösen Zusammenhängen, die von der Literatur, über die Kunst bis zur Psychoanalyse reichen, ihren Ausdruck. Viele der Texte der jüdischen Aufklärung entstanden im deutschsprachigen Raum und sind auf Deutsch geschrieben. Um diese Texte im Original lesen zu können, haben eine Reihe von ausländischen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen der Jewish Studies Deutsch gelernt. Dieses Interesse für die deutsche Sprache und Kultur kam dem Austausch mit der Forschung im Ausland und dem Aufbau der Jüdischen Studien in Deutschland zugute.
Die Selbstreflexion ist heute auch zu einem integralen Bestandteil der Jüdischen Studien geworden – und in Deutschland verbindet sie sich oft mit der Reflexion, die der Beschäftigung mit der deutsch-jüdischen Geschichte inhärent ist. Das dürfte das Spezifische der Jüdischen Studien in Deutschland sein: dass die Selbstzweifel, die sich mit der Erbschaft des Nationalsozialismus verbinden, in der Selbstreflexion der Erben jüdischer Traditionen einen Widerpart findet. Daraus ergeben sich völlig andere Perspektiven und Forschungsfelder als in den Jewish Studies. Hinzu kommt, dass in den USA überwiegend Forscher und Forscherinnen auf dem Gebiet aktiv sind, die sich selbst dem (religiösen oder kulturellen) Judentum zurechnen. In Deutschland dagegen kommen viele Forscher und Forscherinnen nicht aus einem jüdischen Elternhaus. Das ist in erster Linie die Folge der Vertreibung und Vernichtung jüdischen Lebens in Deutschland. Es hat in zweiter Linie aber auch Folgen für die Fächergruppe selbst wie auch für jene, die sich auf die Jüdischen Studien einlassen.
Bei den nichtjüdischen Forschern der Jüdischen Studien in Deutschland tun sich einige Unterschiede auf. Manche von ihnen entscheiden sich zur Konversion (womit sie sich aus ihrem bisherigen Kontext herauslösen und zum religiösen Judentum hinwenden). Andere gehen diesen Schritt nicht und suchen eher nach den Möglichkeiten eines Zusammenwirkens von jüdischer Selbstreflexion mit einer Reflexion über die nichtjüdische Erbschaft. Beide Herangehensweisen sind in Deutschland deutlich ausgeprägt. Zwar gibt es auch in den USA eine hohe Anzahl von Konvertiten – jeder sechste Bürger, der sich zum Judentum bekennt, ist Konvertit.1 Aber diese Konversion hat zumeist einen ganz anderen Hintergrund. Oft hängt sie mit der Tatsache zusammen, dass der Ehepartner oder aber der Vater und nicht die Mutter jüdisch sind. Insgesamt sind die Jewish Studies in den USA weitgehend eine „jüdische Angelegenheit“, was manchmal sogar zum Vorwurf (aus den eigenen Reihen) führt, dass es sich um ein „selbstaffirmatives“ Studium einer „ethnischen“ Gruppe handle, vergleichbar den Afro-American Studies.2 Solche Debatten gibt es in den deutschen Jüdischen Studien höchstens in Andeutungen.
Generell stellt sich die Frage, ob ein Fach, das eine bestimmte Bevölkerungsgruppe mehr betrifft als andere, nur von Mitgliedern dieser Gruppe erforscht und gelehrt werden kann. Das entspricht etwa der Frage: Können katholische und protestantische Theologie nur von Gläubigen dieser Kirchen unterrichtet werden? In den meisten Fällen würde das wohl bejaht werden, weil es bei der Theologie auch um Glaubensinhalte geht. Ganz anders sieht es aber bei der Religionswissenschaft aus, die keineswegs erfordert, Mitglied der erforschten Glaubensgemeinschaft zu sein. Die deutsche und europäische Wissenschaft des 19. Jahrhunderts hat sich keineswegs schwer getan, den Islam oder den Buddhismus zu erforschen und Urteile über das Judentum zu fällen, ohne den Standpunkt dieser Religionen einzunehmen. Inzwischen hat die Religionswissenschaft einiges dazu gelernt – vor allem hat sie begonnen, die eigene Perspektive (und Voreingenommenheit) in die Forschung einzubeziehen und zu reflektieren. Diese Verschiebung der Sichtweise hat auch einen Teil der Theologie erfasst. An vielen (wenn auch keineswegs allen) theologischen Fakultäten des deutschen Sprachraums gibt es inzwischen auch religionswissenschaftliche Lehrstühle. Einige von ihnen sind weiterhin missionarisch ausgerichtet, andere richten aber auch einen (vorsichtigen) Blick zurück auf den eigenen Glauben. Diese Entwicklung ist einerseits die Folge des Säkularisierungsprozesses, der die Kirchen zwang, den eigenen Glauben historisch-kritisch zu lesen. Es hat andererseits aber auch zur Folge gehabt, dass nichtchristliche, also etwa jüdische Forscher begannen, das Christentum unter die Lupe zu nehmen. Wäre heute ein Handbuch Christliche Studien denkbar? Das ist anzunehmen: etwa in Israel oder auch in einigen islamischen Ländern, soweit diese religionswissenschaftliche Forschung (aus der auch immer Reflexion über die eigenen religiösen Traditionen resultiert) zulassen. Die Tatsache, dass ein Handbuch Christliche Studien nur in Gesellschaften denkbar ist, wo das Christentum zur Minderheit gehört, indiziert schon die spezifische Situation eines solchen Handbuchs: Es beschäftigt sich mit einer Minorität. Im deutschen Fall kommen jedoch zwei weitere Faktoren hinzu: Erstens die Selbstreflexion über die christliche Erbschaft, die das Wort „jüdisch“ nach der Shoah auslöst, und zweitens die Anerkennung, dass jüdische Denktraditionen (religiöser wie kultureller Art) eine eminent wichtige Rolle für die Geschichte Europas und Deutschlands gespielt haben. Das Handbuch, dessen Beiträge von Juden und Nichtjuden verfasst wurden, spiegelt diesen Sachverhalt wider.
Für die Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften bieten die Jüdischen Studien viele Anregungen. Da es kaum ein Feld gibt, das von der Frage „Was ist jüdisch?“ unberührt bleibt, eröffnen die Jüdischen Studien wie nur wenige andere Gebiete, die Möglichkeit, transdisziplinär zu denken und zu forschen. In dieser Hinsicht ähneln sie den Gender Studies, die sich als eine ähnlich breit gefächerte Querschnittswissenschaft verstehen, und sie haben auch viel gemein mit der Wissenschaftsgeschichte selbst, die auf einen „Blick von außen“ angewiesen ist, um wissenschaftliche Paradigmen zu analysieren und Strukturen erkennbar zu machen. In der wissenschaftskritischen Perspektive liegt generell das wichtigste Potential der Human- und Geisteswissenschaften. Sie können zwar nicht mehr den Anspruch erheben, eine „Leitwissenschaft“ zu sein, wie dies für die Fächer Geschichte und Philosophie im 19. Jahrhundert der Fall war. Eben deshalb sind sie aber auch zu einem wichtigen Faktor der checks and balances in der Wissenschaft geworden. Oft bleibt es den Sozial- und Geisteswissenschaften überlassen, die politische und gesellschaftliche Relevanz allgemeiner Forschungsfortschritte zu benennen und ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Die Skepsis, die den Jüdischen Studien inhärent ist, verstärkt diese Perspektive. Allerdings soll nicht bestritten werden, dass die Transdisziplinarität auch eines der Probleme der Jüdischen Studien darstellt, denn sie eröffnet ein Forschungsfeld, das in alle Bereiche und alle Disziplinen – mit ihrer jeweils eigenen Methodik – führt und das mithin schier unermesslich ist. Aus diesem Grund ist die Definition eines spezifischen Forschungsprojekts und einer genauen Forschungsfrage sehr wichtig: Ist der Fokus klar umrissen, erweist sich die transdisziplinäre Perspektive als großer Gewinn.
Das Handbuch kann und wird die umfangreichen wissenschaftlichen Forschungsergebnisse, die es auf dem Gebiet der Jüdischen Studien schon gibt, nicht ersetzen, noch kann es den Fragen in detaillierten Einzelstudien nachgehen. Vielmehr möchte es Interesse wecken, Türen öffnen und Lust darauf machen, sich in den deutschsprachigen Ländern – nach Jahrzehnten der Berührungsängste – auf das reiche und bereichernde Gebiet der Jüdischen Studien einzulassen. Insofern hoffen wir, dass das Handbuch auch für nichtakademische Leser und Leserinnen von Interesse ist.
Und noch ein Wort zur Transkription: Beim Lesen werden Sie bemerken, dass die Transkriptionen hebräischer Ausdrücke keinem einheitlichen Schema folgen. Der Grund hierfür liegt an der jeweiligen – je nachdem – deutschsprachigen oder englischen Referenzliteratur. Sie zu vereinheitlichen, fällt alleine deshalb schwer, weil damit die Wiedererkennbarkeit und Auffindbarkeit in der Referenzliteratur erschwert würde. Hierfür bitten wir um Verständnis.
Christina von Braun und Micha Brumlik, Berlin im Herbst 2017
______________
11 in 6 adult US Jews are converts, Pew study finds, in: Jerusalem Post, 13. 5. 2015.
2Vgl. etwa Hughes, Aaron W.: The Study of Judaism: Authenticity, Identity, Scholarship, New York 2013.