Handbuch des Verwaltungsrechts

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

II. Die Policeynormen als reine Steuerungsnormen

57

Steuerungsfunktion des Policeyrechts

Aber noch in einem weiteren, vielleicht noch gravierenderen Punkt unterschied sich das Policeyrecht grundlegend vom modernen Verwaltungsrecht. Dessen Aufstieg stand in untrennbarem Zusammenhang mit der „Durchsetzung des Verfassungsstaates seit dem Wiener Kongress“.[135] Dieser Vorgang war mit einer neuartigen Deutung des Verhältnisses zwischen Staat und Bürger (das ältere Wort „Untertan“ wird nun anrüchig) verbunden. Neu war die Vorstellung, dass zwischen Bürger und Staat so etwas wie ein „Rechtsverhältnis“ mit beiderseitigen Rechten und Pflichten bestehe, das sich in Anlehnung an zivilrechtliche Rechtsverhältnisse interpretieren lasse. Die policeylichen Normen hatten den Untertan demgegenüber nur als Pflichtenträger, nicht aber als Inhaber subjektiver Rechte angesprochen. Die Policeygesetzgebung der Frühen Neuzeit hatte nur solche Normen hervorgebracht, die ausschließlich auf die direkte Verhaltenssteuerung ausgerichtet waren. Die zahllosen Ge- und Verbote der Policeyordnungen beinhalteten ausschließlich konkrete Anweisungen an die Untertanen, etwas Bestimmtes zu tun oder zu unterlassen. Hand in Hand mit der neuen rechtlichen Deutung des Verhältnisses zwischen Staat und Bürger ging ein in einem neuen Grundrechtsverständnis wurzelndes Denken, das den Bürger mit einer geschützten subjektiv-individuellen Rechtssphäre umgab, in die der Staat nur unter den im parlamentarischen Gesetz festgelegten Bedingungen eingreifen durfte. In Robert von Mohls „Polizei-Wissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates“ von 1832/33 kommt diese „allmähliche rechtliche Durchdringung“ schon im Titel der Darstellung zum Ausdruck.[136]

58

Schutzfunktion des modernen Verwaltungsrechts

Als reinen Steuerungsnormen fehlte den Policeynormen des Ancien Régime eine wesentliche Funktion des modernen Verwaltungsrechts, nämlich die rechtliche Begrenzung staatlichen Handelns gegenüber den Bürgern. Das moderne Verwaltungsrecht erschöpft sich bekanntlich nicht in reiner Verhaltensnormierung. Das gilt insbesondere für das allgemeine Verwaltungsrecht, bei dem die Steuerungsfunktion in den Hintergrund rückt. Es handelt sich hier in erster Linie um Schutznormen, die das staatliche Handeln vorprogrammieren und damit für den Bürger vorhersehbar machen sollen. Es enthält nicht nur an die Untertanen gerichtete Ge- und Verbote, sondern ist gleichermaßen genau in die umgekehrte Richtung adressiert, nämlich an den Staat, dessen Handeln auf bestimmten Aktionsfeldern normativen Bindungen unterworfen wird. Das Ganze basiert auf einem spezifischen Gesetzesverständnis: Das Gesetz ist hier mehr als nur ein reines Steuerungsinstrument; ebenso wichtig ist seine Bedeutung als Instrument der Sicherung bürgerlicher Freiheit. Im „Rechtsstaat“ entfaltet das Gesetz zweiseitig verbindende Kraft – ein Gesichtspunkt, auf den dann nicht zuletzt Otto Mayer mit großem Nachdruck insistiert.[137] Noch in der zweiten Auflage unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg argumentiert Mayer dabei mit der Dichotomie von „Rechtsstaat“ und „Polizeistaat“. Den „Rechtsstaat“ verbindet Mayer nun damit, dass in ihm das Gesetz zweiseitig verbindende Kraft entfalte: Die im Gesetz an die Untertanen gerichteten Normen enthielten immer auch ein entsprechendes Sollen für die Behörde,[138] denn mit dem von ihm erlassenen Gesetz binde sich der Staat selbst.[139] Verwaltungsrecht wird hier also verstanden als Recht zwischen zwei Rechtssubjekten. Umgekehrt zeichnet sich der „Polizeistaat“ bei Mayer gerade dadurch aus, dass bei ihm das Öffentliche Recht im Grunde „gar kein Recht“[140] ist. Neben die Idee obrigkeitlicher Steuerung der gesellschaftlichen Ordnung, die Grundidee, aus der die Policeygesetzgebung ursprünglich erwachsen war, trat auf diese Weise der Gedanke, den Bürger vor der Polizeigewalt durch deren rechtliche Festlegung und Begrenzung zu schützen. Früher noch findet sich das bei Lorenz von Stein. Auch für von Stein ist die begriffliche Verbindung der „Polizei“ mit dem „Recht“ nur aus der Perspektive der Schutzfunktion überhaupt sinnvoll: „Der Begriff des Rechts“, so von Stein, „entsteht erst auf dem Punkte, wo die Funktion der Polizeiorgane in die Sphäre des individuellen Lebens hineingreift und im Namen des Gesamtwohls eine Beschränkung der persönlichen Freiheit von dem Einzelnen fordert. [. . ..] Das Wesen der freien Persönlichkeit fordert aber andererseits, dass diese polizeiliche Beschränkung nicht in der Willkür der Polizeiorgane liege, sondern selbst wieder eine feste, durch den allgemeinen Willen gesetzte Grenze habe. Und die Gesamtheit von Grundsätzen, Regeln und geltenden Bestimmungen, welche der polizeilichen Funktion überhaupt gegenüber der persönlichen Freiheit eine solche Grenze geben, bilden das Polizeirecht“.[141]

59

Neues Gefahrenbewusstsein gegenüber dem Staat

Diese zentrale Funktion des modernen Verwaltungsrechts fehlte dem frühneuzeitlichen Policeyrecht hingegen noch völlig. Allerdings hat sich an der Wende zum 19. Jahrhundert ein erstes Gefahrenbewusstsein gegenüber einer Policey bemerkbar gemacht, die sich als „fürchterlichste Plage und gefährliches Werkzeug der Unterdrückung“[142] erweisen kann, wenn sie nicht rechtlich eingehegt wird. Im berühmten „Handbuch des teutschen Polizeirechts“ von Günter Heinrich von Berg findet sich bereits ein, wenn auch noch sehr kurzer, aber doch bemerkenswert deutlich formulierter Abschnitt über die „Grenzen der Policeygewalt“ gegenüber den Staatsbürgern.[143] Werden sie überschritten, arte die Policey „in Despotismus und Tyranney“ aus.[144] In solchem Ton zeigt sich wohl tatsächlich ein erstes „rechtsstaatliches Bemühen“.[145] Hand in Hand damit ging eine deutliche Neuakzentuierung bei der Definition des Policeyrechts. Es wurde nun beschränkt auf „die Rechte und Pflichten, die zwischen dem Staate und dem Bürger in den öffentlichen Verhältnissen eintreten“, also diejenigen „Rechte und Pflichten, welche Abgaben und alle die Einschränkungen betreffen, die sich jeder Bürger in dem Gebrauch seines Eigentums nach dem Inhalt der Polizey-Verordnungen gefallen lassen muss“.[146]

60

Auswirkung auf die Beamtenausbildung

Die Verrechtlichung des Verhältnisses zwischen Staat und Bürger hat auch eine erneute Verrechtlichung der Beamtenausbildung bedingt, weil es nun zunehmend darauf ankam, die rechtlichen Grenzen des staatlichen Handelns zu kennen. Man hat diese Entwicklung daher auch als Begleiterscheinung zur „Durchsetzung der konstitutionellen Monarchie“ und des Rechtsstaates bezeichnet.[147] Das wird nicht zuletzt in dem Bedeutungsschwund sichtbar, den die Kameralwissenschaften in den Ausbildungsgängen zur Verwaltungspraxis vor allem gegenüber der Jurisprudenz hinnehmen mussten: In der preußischen Beamtenausbildung ist seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts eine allmähliche Juridifizierung der Ausbildungsgehalte festzustellen.[148] Die kameralistisch-policeywissenschaftlichen Ausbildungspunkte verloren gegenüber den rechtlich-juristischen immer mehr an Gewicht. Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts „wurde die kameralistische Ausbildung der höheren Verwaltungsbeamten in Preußen durch Schulung in Rechtsinterpretation und Gesetzesausführung verdrängt, die weitgehend mit der Qualifikation zum Richteramt identisch war“.[149] In der Folgezeit setzte sich auch in den übrigen deutschen Staaten, zuletzt in Württemberg, die justiz-juristisch orientierte Qualifikation des Verwaltungsnachwuchses durch.[150] Damit verbunden war der allmähliche Abstieg der Policeywissenschaft: In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist diese Disziplin von der Bildfläche verschwunden: Aus der Policeywissenschaft wurde die „Verwaltungslehre“, die in Lorenz von Stein noch einmal einen hervorragenden Exponenten fand. Aber die Verwaltungslehre verlor gegenüber der juristischen Ausbildung der Beamten zunehmend an Boden.[151] Freilich blieb das Öffentliche Recht zunächst – sogar noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, wie Michael Stolleis eingehend gezeigt hat, – im juristischen Curriculum der deutschen Universitäten ganz deutlich unterrepräsentiert.[152]

E. Bibliografie

Dieter Grimm, Verfassung und Privatrecht im 19. Jahrhundert – Die Formationsphase, 2017.

Ernst Hinrichs, Merkantilismus in Europa: Konzepte, Ziele, Praxis, in: ders. (Hg.), Absolutismus, 1986, S. 344–360.

Achim Landwehr, Policey vor Ort. Die Implementation von Policeyordnungen in der ländlichen Gesellschaft der Frühen Neuzeit, in: Karl Härter (Hg.), Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft, 2000, S. 47–70.

Christoph Link, Die habsburgischen Erblande, in: Kurt Gustav Adolf Jeserich/Hans Pohl/Georg-Christoph von Unruh (Hg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. I: Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Reichs, 1983, S. 468–544.

Gerhard Oestreich, Strukturprobleme des europäischen Absolutismus, in: ders. (Hg.), Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze, 1969, S. 179–197.

Johann Christian Pauly, Die Entstehung des Polizeirechts als wissenschaftliche Disziplin, 2000.

Gerhard Sälter, Obrigkeitliche Kontrolle durch Inspektion. Zum Wandel einer Herrschaftstechnik am Beispiel der Pariser Polizei, in: Karl Härter (Hg.), Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft, 2000, S. 561–582.

Andreas Schwennicke, Ohne Steuer kein Staat. Zur Entwicklung und politischen Funktion des Steuerrechts in den Territorien des Heiligen Römischen Reichs, 1996.

Thomas Simon, Einleitung, in: ders. (Hg.), Repertorium der Policeyordnungen der Frühen Neuzeit, Bd. 2, Teilbd. 1: Brandenburg/Preußen mit Nebenterritorien (Kleve-Mark, Magdeburg und Halberstadt), 1998, S. 1–56.

ders., Einleitung Kurköln, in: Karl Härter (Hg.), Repertorium der Policeyordnungen der Frühen Neuzeit, Bd. 1: Deutsches Reich und geistliche Kurfürsten (Kurmainz, Kurköln, Kurtrier), 1996, S. 423–435.

 

ders., Hofrat und Hofkammer in Kurköln. Funktionsprofil und Verwaltungsverständnis der Spitzenbehörden eines geistlichen Territoriums, in: Frank Günter Zehnder (Hg.), Im Wechselspiel der Kräfte. Politische Entwicklungen des 17. und 18. Jahrhunderts in Kurköln, 1999, S. 236–266.

ders., Policey im kameralistischen Verwaltungsstaat. Das Beispiel Preußen, in: Karl Härter (Hg.), Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft, 2000, S. 473–496.

ders., „Gute Policey“. Ordnungsleitbilder und Zielvorstellungen politischen Handelns in der frühen Neuzeit, 2004.

ders., Das Policeyrecht des 18. Jahrhunderts als Teil des „Teutschen Privatrechts“. Zum Verhältnis von „Recht“ und „Policey“, Rg 19 (2011), S. 309–321.

Michael Stolleis, Pecunia nervus rerum. Zur Staatsfinanzierung in der Frühen Neuzeit, 1983.

ders., Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. I: Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600-1800, 1988; Bd. II: Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft 1800–1914, 1992.

Dietmar Willoweit, Allgemeine Merkmale der Verwaltungsorganisation in den Territorien, in: Kurt Gustav Adolf Jeserich/Hans Pohl/Georg-Christoph von Unruh (Hg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. I: Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Reichs, 1983, S. 289–368.

F. Abstract


1. The term “administration” in the modern sense is closely related to the principle of the division of power. This core idea of modern constitutional political thinking did not gain ground until the 19th century (par. 1).
2. Therefore, in the political and legal thinking of the early modern period, it was not the well-known differentiation between legislative, executive, and judicial power that was essential but rather the distinction between policy (Policey) and justice (par. 3).
3. Policy included all functions of the early modern state. In addition to justice, these were primarily legislation, controlling, and sanctioning (par. 4).
4. At its core, policy meant establishing a good order by legislation and attempting to enforce statutes by controlling and sanctioning all violations of them (par. 5).
5. Obviously, the idea of a “good order” and the “common good” changed significantly between the 16th and 17th century. At the beginning of the modern period in the 16th century, this was mainly a question of the moral order (par. 7 et seqq.).
6. In the 17th century, the question of an effective economic order became increasingly central: The most important aim of internal politics and administration in the 18th century was to establish an order of “common wealth”, i. e. an order of society with a big number of wealthy subjects able to pay high taxes to the prince (par. 11 et seqq.).
7. This change of political aims fundamentally transformed the way the administration worked: Administration was no longer mainly a matter of controlling and sanctioning but rather of economic planning (par. 20 et seqq.).
8. Over the course of the 18th century, states in Germany set up new authorities aligned to the new economic aims of internal politics and administration. This is most clearly visible in Prussia with the Generaldirektorium at the central level of administration and the Kriegs- und Domänenkammern in the provinces. Most other princes in the Holy Roman Empire tried corresponding measures, but they usually failed due to the resistance of the estates which were afraid to lose their inherited influence on authorities (par. 35 et seqq.).
9. During the 18th century, the new term Policeyrecht emerged. The subject matters of this Policeyrecht were more or less those of what is nowadays besonderes Verwaltungsrecht (par. 50 et seqq.). Nevertheless, the Policeyrecht of the 18th century can hardly be described as an early mode of modern administrative law. This is so for two reasons:
10. First, the premodern Policeyrecht was part of a legal order that was completely different from the modern one. The modern legal order is based on the fundamental distinction between public and private law, a distinction unknown in premodern legal thinking. Therefore, the old Policeyrecht was formally part of the so-called Deutsches Privatrecht or Partikularrecht, which was the counterpart of the Ius Commune. But in fact, Policeyrecht was hardly a subject of jurisprudence. Rather, it was a subject of political science and economics (par. 50 et seqq.).
11. Second, modern administrative law is more than a mere collection of statutes, as was the case with the old Policeyrecht. Unlike the latter, modern administrative law is not only a state instrument for steering individuals and society as a whole. Rather, it has the function of protecting individuals against infringements by the state. By contrast, the old Policeyrecht had nothing to do with this essential idea of modern administrative law (par. 58).

Stefan Fisch

§ 2 Verwaltung im langen 19. Jahrhundert

A. Gleichzeitigkeit von Revolution und Reform bis 18153 – 20

I. Integration in Französische Republik und Französisches Kaiserreich3 – 6

II. Ende des Alten Reiches und Napoleons Rheinbund7 – 10

1. Beginnende Auflösung der Strukturen des Alten Reichs unter Napoleons Einfluss7, 8

2. Ende des Alten Reichs und Napoleons Rheinbund ab 18069, 10

III. Reformschub für Bayern unter dem Ministerium von Graf Montgelas11 – 14

IV. Staatskatastrophe und Reformen in Preußen15 – 20

B. Legitimität der deutschen Staaten als fortbestehende Grundlage von Staat und Verwaltung (1815–1866)21 – 44

I. Republikanische Traditionen der Freien Städte21 – 28

1. Die drei Hansestädte22 – 26

2. Die Freie Stadt Frankfurt27, 28

II. Monarchie und Restauration im Deutschen Bund von 181529 – 38

1. Grundgedanken der inneren Ordnung des Deutschen Bundes von 181529 – 33

2. Spannungen und Prüfsteine34 – 38

III. Beamte als Fürsten- oder als Staatsdiener?39 – 44

C. Staatsaufgaben und Verwaltung45 – 62

I. Innere Verwaltung und Polizei45 – 50

1. Konzeption zwischen Gemeinwohlorientierung und Sicherheitspolizei45 – 47

2. Realität von Polizei bei der Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung48 – 50

II. Finanzverwaltung und materielle Ressourcen51 – 53

III. Ausbildung für die höhere Verwaltung54, 55

IV. Alltagspraktiken der Verwaltung56 – 58

V. Handlungsspielräume der Verwaltung59, 60

VI. Kommunikation mit den Adressaten der Verwaltung61, 62

D. Norddeutscher Bund und Deutsches Reich (1866/71–1914/18)63 – 84

I. Integration annektierter Gebiete als Reformchance (1866)?63 – 66

II. Strukturprobleme67 – 73

1. Föderalismus von ungleichen Monarchen67, 68

2. Gemeinsame Kriegsbeute: Elsass-Lothringen als „abhängiges Land“69 – 71

3. Finanzen im Föderalismus72, 73

 

III. Aufbau neuer Leistungsverwaltungen zur Daseinsvorsorge74 – 77

IV. Innovative Selbstverwaltungen in Großstädten und deutliche Grenzen auf dem Land78 – 80

V. Herausforderungen im Ersten Weltkrieg 1914–191881 – 84

1. Kriegszustand und Ermächtigungsgesetz 191481, 82

2. Konfliktreiches Nebeneinander von königlicher Regierung und königlichem Oberbefehl83, 84

E. Max Weber und die deutsche Verwaltung im langen 19. Jahrhundert85, 86

F. Bibliografie

G. Abstract

1

Metapher vom „langen“ 19. Jahrhundert

Der britische Historiker Erik Hobsbawm sprach im Hinblick auf das 20. Jahrhundert von einem „langen“ 19. Jahrhundert, das 1789 begann und 1914/1917/1918 endete.[1] Hier ist das Bild im Blick auf die Kontinuität der deutschen Monarchien zu verstehen. Oft beschritten sie aus dem Schrecken über die terreur des Wohlfahrtsausschusses 1793/94 in Frankreich und zur Besänftigung ausgreifender Ansprüche Napoleons den Weg von Reformen, doch jeweils anders. Und dann brachen sie am Ende des Ersten Weltkriegs für viele unerwartet zusammen. Für den „langen“ Zeitraum dazwischen legt das Bild Gleichläufigkeit und Kontinuität nahe, wenn nicht eine vom Nationalstaat bestimmte, positiv verstandene Fortentwicklung. Zu diesem „langen“ Jahrhundert zählen aber auch innere Brüche und vorhandene, aber wenig begangene alternative Wege.

2

Gleich scheinende Begriffe

Am 31. Juli 1914 wurden für heute fremdartige Rechtslagen deutlich. Der Kriegszustand als Ausnahmezustand auf Dauer wurde in Form einfacher Verordnungen verhängt. Sie ergingen durch den deutschen Kaiser und König von Preußen als Obersten Befehlshaber und – durch Bündnisverträge seit 1867 an ihn gebunden – den König von Bayern.[2] Politisch ging ihnen weder ein Beschluss einer Reichsregierung (es gab sie nicht; einziger Minister war der Reichskanzler) noch eine Diskussion und Abstimmung im Reichstag oder im bayerischen Landtag voraus. Herrschaftsrechte waren damals anders zwischen Krone, Regierung und Verwaltung aufgeteilt; dadurch wurde auch die Rolle der „Verwalteten“ anders gefasst, als es diese über mehr als zwei Jahrhundert verwendeten, nur gleich scheinenden, Begriffe aus heutiger Sicht suggerieren.[3] Die begriffliche und sprachliche Spannung wahrzunehmen, widerstrebt zunächst einer Verwaltungsrechtswissenschaft, die sich am geltenden Recht orientiert und dieses systematisiert.[4] Das Wissen um die geschichtliche Vielfalt von sehr unterschiedlichen Verwaltungen in vielerlei Situationen kann vermitteln, wie Recht und Verwaltung unsere gewachsene Kultur geprägt haben.[5] So, wie von Menschen bestimmte Antworten auf neuartige Situationen entworfen wurden, können diese von Menschen auch wieder geändert werden.