Handbuch des Verwaltungsrechts

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C. Die Akteure der Verwaltung: Die Beamten und ihr Tätigkeits- und Anforderungsprofil in der Frühen Neuzeit

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Wandel des Verwaltungsverständnisses in den Dienstordnungen

Der Wandel des Verwaltungsverständnisses lässt sich nicht zuletzt auch an den Anforderungs- und Pflichtenkatalogen der frühneuzeitlichen Beamtenschaft erkennen: In den zahlreichen Dienstordnungen für die traditionelle staatliche Spitzenbehörde, den Hofrat, und die ihm nachgeordneten Beamten, dominieren nach wie vor die justiziellen Funktionen.[96] Vergleicht man das Funktionsprofil und die Aufgabenkataloge des neu entstandenen, stärker ökonomisch orientierten Behördenzuges mit denjenigen einer älteren Verwaltungsinstitution, wie etwa des Amtmanns,[97] so sieht man, wie die Kontrolle, Erfassung und Sanktionierung von Normverstößen, vormals die entscheidende policeyliche Funktion, immer stärker zurücktritt. Stattdessen treten nun Tätigkeitsformen der Verwaltung auf, wie sie auch für das moderne Verwaltungshandeln typisch sind. In Veit Ludwig von Seckendorffs „Fürstenstaat“[98] etwa, einem in der Praxis vor allem der kleineren Territorien noch im 18. Jahrhundert weit verbreiteten Handbuch für Regierung und Verwaltung, werden die typischen Pflichten und Aufgaben eines Amtmannes aufgeführt, wie sie in keiner Bestallungsurkunde fehlen durften. Das Buch beinhaltet ein Muster für die Ausstellung einer solchen Urkunde, in dem die Aufgaben eines Amtmannes zunächst in geraffter Form aufgezählt werden. Danach bestehen die Hauptpflichten eines Amtmanns darin,


- die „Landesfürstliche Hoheit und deren anhängige Regalien unverruckt und unbeeinträchtigt“ zu erhalten,
- „Gerechtigkeit und gute Policey denen Rechten und Ordnungen gemäß“ handzuhaben,
- darauf zu achten, dass den landesfürstlichen „Gerechtsamen und Kammereinkünften kein Eintrag wiederfahre“ und schließlich
-

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Stellvertreterfunktion und justizielle Funktion

Als erste Pflicht des Amtmannes erscheint hier also diejenige Aufgabe, die den alten Kern der Amtmannfunktion ausgemacht hat – eine Funktion, die sich am ehesten mit dem Wort „Stellvertreterfunktion“ umschreiben lässt.[100] Es ist die Aufgabe, die landesfürstlichen Herrschaftsrechte vor Ort auszuüben, sie durch kontinuierliche Handhabung vor allmählichem Vergessen und normativer Auszehrung zu bewahren und ihre Schmälerung durch andere Herrschaftsträger oder seitens der Untertanen abzuwehren. Im weiteren Verlauf des Bestallungsformulars werden diese vom Amtmann handzuhabenden landesfürstlichen Herrschaftsrechte im Einzelnen aufgezählt: Kennzeichnenderweise ist es die Gerichtsbarkeit, die hier an erster Stelle rangiert. Es folgt das wichtigste territorialherrschaftliche Abgabenrecht, die Besteuerung; schließlich das eng damit verknüpfte Aufgebotsrecht.[101] Überall geht es hier um die Wahrung der landesfürstlichen Herrschaftsrechte durch deren Geltendmachung und Ausübung. Daran schließt sich die Handhabung von „Gerechtigkeit und guter Policey denen Rechten und Ordnungen gemäß“ an; Rechtspflege und Policey gehen hier fließend ineinander über. Sieben der insgesamt zehn Einzelpunkte zur Handhabung von „Gerechtigkeit und guter Policey“ haben jurisdiktionelle Funktionen zum Inhalt; die restlichen drei Pflichtenpunkte bestehen in der Friedenssicherung und Verbrechensbekämpfung durch „Wacht und Aufsicht“, im Musterungswesen und schließlich in der Unterstützung der kirchlichen Organe bei der Kirchen- und Schulaufsicht. Alle übrigen Aufgaben, denen sich der Amtmann im Bereich von Justiz und Policey zu unterziehen hat, liegen in der Normdurchsetzung durch Strafrechtspflege und in der Zivilrechtsprechung. Zu diesem Zweck bediente er sich in erster Linie der traditionellen Institution der Gemeinde- und Gerichtszusammenkünfte, wo die geltenden Normen durch Verlesung in Erinnerung gehalten, vorgefallene Normübertretungen gerügt, zur Abstrafung verzeichnet und eventuell gleich geahndet wurden. „Verwaltung“, wie sie der Amtmann typischerweise betrieb, besteht hier also ganz wesentlich aus rechtsprechender und sanktionierender Tätigkeit.[102] Ökonomische oder wirtschaftspolitische Pflichtenstellungen fehlen demgegenüber fast gänzlich.

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Neues Funktionsprofil

In stärkstem Gegensatz hierzu stellt sich der Aufgabenkatalog in den Dienstordnungen der neuen Unterbehörden dar, etwa der preußischen Kriegs- und Domänenkammern: Kontrolle, Erfassung und Sanktionierung von Normverstößen machen hier nur noch eine allenfalls gleichrangige Aufgabe neben anderen aus. Daneben treten Tätigkeitsformen, wie sie auch dem modernen Verwaltungshandeln auf weite Strecken inhärent sind und sich mit folgenden Stichworten umschreiben lassen: Statistische Erfassung und Vermessung der sozialen und ökonomischen Gegebenheiten des Gemeinwesens (I.), Planung und bewusste Weiterentwicklung der ökonomischen Strukturen (II.) und schließlich: Leistungsverwaltung (III.).

I. Statistik

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Statistik

Die genaue Beobachtung und statistische Beschreibung, insbesondere der wirtschaftlichen Gegebenheiten des Kammerbezirkes, und die regelmäßige, schnelle und umfassende Berichterstattung an die Zentrale werden den Kammern hier mit auffallendem Nachdruck zur Pflicht gemacht.[103] Immer wieder werden sie zur sorgfältigen Recherche und Berichterstattung über alle, vor allem ökonomisch relevanten Vorgänge im Lande ermahnt. Die Beamten sollen die Städte des Amtssprengels möglichst intensiv bereisen, um sich ein genaues Bild der Verhältnisse dort machen zu können. An vorderster Stelle rangiert also die möglichst genaue Beobachtung und Erfassung des ökonomischen Zustandes der Städte, um der Regierung ein exaktes Bild von den Verhältnissen im Lande vermitteln zu können. Die Statistik wird dadurch zu einem wichtigen Element der „Guten Policey“: In den Zahlenwerken der verschiedenen Statistiken sind die ökonomische Verfassung des Landes, seine Wirtschaftskraft und die Quellen seines Reichtums festgehalten. Sie geben der Regierung ein Wissen in die Hand, mit dem sich die Wirtschaftskraft des Landes steigern lässt. Deshalb hat die Statistik auch in der Policeywissenschaft des 18. Jahrhunderts eine außerordentlich wichtige Rolle gespielt.[104] Über die exakte Schilderung der anzutreffenden Verhältnisse hinaus wurden von den Kammern aber auch eine Analyse zu den Ursachen eventueller Missstände und konkrete, umsetzungsfähige Vorschläge erwartet, wie diese zu beheben seien, ja weitergehend, wie ein bestimmter Status quo strukturell weiterzuentwickeln wäre: Welche Chancen hätten an dem und dem Ort neuanzusiedelnde Gewerbezweige? Wo liegen noch unerschlossene oder nur extensiv genutzte Flächen, deren Nutzwert sich im Wege landeskultureller Maßnahmen steigern ließe? Gibt es irgendwo Plätze im Sprengel, wo man eventuell Kolonisten ansiedeln könnte?

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Städtetabellen

Neben solchen fortlaufenden, in kurzen Zeitabständen zu beschaffenden Informationen, die der Zentrale ein möglichst aktuelles Bild von der Situation der einzelnen Landesteile liefern sollten, hatten die Kammern jährlich auch spezielle Übersichten und Statistiken zu liefern, vor allem die sog. „Städtetabellen“, in denen für jede einzelne Stadt des jeweiligen Kammerbezirkes „detaillierte Nachrichten über alle städtischen Verhältnisse“ zu geben, vor allem aber der Gesamtjahresertrag der Akziseeinnahmen und die für Bürgermeister, Ratsherrn und Stadtbedienstete anfallenden Personalkosten im Einzelnen aufzuschlüsseln waren.[105] Dieser Aufstellung war das Akziseaufkommen der davor liegenden drei Jahre gegenüberzustellen und hier hatte dann auch die vom König geforderte Analyse der Kammern einzusetzen: Wie sind die Abweichungen, wie sind vor allem eventuelle Einbrüche bei den Akziseeingängen gegenüber den drei Etat-Vorjahren zu erklären? Sind sie auf nicht weiter zu beeinflussende, witterungsbedingte Missernten oder Viehseuchen und einen daraus folgenden Rückgang der Umsatzintensität beim städtischen Handel zurückzuführen oder liegen irgendwelche strukturellen Schwächen vor, die sich mit entsprechenden Verwaltungsmaßnahmen beseitigen ließen? Die Rechnungsführung über die Einnahmen wurde auf diese Weise zu einem Messinstrument, mit dessen Hilfe sich die strukturellen Mängel der Policey im Interesse einer zielgerichteten Gegensteuerung leichter lokalisieren ließen.

II. Planungs- und Entwicklungsaufgaben

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Planung

Die Planungs- und Entwicklungsaufgaben: Leistungsfähige Textilmanufakturen und Peuplierung, also zwei klassische kameralistische Politikziele, waren die Entwicklungsaufgaben, auf die die Kammern ihren Instruktionen gemäß angesetzt wurden. Damit erscheint hier eine Tätigkeit in den Aufgabenkatalog aufgenommen, die gegenüber den bisher erwähnten Tätigkeitsformen eine ganz neuartige innere Grundstruktur aufweist: Dort ging es im Kern um Verhaltenskontrolle und Sanktionierung von normabweichendem Verhalten. Beim „Etablissement derer Manufakturen“ und ihrer stetigen „Augmentierung“ hingegen liegt das Ziel in der Hervorbringung noch gar nicht vorhandener ökonomischer Strukturen. Damit ist ein grundlegender Perspektivenwechsel verbunden: Neben die retrospektive Sicht, wie sie der sanktionierenden Tätigkeit eigen ist, tritt der sozusagen prospektivische Blick, der die ökonomischen Strukturen des Landes an einen vorerst nur in der planerischen Vision vorliegenden Zustand heranführen möchte.

 

III. Leistungsverwaltung

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Leistungsverwaltung

In den Dienstinstruktionen der Kammern werden ansatzweise auch Elemente der Leistungsverwaltung[106] sichtbar, die vor allem in dem staatlichen Bemühen zu Tage tritt, den Zuzug niederlassungswilliger Handwerker und Arbeiter der Textilbranche zu fördern: Die Kammern waren gehalten, solchen Leuten sog. Handgelder auszuzahlen, die den Anreiz der ohnehin gewährten Abgaben- und Steuernachlässe verstärken sollten. Die Kammern sollten auch dafür sorgen, dass den neuen Handwerkern vorschussweise die erforderlichen Rohstoffe zur Textil-Produktion zur Verfügung gestellt werden, damit ihnen der Produktionsstart gelingt. Dieser Rückgriff auf das Instrument leistender Verwaltung entsprach ganz den policeywissenschaftlichen Grundsätzen dieser Zeit, die immer wieder betonten, dass der Fürst sich vorrangig anderer Mittel als der nachträglichen Sanktionierung normabweichenden Verhaltens bedienen müsse, wolle er die hochgesteckten Ziele der kameralistischen Politiklehre erreichen.[107] Denn allein mit der Durchsetzung der normativen Ordnung durch deren Sanktionierung war aus solcher Sicht die angestrebte Weiterentwicklung der ökonomischen Strukturen des Landes nicht zu erreichen, weil die bloße Normtreue der Untertanen noch kein ökonomisches Wachstum erzeugt. Wichtig war hier vielmehr die Ermunterung der Untertanen zum wirtschaftspolitisch erwünschten Verhalten; Ermunterung durch Subventionen und eine richtige Steuerpolitik ebenso wie durch eine aktive staatliche Strukturpolitik in Form von Landeskulturmaßnahmen, Gewerbe- und Manufakturansiedelung und Infrastrukturausbau. „Verwaltung“ erschöpfte sich hier also nicht mehr im Verbieten und Gebieten, im Aufspüren und Strafen, sondern bedient sich daneben weiterer Handlungsformen. Diese Vervielfältigung der Handlungsinstrumente korrespondiert mit dem anspruchsvoller gewordenen kameralistischen Politikziel, das sich nicht mehr damit begnügte, menschliches Fehlverhalten zu korrigieren, sondern Wirtschaftswachstum erzeugen wollte; Verwaltung versteht sich hier in hohem Maße als Wirtschaftsführung der „großen Ökonomie des Staates“, wie es die Kameralistik ausgedrückt hat.[108]

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Beamtenausbildung: Kameralwissenschaften

Das veränderte Verwaltungsverständnis hat sich naheliegenderweise auch auf die Ausrichtung der Beamtenausbildung ausgewirkt: Das Curriculum wird nun angereichert mit den sog. Kameralwissenschaften, bestehend aus den Teilgebieten der Politischen Ökonomie, einer Vorform der späteren Volkswirtschaftslehre, der Policeywissenschaft, einer stark ökonomisch unterfütterten Verwaltungslehre, und schließlich der Finanzwissenschaft.[109] Hinzu kamen policeyliche Gesetzeskunde und die sog. „Statistik“, die „Staatenkunde“. Die herkömmliche Juristenausbildung mit ihrer eindeutigen Bevorzugung des Gemeinen Rechts schien nun zur Vorbereitung auf den praktischen Verwaltungsdienst gänzlich unzureichend. Denn in der traditionellen Juristenausbildung spielten die Normen der Policey keine oder allenfalls eine marginale Rolle. Noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts galt die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Vorschriften der Policey, vor allem deren Sammlung und ordnende Darstellung, nicht als Teilgebiet der Jurisprudenz, sondern der Polizeiwissenschaft[110] und dies war keine rechtliche Disziplin, sondern eine Teildisziplin der Kameralwissenschaften.[111] Da es bei den Kameralwissenschaften zuvorderst um praktisches, anwendungsorientiertes Fachwissen ging, wurde dieses zunächst nur außerhalb der Universitäten vermittelt, etwa am „Collegium Illustre“ in Tübingen oder an der Kurpfälzischen „Akademie“ zu Lautern.[112] Seit 1727 waren die Kameralwissenschaften aber auch an den Universitäten präsent. Führend waren hier die preußischen Universitäten Halle und Frankfurt/Oder – gewiss nicht zufällig, waren doch die Kameralwissenschaften in der preußischen Verwaltung spätestens seit Friedrich Wilhelm I., dem „großen Wirt“ (Ökonom), von besonderer Bedeutung.[113]

D. Das Policeyrecht: Eine frühe Form des Verwaltungsrechts?

I. Das Policeyrecht im Gefüge der frühneuzeitlichen Rechtsgebiete

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Begriff des Verwaltungsrechts

Das Wort „Verwaltungsrecht“ taucht bekanntlich erst im 19. Jahrhundert auf: Seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts begann es sich in den Titeln und Überschriften der staatsrechtlichen Literatur zu verbreiten, etwa in dem bekannten Lehrbuch Robert von Mohls über das „Württembergische Staatsrecht“ von 1831. Hier findet sich das Verwaltungsrecht dem neuen Teilgebiet des „Konstitutionsrechts“ gegenübergestellt. „Konstitutionsrecht“ und „Verwaltungsrecht“ machen nunmehr zusammen die beiden Teilgebiete des Staatsrechts aus; „in den 40er- und 50er-Jahren ist die Unterscheidung längst Gegenstand des allgemeinen Sprachgebrauchs“.[114]

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„Policeyrecht“

Älter ist der Begriff des „Policeyrechts“, aber auch dieser reicht nur bis etwa in die Mitte des 18. Jahrhunderts zurück, ist also viel jüngerer Provenienz als die „Policey“ selbst mit ihrer bis ins Mittelalter zurückreichenden Begriffsgeschichte. Ein „Policeyrecht“ hingegen und eine darauf aufbauende Unterscheidung zwischen einem „policeywissenschaftlichen“ und einem spezifisch „policeyrechtlichen“ Ansatz lässt sich erst seit der Mitte des 18. Jahrhunderts beobachten; damals erschienen die ersten Abhandlungen zum „Policeyrecht“.[115] Dieses „Policeyrecht“ unterschied sich allerdings ganz grundlegend vom späteren „Verwaltungsrecht“, wie es im Laufe des 19. Jahrhunderts entstand. Es deckte zwar in etwa diejenigen Sachbereiche ab, die heute in den einzelnen Teilgebieten des besonderen Verwaltungsrechtes geregelt sind, aber es umschloss durchaus auch solche Regelungsmaterien, die man heute dem Privatrecht zuordnen würde; als Beispiel mag hier etwa das Vormundschaftsrecht dienen.

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Verwaltungsrecht als Teil des Öffentlichen Rechts

Wie weit dieses „Policeyrecht“ vom späteren Verwaltungsrecht noch entfernt war, wird deutlich, wenn man seine Verortung in der Gliederung der einzelnen Rechtsgebiete betrachtet, wie sie noch im 18. Jahrhundert üblich war. Das „Policeyrecht“ bewegte sich in einem gänzlich anderen Normenumfeld als dann später das „Verwaltungsrecht“. Der moderne Begriff des „Verwaltungsrechts“ erschließt sich erst vor dem Hintergrund einer grundlegend neuen Einteilung der Rechtsnormen in ein „öffentliches“ und ein „privates“ Recht, wie sie um 1800 über die Bühne ging: Etwa gleichzeitig mit dem Aufkommen des Ausdrucks „Öffentliches Recht“ begann man sich die Rechtsordnung als Ganzes in die beiden Hauptteile des öffentlichen und des privaten Rechts eingeteilt vorzustellen: Aus einer „additiven Gliederung der Rechtsordnung in eine Vielzahl von Rechtsgebieten“ wird allmählich eine Zweiteilung.[116] Das Verwaltungsrecht oder das „Administrativrecht“, wie es zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch vielfach hieß, wurde hierbei als ein Teil des Öffentlichen Rechts betrachtet und somit als Teil einer Rechtsordnung, die im Gegensatz zum Privatrecht steht.[117]

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Trennung von Staat und Gesellschaft

In der allmählichen Neustrukturierung der rechtlichen Normenordnung entlang der grundsätzlichen Unterscheidungslinie zwischen einem Öffentlichen Recht und einem Privatrecht[118] schlug sich die vom Liberalismus angestrebte Trennung von Staat und Gesellschaft nieder.[119] Dies wiederum beruhte auf einem bestimmten Entwicklungsstand des Staates: Seine Verdichtung nämlich zum institutionellen Anstaltsstaat, der sich nun von der Gesellschaft abspalten ließ. Erst mit dieser institutionellen Verdichtung war „der Staat“ auch als (juristische) Person zu begreifen, dem sich – losgelöst von der Person des Fürsten – bestimmte Rechte und Pflichten zuordnen ließen.

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Das Policeyrecht als Teil des Deutschen Privatrechts

Das Policeyrecht des 18. Jahrhunderts hingegen war noch in einer vollkommen andersartigen Rechtslandschaft verortet, die auch in ganz andersartige Teilrechtsgebiete gegliedert war. Es wurde im 18. Jahrhundert dem Privatrecht noch nicht als etwas Wesensverschiedenes entgegengesetzt. Vielmehr wurde es damals unbestrittenermaßen, aber aus heutiger Sicht überraschend, gerade als ein Teil des sog. „Deutschen Privatrechts“ betrachtet.[120] Es war ein Teil des territorialen Statutarrechts[121] und zählte damit auch zum „Bürgerlichen Recht“,[122] schon weil es sich weder dem Ius Commune noch einem Sonderrechtsgebiet, wie dem Kriminalrecht, dem Lehensrecht oder dem Ius Publicum, zuordnen ließ. Man darf hier allerdings den Terminus „Deutsches Privatrecht“ nicht im modernen Sinne als dichotomischen Gegenbegriff zum Öffentlichen Recht missverstehen. Der Gegenbegriff zum „Deutschen Privatrecht“ im vormodernen Sinne, also zum Ius Germanicum, war nicht etwa das „Öffentliche Recht“, das es ja im modernen Sinne noch gar nicht gab, sondern das Ius Commune. „Deutsches Privatrecht“ war also der Inbegriff aller Rechtsnormen außerhalb des gemeinrechtlichen Normenkosmos und außerhalb der besonderen Rechtsgebiete, die sich seit dem Spätmittelalter herausgebildet hatten, wie das Lehensrecht, das Kriminalstrafrecht und das Ius Publicum. Noch in dem wohl bekanntesten, an der Wende zum 19. Jahrhundert erschienenen „Handbuch des teutschen Policeyrechts“ von Günther Heinrich von Berg findet sich das Policeyrecht als ein Teil des Privatrechts verortet: Von Berg vergleicht das Policeyrecht mit dem Prozessrecht: So wie dieses gehört auch jenes mit einem Teil zum Privat-, mit einem anderen zum Staatsrecht. Das Policeyrecht im engeren Sinne, das „eigentliche Policeyrecht“, wie er es nennt, ist ein Teil des Privatrechts. Dieses „eigentliche“ Policeyrecht beinhaltet den „Inbegriff der Rechte und Verbindlichkeiten, welche durch die Policeygewalt bestimmt sind“,[123] also die Normen der von den „Policeygewalten“ erlassenen Gesetze. Das Policeyrecht im weiteren Sinne umfasst bei von Berg darüber hinaus aber auch das „Recht der Policeygewalt“. Mit diesem Teil ist das Policeyrecht zugleich ein Teil des Ius Publicum, des Staatsrechts. Denn beim „Recht der Policeygewalt“ geht es nicht um die Normen der Policeyordnungen selbst, sondern um die staatsrechtliche Kompetenz zu deren Erlass und Sanktionierung. Hier werden in erster Linie die Rechte und Kompetenzen der verschiedenen „Policeygewalten“ – Reich, Reichskreise, Territorien und schließlich Kommunen – voneinander abgegrenzt. Während es im ersteren Fall, nämlich bei den Normen der Policeyordnungen selbst, darum geht, „was die Policeygewalt will“, so ist im „Recht der Policeygewalt“ vielmehr Gegenstand, „was sie darf“,[124] welchen Obrigkeiten also das Recht zum Erlass von Policeyordnungen zukommt und welchen nicht. Das betrifft auch bei von Berg noch in erster Linie die Frage nach den Hoheitsrechten der verschiedenen Herrschaftsträger untereinander, die seit jeher im Mittelpunkt des Ius Publicum gestanden war. Es war daher zunächst umstritten, inwieweit es überhaupt sinnvoll sein könne, aus den überlieferten Rechtsgebieten des Deutschen Privatrechts bzw. des Ius Publicum ein eigenes „Policeyrecht“ herauszulösen und zu verselbstständigen. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts gab es Stimmen, die, wie etwa der Publizist Nikolaus Thaddäus Gönner, in dem Begriff des „Policeyrechts“ keinen Sinn sahen:[125] Die Materien, die man gewöhnlich unter dem Begriff des Policeyrechts sammele, zählten untrennbar zum Deutschen Privatrecht bzw. zum Staatsrecht; die Abtrennung einer eigenen Rechtsmaterie „Policeyrecht“ sei sinnlos.[126]

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Vom Policeyrecht zum Verwaltungsrecht

Der Begriff des „Policeyrechts“ entstand also dadurch, dass innerhalb des weiteren Bereichs des Deutschen Privatrechts ein besonderes Gebiet abgegrenzt wurde. Die neuartige Stoffabgrenzung unter der Bezeichnung des „Policeyrechts“ dürfte in erster Linie durch den Bedeutungszuwachs der Kameralwissenschaften bedingt gewesen sein, die sich damals auch universitär als selbstständiges Fach zu etablieren begannen.[127] Damit entstand auch das Bedürfnis nach einer zusammenfassenden Darstellung der kameral- und policeywissenschaftlich relevanten Teile des deutschen Privatrechts. So wurde die Verselbstständigung des Policeyrechts und die ihm zugeordnete Stoffauswahl von den ersten Autoren des neuen Fachs jedenfalls begründet.[128] Es war derjenige Teil des „Deutschen Privatrechts“, der für die zeitgenössische Policeywissenschaft von besonderer Bedeutung war. Erst an der Wende zum 19. Jahrhundert wurde „die herrschende Zuordnung des Polizeirechts zum Privatrecht unsicher“.[129] Hintergrund dessen war eine allmähliche Verschiebung der Fächergrenzen, wie sie nicht zuletzt im neuartigen Begriff des „öffentlichen Rechts“ zum Ausdruck kam.[130] Gleichzeitig hatte sich der Bedeutungsbereich des „Privatrechts“ verengt.[131] Dies wiederum brachte eine neue Verortung des Policeyrechts innerhalb des Fächergefüges mit sich: Denn definierte man das Privatrecht als die Summe der Normen, die die Beziehungen der Individuen untereinander regelten, und betrachtete man es als ein unabhängig von jeder staatlichen Gesetzgebung entstehendes, sozusagen „staatsfreies“, sei es schon in der unveränderlichen Natur des Menschen angelegtes, sei es vom „Volksgeist“ gewohnheitsrechtlich erzeugtes Recht, dann hatte das Polizeirecht dort keinen Platz mehr.[132] Es wurde nun – zusammen mit dem Staatsrecht, in dem sich die Tradition des Ius Publicum fortsetzte – dem neuen Oberbegriff des „öffentlichen Rechts“ zugeordnet.[133]

 

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Policey und Konstitutionalismus

Gleichzeitig wurde es üblich, an Stelle von „Polizeirecht“ vom „Verwaltungsrecht“ oder „Administrativrecht“ zu sprechen. Vielfach wurde nun systematisch zwischen Constitutionsrecht und Administrativ- bzw. Verwaltungsrecht unterschieden. Auch hier war der württembergische Staatsrechtler und Politiker Robert von Mohl führend: Sein zweibändiges „Staatsrecht des Königreichs Württemberg“ (1829/31) ging als eines der Ersten von einer derartigen systematischen Gegenüberstellung aus.[134] Das Wort „Policey“ in seinem alten Sinne war mit dem rechtlichen und politischen Denken des Konstitutionalismus nicht mehr kompatibel, denn in der „Policey“ waren gesetzgebende und vollziehende Funktion noch ungetrennt zusammengeschlossen. Auf die Unterscheidung zwischen Gesetzgebung und Verwaltung kam es aber im konstitutionellen Staat entscheidend an: Staatliches Handeln sollte, soweit es nicht in Gesetzgebung oder Rechtsprechung bestand, gesetzesgebunden sein und eben diese Forderung wurde mit der Gegenüberstellung von Gesetzgebung und Verwaltung zum Ausdruck gebracht: Im letzteren Fall ist der Staat an die Gesetze, im ersteren Fall – bei der Gesetzgebung – ist er hingegen an die Zustimmung der Volksvertretung gebunden, die auf diese Weise die Individualrechtssphäre der Bürger rechtlich einhegen kann.