Handbuch des Verwaltungsrechts

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1. Der Hofrat als Herrschaftsorgan auf der Zentralebene

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Der Hofrat: Entstehung, Zusammensetzung

Die zentrale Regierungs- und Verwaltungsinstitution der deutschen Territorien waren ursprünglich die als Kollegium formierten „Hofräte“, die sich ausgangs des Mittelalters um die Person des Fürsten zu bilden und in der Folge allmählich institutionell zu verfestigen begannen zu einem regelmäßig zusammentretenden Gremium mit kontinuierlichem Mitgliederbestand, reguliertem Verfahren und erkennbarem institutionellem Eigengewicht gegenüber dem persönlichen Regiment des Fürsten.[47] Sie waren zu Beginn der Neuzeit regelmäßig die oberste, unmittelbar dem Fürsten zugeordnete Regierungs- und Verwaltungsinstanz, organisiert nicht nach dem Ressortprinzip, sondern nach dem für die vormodernen Verwaltungsgremien typischen Kollegialprinzip, bei dem sämtliche Mitglieder des Gremiums für alle Sachentscheidungen zuständig waren und gemeinsam in allen Angelegenheiten entschieden. Zunächst stammten die Räte nahezu ausschließlich aus dem Prälaten- und Ritterstand;[48] mit dem Beginn der Neuzeit finden sich zunehmend auch bürgerliche Vertreter im Rat, denen die juristische Qualifikation den Zugang in das höchste Regierungsorgan eröffnet hat. Der regelmäßige persönliche Vorsitz des Landesherrn im Rat trat im Laufe des 16. Jahrhunderts zurück; statt seiner führte seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts der Kanzler oder der Hofmeister den Vorsitz. Im 18. Jahrhundert trat dann an dessen Stelle der Hofratspräsident.

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Hofrat: Zuständigkeit

Der Rat erledigte im Prinzip die gesamten Regierungs- und Administrationsaufgaben, soweit sie nicht vom Fürsten persönlich wahrgenommen wurden. Er hatte demzufolge keinen abgrenzbaren Zuständigkeitsbereich im modernen Sinne, vielmehr stand er dem Fürsten ganz generell bei der Regierung und der Ausübung seiner landesherrlichen Rechte und Befugnisse zur Seite und regierte selbst, wo das persönliche Regiment des Landesherrn – etwa im Falle der Abwesenheit oder fürstlichen Desinteresses – endete.

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Hofrat als Justizinstanz

Das aber bedeutet: Die Funktion der Räte war – ganz in Entsprechung zum Grundcharakter der Politik dieser Zeit – weitgehend jurisdiktionell bestimmt. Ihr Tätigkeitsprofil hob sich nur schwach von demjenigen eines territorialen Obergerichts ab. Das ergibt sich schon daraus, dass das „Regieren“ auch im 16. Jahrhundert noch sehr stark bestimmt war von der Sorge um eine funktionierende Justiz, der Wahrung und Sicherung des Rechts und der Ausübung jurisdiktioneller Funktionen und Kompetenzen. Demgemäß waren die Räte in der Regel zugleich auch ein zentraler Teil der Justizorganisation: Sie fungierten häufig als oberste territoriale Gerichtsinstanzen vor allem auch der Strafrechtspflege, aber auch in Zivilsachen, den „bürgerlichen“ Rechtsstreitigkeiten.[49] Von den Gerichten unterschieden sich die Räte in erster Linie dadurch, dass sie neben den Justizsachen auch für die Policeysachen zuständig waren, denn in den Räten wurden die Policeyordnungen konzipiert und beraten und deren Bekanntmachung und Durchsetzung durch die Verwaltungsinstitutionen vor Ort überwacht. Die beiden Funktionen – diejenige der Rechtsprechung einerseits und der Gesetzgebung einschließlich der Durchsetzungs- und Sanktionierungsfunktion andererseits – blieben bis zum Ende des 18. Jahrhunderts auch innerhalb des jeweiligen Hofrates ungeschieden.[50]

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Geheimer Rat

Der stark justizielle Grundzug dieser ältesten Spitzenbehörden hat sich im 17. und 18. Jahrhundert im Zuge der allmählichen Ausdifferenzierung des Behördeninstrumentariums durch Ausgliederung einzelner Zuständigkeiten aus dem Hofrat und Gründung spezieller Verwaltungsgremien sogar noch verstärkt. Vor allem dort, wo es im 17. Jahrhundert zur Einrichtung „Geheimer Räte“ kam, die dann die Rolle des obersten politischen Organs und Gesetzgebungsgremiums übernahmen,[51] blieb dem Hofrat lediglich die Funktion des obersten fürstlichen Gerichts.[52] Umgekehrt waren die „Geheimen Räte“ schon viel weniger für die Rechtsprechung in Parteihändeln, sondern in erster Linie für die „Geheimen Sachen“ zuständig; das waren vor allem Angelegenheiten der Außen-, Militär- und Finanzpolitik.[53]

2. Dezentrale Verwaltung in Amtssprengeln

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Untere Verwaltungsebene

Die Funktionsträger der Verwaltung auf der unteren, örtlichen Ebene wurden unterschiedlich bezeichnet; verbreitet war die Bezeichnung „Amtmann“ oder „Vogt“. Als Stellvertreter des Landesfürsten sollten sie die Hoheitsrechte ihres Dienstherren in ihren lokalen Amtssprengeln ausüben, auf die Einhaltung der Policeynormen achten und Verstöße in einem gerichtsförmigen Verfahren bestrafen.[54] Sie verkörperten die Herrschaft des Landesfürsten innerhalb des ihnen jeweils zugewiesenen Amtssprengels, weil der Herr selbst nicht überall gleichzeitig sein und die ihm zustehenden Rechte wahrnehmen konnte. So lag die zentrale Aufgabe des Amtmannes auch in der Frühen Neuzeit immer noch darin, die Rechte des Herrn durch kontinuierliche Ausübung zu wahren und Versuchen ihrer Beeinträchtigung und Schmälerung im Wege der Selbsthilfe oder auf dem Rechtswege entgegenzutreten. Die älteste und zentrale Funktion des Amtmannes hatte also mit moderner „Verwaltung“ im Sinne eines Gesetzesvollzugs nichts zu tun, sondern war im Kern die Stellvertretung des Herrn. Zu dessen Rechten zählte im Mittelalter ganz wesentlich die Gerichtsbarkeit, sodass die Rechtspflege von Anfang an auch zu den Kernfunktionen des Amtmannes gehörte. Zu einem Vollzugsorgan im eigentlichen Sinne wurde der Amtmann erst mit der seit dem ausgehenden Mittelalter breiter werdenden Gesetzgebungstätigkeit der Territorien, denn diese Gesetze mussten jetzt „vollzogen“ werden. „Vollzug“ war dabei gleichbedeutend mit Kontrolle und Sanktionierung von Gesetzesverstößen. Der Amtmann wurde auf diese Weise zu einem ausführenden Organ, welches die normativen Entscheidungen der Zentrale vor Ort durchzusetzen suchte, indem es deren Einhaltung überwachte. Umgekehrt berichtete der Amtmann der Zentrale über erhebliche Vorgänge in seinem Amtssprengel, stellte also ganz wesentlich auch ein Wahrnehmungsorgan der Regierung dar, durch das die Vorgänge im Lande, die irgendwelcher Gegenmaßnahmen bedurften, registriert werden konnten.

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Patrimonial-/Grundherrschaftliche Verwaltung

In den meisten Territorien war das Netz der über das Land gelegten lokalen Amtssprengel allerdings sehr stark durchsetzt von den „Immunitäten“ der intermediären Gewalten, in denen die Verwaltung den jeweiligen Inhabern adeliger oder kirchlicher Grund- und Ortsherrschaften zustand. Die Verwaltung wurde hier von den Organen der intermediären Gewalten, den Inhabern der feudalen Herrschaftsbildungen („Grundherrschaft“/„Ortsherrschaft“/„Unterherrschaft“) ausgeübt. Die Stellung dieser Feudalherrschaften hing von der Machtstellung und dem Einfluss der Stände im jeweiligen Territorium ab: Je stärker die Stände, desto geringer die landesfürstlich-staatlichen Kompetenzen in den Immunitäten, d. h. den Orts- und Grundherrschaften des landsässigen Adels und ggf. der Prälaten.[55] Im 18. Jahrhundert war der Staat dann allerdings im Zeichen eines absolutistischen Politikstils vielfach darum bemüht, die feudalen Grund- und Ortsherrschaften zumindest einer verstärkten Kontrolle zu unterwerfen. In Österreich etwa wurden zu diesem Zweck die sog. „Kreisämter“ als neue Unterbehörden eingerichtet, die die staatliche Herrschaft vor Ort auch außerhalb der landesfürstlichen Grundherrschaften geltend machen konnten.[56]

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Kommunale Selbstverwaltung

Nicht unerwähnt bleiben darf hier aber die teils höchst bedeutsame Rolle der Kommunen innerhalb des territorialen Verwaltungsaufbaus: Vor allem in den westlichen Territorien, insbesondere im Südwesten des alten Reiches, war die untere staatliche Verwaltungsebene eng verzahnt mit den Organen kommunaler „Selbstverwaltung“ dörflicher oder städtischer Gemeinden.[57] So waren etwa die badischen „Vögte“ die Beamten der unteren staatlichen Verwaltungsebene, der sog. „Vogteien“. Letzteren kam aber zugleich auch die Eigenschaft einer kommunalen Genossenschaft zu, sodass der Vogt auch als kommunaler Amtsträger betrachtet werden konnte.[58] Vor allem die städtischen Kommunen stellten vielfach noch in der Frühen Neuzeit Immunitäten dar, an deren Grenzen die Kompetenzen der staatlichen Behörden endeten. Hier bildeten Bürgermeister und Rat die lokale Gewalt unter einer teils nur sehr dünnen Schicht staatlicher Herrschaftsrechte. Der Staat war im 18. Jahrhundert auch hier bestrebt, die kommunale Autonomie Stück für Stück zu beschneiden oder zumindest stärker zu kontrollieren; die Kommunalaufsicht wurde zu einem wichtigen Regelungspunkt einer Policey im Stile des Absolutismus, mit freilich ganz unterschiedlichem Erfolg je nach Durchsetzungsfähigkeit des Fürsten gegenüber den Ständen.

3. Provinziale Zwischenebene

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Dreistufiger Verwaltungsaufbau

In den großen Territorien, wie etwa in der preußischen Länderverbindung der Hohenzollern oder in der Habsburgermonarchie, hat sich zwischen der zuletzt genannten unteren Verwaltungsebene und den zentralen Verwaltungsinstitutionen der „Räte“ eine mittlere provinziale Verwaltungsebene herausgebildet. Dies war entscheidend bedingt durch den Umstand, dass es sich bei den großen Territorien um zusammengesetzte dynastische „Konglomeratstaaten“ handelte, die durch Verbindung vormals eigenständiger Territorien in der Hand eines Landesherrn oder zumindest einer Dynastie entstanden sind. Bei der Eingliederung der einzelnen Länder in den dynastischen Länderkomplex des Großterritoriums wurden deren Verwaltungsinstitutionen in der Regel mitübernommen. Das Länderkonglomerat wurde dabei zunächst ausschließlich durch die Person des gemeinsamen Landesfürsten zusammengehalten; erst im 17. Jahrhundert entstanden dann neuartige Zentralbehörden, deren Zuständigkeit sich auf die gesamte Länderverbindung erstreckte. In Preußen war dies der im 17. Jahrhundert installierte Geheime Rat. In der Habsburgermonarchie kam es hingegen erst im 18. Jahrhundert im Zuge der theresianischen Behördenreformen zur Ausbildung solcher zentralen Verwaltungsinstanzen, die die einzelnen Länder des Konglomeratstaates durch ihre das Gesamtreich umfassende Zuständigkeit zu einem Einheitsstaat integrieren konnten; hier ist vor allem das 1749 begründete „Directorium in publicis et cameralibus“[59] zu nennen.[60] Die Verwaltungsinstitutionen, die vormals an der Spitze der einst eigenständigen „Länder“ des Gesamtstaates gestanden hatten, wurden dadurch zu Mittelinstanzen unterhalb der neuen gesamtstaatlichen Zentralbehörden. In Preußen trugen sie die Bezeichnung „Regierung“ (in Österreich: „Regiment“); sie waren die Nachfolgeinstitutionen jener älteren Räte/Hofräte, wie sie in der Frühen Neuzeit in allen Territorien existiert hatten. In Preußen verloren sie im 18. Jahrhundert ihre Verwaltungskompetenzen mehr und mehr an die neu instituierten Kriegs- und Domänenkammern[61] und nahmen dadurch allmählich den Charakter reiner Justizorgane an; in Österreich wurden sie im 18. Jahrhundert durch neue Behörden, die sog. „Gubernien“ ersetzt.[62] Allerdings war in den großen zusammengesetzten Territorien mit dreistufigem Verwaltungsaufbau die untere, lokale staatliche Verwaltungsebene nur vergleichsweise schwach ausgebildet. Dies wiederum hing mit der ausgeprägten Machtstellung der Landstände in solchen Territorien zusammen. Landesfürstliche, also „staatliche“ Verwaltung auf der unteren, lokalen Ebene gab es hier nur dort, wo sich auch die Grund- und Ortsherrschaft in der Hand des Landesherrn befand, wo es sich also um sog. „Kameralherrschaften“[63] handelte. Die untere Verwaltungsebene stellt hier einen Annex zur Grundherrschaft dar; die Beamten waren zugleich auch Verwalter der umfangreichen landesherrlichen Domänen.

 

4. Sonderbehörden

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Sonderbehörden: Kammern

Erste, schon früh sachlich und personell vom Hofrat unabhängige Sonderbehörden mit funktional begrenztem speziellem Aufgabenbereich waren die sog. „Kammern“. Die fürstliche Kammer war mit der Verwaltung des fürstlichen Grundbesitzes und der Regalien betraut und machte die Besteuerungs- und sonstigen Abgabeneinzugsrechte des Fürsten geltend.[64] Wie die Regalien – bedeutsam waren hier vor allem das Forst- und Bergwerksregal – so gehörten auch die Domänen in die engere Sphäre unmittelbarer, verdichteter Herrschaft des Fürsten, die vom Einfluss der Stände freigehalten werden sollte. Demgemäß sollte in dieser Sphäre auch nicht der Rat zuständig sein. Vielmehr sollten hier die Entscheidungen dem Fürsten selbst vorbehalten bleiben.[65] Denn der Rat war eine auf das „Land“ bezogene und daher auch eng mit den Ständen verbundene Regierungsinstitution, dessen Kompetenz in einer dem fürstlichen „Haus“ zugeordneten Rechtssphäre enden musste. Aus den Kammern entwickelte sich eine eigene, neben den Institutionen der allgemeinen Verwaltung stehende staatliche Finanzverwaltung mit nachgeordneten Bediensteten vor Ort, vielfach „(Amts)kell(n)er“ genannt, die dann hauptsächlich für den Einzug, die Verrechnung und die Verwaltung der Steuern und Abgaben zuständig waren; „Kammersache“ war daher noch in der ganzen Frühen Neuzeit ein Synonym für „Finanzangelegenheit“.[66] In vielen Territorien – am konsequentesten wurde dies in Preußen vollzogen – ging die „Policey“, also die Zuständigkeit für die allgemeine Verwaltung, von den älteren „allgemeinen Verwaltungsbehörden“, dem Rat und den ihm nachgeordneten lokalen Amtsträgern, auf die „Kameralverwaltung“ über, sodass den Räten vielfach nur noch die Justizangelegenheiten verblieben.[67]

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Sonderbehörden für Kirchen- und Religionsangelegenheiten

Zwei weitere, im Laufe der Frühen Neuzeit entstehende Sonderbehörden dürfen nicht unerwähnt bleiben: Neue Ratsgremien für die Belange der Kirche bzw. der Religion und für das Kriegswesen. So entstand etwa im Herzogtum Bayern 1556 ein Geistlicher Rat, 1583 der Hofkriegsrat.[68] In den protestantischen Territorien waren es die Konsistorien, die als die obersten territorialen Kirchenbehörden für die nunmehr dem staatlichen Regiment unterfallenden geistlichen Angelegenheiten zuständig wurden.[69] Auch hier gab es in Gestalt der „Superintendenten“[70] oder der „Kircheninspektoren“[71] so etwas wie einen eigenen „Verwaltungsunterbau“. Die Ausgestaltung dieser neuen Einrichtungen war im Einzelnen je nach Territorium und Konfession unterschiedlich, ganz generell lässt sich jedoch sagen, dass es neben der Kameralverwaltung der Bereich von Kirche und Bildung war, wo sich die ersten Sonderbehörden von der allgemeinen Landesverwaltung abspalteten und ein signifikantes Wachstum des staatlichen Behördenapparates zu verzeichnen ist. Unverkennbar hat der Territorialstaat des 16. Jahrhunderts an diesem Punkt seine Kräfte in besonderer Weise angespannt.[72] Die Verschriftlichung und Bürokratisierung des Verwaltungshandelns[73] im 16. Jahrhundert ist gerade in der Kirchen- und Pfarreiorganisation besonders ausgeprägt zu beobachten:[74] Zur Verrichtung der Kasualien entstand damals so etwas wie eine registrierende Buchführung, in der die geistlich betreuten Gemeindeglieder verzeichnet wurden: Tauf-, Firmungs-, Trauungs- und Totenbücher wurden angelegt,[75] sodass die Pfarrangehörigen im Laufe ihres Lebens in der Regel mehrfach statistisch erfasst wurden.

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Sonderbehörden: Militärbehörden

Für die gleich nachfolgend behandelte Umorganisierung des Behördenwesens im Zeichen des Absolutismus sollten dann aber vor allem die neuen Militärbehörden wichtig werden, wie sie seit dem 17. Jahrhundert in denjenigen Territorien entstanden, die zum Aufbau eines stehenden Heeres in der Lage waren. Paradefall war hier wiederum Preußen, wo im 17. Jahrhundert unter dem Großen Kurfürsten mit der Kommissariatsverwaltung eine eigene Militärorganisations- und zugleich Steuereinzugsbehörde entstand, die dann im 18. Jahrhundert unter Friedrich Wilhelm I. mit der Kameralverwaltung verschmolzen und zugleich zu einer allgemeinen Verwaltungsbehörde ausgebaut wurde.

II. Die Umstellungen der Behördenorganisation im Laufe des 18. Jahrhunderts

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Neustrukturierung der Verwaltung

In den größeren Territorien des Reichs kam es seit dem Ende des 17. Jahrhunderts zu einer tiefgreifenden Umformung und Neustrukturierung des Behördengefüges durch Aufbau eines neuen Behördenzweiges, der dem überlieferten Institutionengerüst zur Seite gestellt wurde. Am konsequentesten geschah dies ohne Zweifel in Preußen, denn hier wurden die neuen Behörden dann auch mit dem Policeywesen betraut; sie übernahmen damit also im Wesentlichen auch die allgemeine Verwaltung.[76] In Preußen waren es die sog. Kriegs- und Domänenkammern, die dort zu Beginn des 18. Jahrhunderts unter Friedrich Wilhelm I. auf der Basis der bereits vorhandenen Kameral- und Kommissariatsverwaltung aufgebaut worden waren.[77] Das Kommissariat war etwa in der Mitte des 17. Jahrhunderts zusammen mit den Anfängen eines stehenden Heeres als zivile Militärverwaltungsbehörde zur Beaufsichtigung, Besoldung, Verpflegung und Einquartierung der Soldaten geschaffen worden.[78] Typisch für die brandenburgische Verwaltungsgeschichte ist es nun, dass dort die älteren Funktionen der Kammern und der Kommissariate, also die Domänen-, Regalien-, Finanz- und Militärverwaltung allmählich mit dem Pflichtenkreis einer allgemeinen Verwaltungsbehörde verbunden wurden.[79] Friedrich Wilhelm I. fasste dann im Jahre 1723 Kammern und Kommissariate zusammen.[80] Aus dieser Verbindung erwuchs das Generaldirektorium – die neue oberste Regierungs- und Gesetzgebungsinstanz für alle Länder der preußischen Monarchie mit den Kriegs- und Domänenkammern als ihren nachgeordneten Provinzbehörden, die ihrerseits wieder über ein vergleichsweise breit ausgefächertes Arsenal lokal wirksamer Amtsträger verfügen konnten.[81] Die Kammern als allgemeine Verwaltungsbehörden – darin lag zugleich ein Programm: Die gesamte Verwaltung wurde hier in den Dienst der Vermehrung der Staatseinnahmen als oberstes Verwaltungsziel gestellt. Das in Österreich 1749 als reichsweite Spitzenbehörde installierte „Directorium in publicis et cameralibus“ stellt eine Parallele zum preußischen Generaldirektorium dar.

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Neues Funktionsprofil

Von den älteren Institutionen der Verwaltung[82] unterschied sich das Funktionsprofil dieser neuartigen Verwaltungsbranche demgemäß vor allem dadurch, dass hier das Gewicht der justiziellen Tätigkeit deutlich geringer ausfiel, da sich nun die ökonomischen Zielsetzungen ganz in den Vordergrund schoben. Nicht, dass die justizielle Komponente gänzlich gefehlt hätte, aber diese wurde nun zum bloßen Annex zur eigentlichen Hauptfunktion der neuen Behörden und das war die kameralistisch verstandene Policey: Die Kammern sollten in erster Linie „verwalten“ und dem kameralistischen Verwaltungsverständnis gemäß bedeutete dies: Sie sollten für wachsende Staatseinkünfte sorgen, sich aber nicht um die Pflege der Justiz kümmern.

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Kammerjustiz

Allerdings konnten die Kriegs- und Domänenkammern hier nur erfolgreich sein, wenn ihnen die ordentlichen Justizinstitutionen nicht ständig dazwischentraten, indem sie das Verwaltungshandeln am überlieferten Normenbestand – dem Gemeinen Recht und den partikularen Gewohnheitsrechten – maßen, die beide in keiner Weise mit den neuen, ökonomisch ausgerichteten Verwaltungszielen kompatibel waren. Dies ist der Hintergrund der im 18. Jahrhundert stark diskutierten Kammerjustiz, die in Preußen eine bedeutende Rolle spielte,[83] aber durchaus auch in vielen anderen Territorien anzutreffen war. Es ging dabei um die Frage, ob und inwieweit Regierung und Verwaltung, also die „Policey“, von den Behinderungen und Bindungen gerichtlicher Kontrolle freigestellt werden sollten. In diesen Zusammenhang gehört auch die Debatte um die Justiziabilität von Policeysachen: Bei der Kammerjustiz wurden Streitigkeiten auf bestimmten, policeylich relevanten Sachgebieten von den Kammern miterledigt, weil sie, wie es etwa im preußischen Ressortreglement von 1749 heißt, „ohne Administrierung der Justiz ihrem Officio (k)ein Genügen leisten“ könnten.[84] Streitentscheidung und Sanktionierung waren hier nur noch Hilfsfunktionen, die die eigentliche, nichtjustizielle Verwaltungstätigkeit vor den Behinderungen seitens der Justiz abschirmen sollten.

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Abgrenzung zur ordentlichen Justiz

Tatsächlich entzogen die preußischen Kriegs- und Domänenkammern der überkommenen „ordentlichen Justiz“ im Laufe der Zeit in beträchtlichem Umfang auch Rechtsprechungskompetenzen[85] – ein Vorgang, der insbesondere von Seiten der Stände scharf kritisiert wurde, weil man von dieser Seite nicht völlig zu Unrecht befürchtete, dass die ganz auf die Interessen des Monarchen eingeschworenen Kammern nicht in gleicher Weise Recht sprechen würden, wie die den Ständen in der Regel auch personell viel näher stehenden „Regierungen“ oder die altüberlieferten Jurisdiktionsinstanzen.[86] Es kam noch hinzu, dass sich die Zuständigkeitsabgrenzung der Kammerjustiz von der durch die traditionellen Gerichtsinstanzen ausgeübten ordentlichen Justiz, allen geradezu massenhaft erlassenen Zuständigkeitsreglements zum Trotz, vielfach als unsicher erwies, was aber die Kammern nicht selten nur in dem Streben nach Ausdehnung ihres Zuständigkeitsterrains bestärkte.[87] Dem Grundsatz nach sollten die Kammern nur in solchen Sachen judizieren, die „den Statum Ökonomicum et Politicum“ angehen oder „überhaupt in das Interesse Publicum einschlagen“, wie es in dem genannten preußischen Ressortreglement von 1749 formuliert war.[88] Umgekehrt sollten „alle Prozeßsachen, welche lediglich das Interesse privatum vel jura partium“ betreffen „bei denen ordentlichen Justiz-Collegiis dezidieret werden.“ Diese Unterscheidung entsprach in etwa der zeitgenössischen Differenzierung zwischen Policey- und Justizsachen. Der „Status Ökonomicum et Politicum“ war regelmäßig dann betroffen, wenn eine zu entscheidende Sache nicht nur nach „den Rechten“, also dem Gemeinen Recht und den überlieferten Partikularrechten, sondern zumindest auch nach den Policeyordnungen des Landes zu beurteilen war.[89] Es war dies also eine ganz andere Unterscheidung als bei der heute vorgenommenen Differenzierung zwischen öffentlichem und privatem Recht.[90] Zwar waren hier primär Streitigkeiten zwischen Staat und Untertanen angesprochen, aber der „Status Ökonomicum et Politicum“ konnte durchaus auch in einem Streit zwischen Privaten betroffen sein. Entscheidend für die Zuständigkeit der Kammern als gerichtliche Instanz sollte einzig der Gesichtspunkt sein, ob und inwieweit der Streitgegenstand policeylich geregelt war. Waren in einem bestimmten Fall neben „den Rechten“ irgendwelche im weitesten Sinne policeylichen Gesetze einschlägig, dann durfte die zu entscheidende Sache – jedenfalls den Intentionen des preußischen Gesetzgebers nach – nicht, oder zumindest nicht ausschließlich, der ordentlichen Gerichtsbarkeit überlassen bleiben und zwar auch dann nicht, wenn es sich um eine Parteisache ohne direkte Beteiligung des Staates handelte.

 

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Verwaltungsgeschichtliche Kontinuität in kleineren Territorien

Die neuartige ökonomische Ausrichtung von Politik und Verwaltung, wie sie seit dem Ende des 17. Jahrhunderts zu verzeichnen war,[91] hat freilich in erster Linie in den größeren Territorien Platz gegriffen, wurde aber umgekehrt in vielen kleineren oder von einem stärker konservativen Regierungsstil geprägten Territorien kaum wirksam.[92] Die Policeygesetzgebung blieb hier von den neuen ökonomisch-kameralistischen Ordnungsvorstellungen vielfach unberührt. Prägend blieb vielmehr ein älteres Ordnungsdenken, das – ohne die Perspektive bewusster Neugestaltung der sozialen und ökonomischen Strukturen – auf die Beseitigung einzelner Missstände durch gegensteuernde Normsetzung ausgerichtet war.

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Beispiel Kurköln

Als Beispiel mag hier ein bedeutendes geistliches Territorium dienen: der Kirchenstaat der Kölner Erzbischöfe und Kurfürsten, das „Erzstift“. In der Verwaltungsgeschichte dieses Territoriums überwog die Kontinuität bei weitem. Weder die Gesetzgebung noch die Anordnung der Verwaltungsinstitutionen zeigt hier jene Ausrichtung auf die „Wirtschaftsförderung“, wie sie besonders im Preußen des 18. Jahrhunderts zu beobachten ist.[93] Die oberste Policeybehörde im Erzstift, der Hofrat, folgte auch im 18. Jahrhundert noch weitgehend dem traditionellen policeylichen Ordnungsdenken. Mit diesem ganz traditionellen Standpunkt ist es auch in Verbindung zu bringen, dass die oberste kurkölnische „Policeybehörde“ mit dem ganz überwiegenden Teil ihrer Arbeitsressourcen ein Justizorgan blieb. Eine deutlichere institutionelle Trennung von Justiz und Policey ist demgemäß in Kurköln bis zum Ende des geistlichen Staates im Jahre 1802 ausgeblieben. Die Behördenstrukturen im geistlichen Kurstaat des Erzbischofs von Köln wiesen daher keine speziellen Policeybehörden auf, die erst im Hinblick auf neu entstandene policeyliche Aufgaben begründet worden wären, wie dies beim preußischen „Generaldirektorium“ und den ihm nachgeordneten Kriegs- und Domänenkammern der Fall war.[94] Nur ansatzweise finden sich im 18. Jahrhundert – allerdings nur auf der obersten Ebene – Ansätze einer funktionalen Differenzierung, bei der sich justizielle und policeyliche Funktionen von einander abschichteten. Eine solche Tendenz trat beispielsweise in dem Umstand zutage, dass im kurkölnischen Hofrat ab 1788 eine getrennte Beratung von Justiz- und Verwaltungsangelegenheiten eingeführt wurde. Von da an waren für „Verwaltungsgeschäfte und Rechtsprechungstätigkeit“ jeweils getrennte Protokolle zu führen. In diesen Zusammenhang gehören auch die beiden „Policeykommissare“ innerhalb des Hofrates: Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts trugen zwei Hofräte die Funktionsbezeichnung „Polizeikommissar“; ihre spezielle Aufgabe bestand darin, in besonderer Weise darauf zu achten, dass überall gute Policey herrschte. In erster Linie ging es hierbei darum, möglichst effektiv über die Einhaltung der Policeygesetze zu wachen und die Verstöße zu melden; ganz besonders hatten sie dabei ihr Augenmerk auf die örtlichen Beamten und Magistrate zu richten, damit diese ihrerseits eifrig und konsequent genug auf die Einhaltung der Policeyverordnungen achteten. Die Policeykommissare dienten also gleichermaßen als zentrale policeyliche Bußeninstanz wie als Kontrollinstanz über die policeyliche Aktivität des Apparates. Gleichzeitig kam ihnen aber darüber hinaus die Aufgabe zu, ganz allgemein auf die gute Ordnung im Lande zu achten.

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Kammerjustiz in Kurköln

Auch in Kurköln hat es nicht an Versuchen der Hofkammer gefehlt, aus der Funktion einer reinen Kassen- und Wirtschaftsverwaltung des Fürsten hinauszuwachsen und policeyliches Kompetenzterrain zu besetzen. Derartiges war in den allermeisten Territorien des 18. Jahrhunderts zu beobachten – die kurkölnische Kammer machte hier keine Ausnahme. Der Grundtendenz nach versuchte sie, sich in die Position einer Policeybehörde zu drängen und den Hofrat auf die Justizsachen zu verweisen. So begann die Hofkammer beispielsweise damit, das Gesetzgebungsmonopol des Hofrates aufzubrechen, indem sie selbst unter Umgehung des Hofrates Befehle und Mandate erließ, ohne solche Maßnahmen mit dem Rat abzusprechen oder zu koordinieren. Daraus erwuchs ein Dauerkonflikt mit dem Hofrat, der nicht bereit war, sich seine tradierten policeylichen Kompetenzen und Zuständigkeiten von der Hofkammer entwinden zu lassen.[95] Hintergrund solcher für die Verwaltungsgeschichte der deutschen Territorien typischen Konflikte waren die üblichen Auseinandersetzungen zwischen Landesfürst und Ständen. Die Kammern verstanden sich dabei ihrem Selbstverständnis nach häufig als die Interessenvertretung des Fürsten; die Kammern suchten demgemäß den Einfluss des nicht selten von den Ständen dominierten Rates zurückzudrängen. In den meisten Territorien, zumal in denjenigen unter geistlicher Landesherrschaft, waren diese Versuche aber insgesamt betrachtet wenig aussichtsreich; auch in Kurköln blieben sie ohne weiterreichende Konsequenzen. Denn in der Regel blieben die Landstände stark genug, um sich einer grundlegenden Umgestaltung des administrativen Institutionengefüges und der Kompetenzverteilung zugunsten der fürstlichen Kammerverwaltung entgegenzustemmen.