Handbuch des Verwaltungsrechts

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

2. Auswirkungen auf nationale Präklusionsvorschriften

52

Präklusion

Zur Beseitigung von Beschränkungen des Rechtsschutzes hat auch die Diskussion über die Präklusion geführt. Mit der im Zentrum stehenden materiellen Präklusion subjektiver öffentlicher Rechte ist ein umfassender Einwendungsausschluss verbunden, der nicht nur (wie bei der formellen Präklusion[272]) für das Verwaltungsverfahren gilt, sondern sich auch auf das gerichtliche Verfahren erstreckt. Im Anwendungsbereich des Unionsrechts hat der Gerichtshof die Figur der materiellen Präklusion differenziert gewürdigt. Einerseits erklärte er die Regelungen in § 2 Abs. 3 UmwRG und § 73 Abs. 4 S. 3 VwVfG für unvereinbar mit den in Umsetzung von Art. 9 Abs. 2 der Aarhus-Konvention erlassenen Art. 25 IE-Richtlinie 2010/75/EU[273] und Art. 11 UVP-Richtlinie 2011/92/EU.[274] Andererseits betonte er, dass die nationale gesetzgebende Instanz spezifische Vorschriften etablieren kann, nach denen z. B. ein missbräuchliches oder unredliches Vorbringen unzulässig ist.[275] Im Fall Protect ging der EuGH dann im – weit gefassten – Anwendungsbereich von Art. 9 Abs. 3 der Aarhus-Konvention sogar von einer Zulässigkeit materieller Präklusionsregeln aus, sofern sie verhältnismäßig ausgestaltet und angewendet werden.[276] Diese Judikatur ist wiederum zugleich Ausdruck der zunehmenden Europäisierung wie des Respekts vor der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie.[277] Grundsätzlich unions- und völkerrechtlich unbedenklich ist im Übrigen eine innerprozessual wirkende Präklusion, die (wie § 6 UmwRG als Ausnahme von § 87b VwGO) den Zugang zum Gerichtsverfahren nicht schon a priori ausschließt.[278]

3. Rechtsbehelfs- und Klagefristen

53

Fristen

Rechtsbehelfs- und Klagefristen dienen der auch im EU-Recht anerkannten Rechtssicherheit. Sie sind im Rahmen der Prinzipien von Äquivalenz und Effektivität unionsrechtskonform.[279] In concreto ist daher insbesondere zu prüfen, ob die Ausübung des Unionsrechts durch Anwendung einer nationalen Fristenregel unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert wird. Für die Monatsfristen in § 70 Abs. 1 und § 74 Abs. 1 VwGO wurde dies von den nationalen Gerichten überzeugend verneint.[280] Etwas anderes gilt nur bei Vorliegen „besondere[r] Umstände“[281], wie sie im Fall Emmott vorlagen.[282] Dort war der Klägerin des Ausgangsverfahrens durch Ablauf der Klagefrist jedwede Möglichkeit genommen worden, ihren auf eine EU-Richtlinie gestützten Anspruch geltend zu machen.

4. Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt

54

Beurteilungszeitpunkt

Dem maßgeblichen Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage kann in der Praxis zentrale Bedeutung für den Erfolg eines Rechtsbehelfs zukommen. Die Verwaltungsgerichte haben dazu eine ausdifferenzierte Judikatur entwickelt, die gerade im Ausländerrecht den europarechtlichen Einwirkungen substanziell Rechnung trägt.[283] Dort wird auch maßgeblich auf die EMRK Bezug genommen, sodass ein Fall der Europäisierung i. w. S. vorliegt. Konkret entschied das BVerwG in Reaktion auf einschlägige EuGH-Judikatur[284] zunächst für freizügigkeitsberechtigte Unionsbürgerinnen und -bürger bzw. türkische Staatsangehörige im Besitz eines assoziationsrechtlichen Aufenthaltstitels, dass für die gerichtliche Überprüfung einer Ausweisung nicht mehr der Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung, sondern jener der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Tatsachengericht maßgeblich ist.[285] Im Lichte der EGMR-Judikatur, wonach mit Blick auf das Privat- und Familienleben gemäß Art. 8 EMRK auf den Zeitpunkt der letzten Entscheidung eines nationalen Gerichts abzustellen ist,[286] vollzog das BVerwG sogar einen vollständigen Kurswechsel. Nunmehr ist für die Rechtmäßigkeit einer Ausweisungsverfügung bei allen Ausländerinnen und Ausländern die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts maßgeblich.[287] In eine andere Richtung hat der EuGH dagegen für den Widerruf einer Arzneimittelzulassung entschieden und auf die Möglichkeit des Betroffenen verwiesen, einen neuen Antrag auf Genehmigung des Inverkehrbringens zu stellen.[288] In einer solchen Konstellation kann die gerichtliche Kontrolle auf den Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung abstellen.[289]

V. Öffentlichkeit des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens

55

Öffentlichkeit des Gerichtsverfahrens

Ein prägnantes Beispiel der Europäisierung i. w. S. bildet die Diskussion zur Öffentlichkeit des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens im Lichte des in Art. 6 Abs. 1 EMRK garantierten fair-trial-Grundsatzes.[290] Bedenken werden insoweit vor allem mit Blick auf das Institut des Gerichtsbescheids geäußert, der als urteilsvertretende Endentscheidung in allen erstinstanzlichen Klageverfahren ergehen kann. Nach Art. 6 Abs. 1 EMRK ist in jedem Fall zu gewährleisten, dass die Beteiligten in einer Instanz eine mündliche Verhandlung erreichen können.[291] § 84 VwGO gewährleistet dies, soweit gegen den Gerichtsbescheid zumindest fakultativ mündliche Verhandlung beantragt werden kann (Abs. 2 Nr. 2, 4 und 5).[292] Im Übrigen (Abs. 2 Nr. 1 und 3) bedarf es einer konventionskonformen Auslegung und Anwendung der prozessualen Bestimmungen.[293] Intrikat erscheint auch die Regelung in § 116 Abs. 2 VwGO, sofern sie für alle Instanzen nach Ermessen des Gerichts den Erlass des Urteils durch Zustellung an die Parteien ermöglicht. Eine solche Zustellung als Verkündungsersatz ist mangels allgemeinen Einsichtsrechts Dritter (§ 100 VwGO) keine öffentliche Kundmachung und mit Art. 6 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 EMRK nur vereinbar, wenn die Ersetzung der mündlichen Verhandlung an das Einverständnis der Parteien geknüpft wird.[294] Ausreichend erscheint es insoweit freilich, wenn das Gericht den Beschluss über die Zustellung nach § 116 Abs. 2 VwGO verkündet, ohne dass ein Widerspruch der (anwesenden) Beteiligten erfolgt.[295]

VI. Kohärenz des Systems des vorläufigen Rechtsschutzes

56

Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit

Ein praktisch höchst bedeutsamer Bereich der Europäisierung ist das System des vorläufigen Rechtsschutzes.[296] Die prozessualen Regelungen unterliegen einer Konformitätsauslegung im Lichte des Loyalitätsgebots aus Art. 4 Abs. 3 EUV. Im Einzelfall kann der Effektivitätsgrundsatz sogar zur Unanwendbarkeit nationaler Bestimmungen führen, die der Beachtung von unionsrechtlichen Verpflichtungen entgegenstehen. Auf dieser Linie hat der EuGH im Fall Tafelwein entschieden, dass eine deutsche Behörde den zur Durchsetzung einer bestandskräftigen Kommissionsentscheidung erlassenen Verwaltungsakt (nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO) selbst dann für sofort vollziehbar erklären muss, wenn die Voraussetzungen nach nationalem Recht nicht erfüllt sind.[297]

57

Einstweiliger Rechtsschutz

Des Weiteren ist das Interesse der Union auch dann einzustellen, wenn ein nationales Gericht die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs gegen einen Verwaltungsakt wegen Zweifeln an dessen unionsrechtlicher Rechtsgrundlage gemäß § 80 Abs. 5 VwGO anordnen bzw. wiederherstellen will. Paralleles gilt für den Erlass einstweiliger Anordnungen nach § 123 VwGO.[298] Der EuGH erkennt einerseits die Möglichkeit nationalen Eilrechtsschutzes an. Andererseits formuliert er in Anlehnung an seine Judikatur zu den Art. 278 f. AEUV restriktive Voraussetzungen, um die Kohärenz des Systems des vorläufigen Rechtsschutzes zu gewährleisten.[299] In diesem Sinne erweist sich das Kohärenzgebot als Mittel zur Sicherung einer einheitlichen und effektiven Anwendung und Umsetzung des Unionsrechts bei gleichzeitiger Wahrung der nationalen Verfahrensautonomie.[300] Ein nationales Gericht kann danach Eilrechtsschutz gewähren, wenn (1.) es erhebliche Zweifel an der Gültigkeit des einschlägigen EU-Rechtsakts hat und die Frage dem EuGH nach Art. 267 Abs. 1 lit. b AEUV vorlegt, (2.) die Dringlichkeit festgestellt werden kann, weil dem Antragsteller ein schwerer und nicht wiedergutzumachender Schaden droht sowie (3.) das Interesse der Union angemessen berücksichtigt wird.[301] Nicht zum Erlass vorläufiger Maßnahmen berechtigt sind nationale Gerichte allerdings in Fällen, in denen Einzelne auf unionsrechtlicher Grundlage einstweiligen Rechtsschutz gegen die Untätigkeit eines EU-Organs begehren. Die Kontrolle fällt insoweit in die exklusive Zuständigkeit der Unionsgerichtsbarkeit.[302]

58

Kritik

Aus der EuGH-Judikatur folgt eine Beschränkung der Möglichkeiten zur Aussetzung der Vollziehbarkeit und zum Erlass einstweiliger Anordnungen. Diese Rechtsprechungslinie stößt bis heute auf Kritik, wobei insbesondere kompetenzrechtliche Bedenken geäußert werden.[303] Selbst scharfe Stimmen im Schrifttum räumen aber ein, dass die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach EU-rechtlichen Maßstäben zur Normalität geworden ist.[304] Das BVerfG hat keine Bedenken geäußert, sondern vielmehr auf die besonders strengen Anforderungen hingewiesen, die auch innerstaatlich für die Aussetzung des Vollzugs von Gesetzen gelten.[305]

VII. Staatshaftung

59

Unionsrechtlicher Staatshaftungsanspruch

Im Zeitpunkt der Einführung aus kompetenzrechtlichen Gründen noch heftig umstritten,[306] erscheint die Entwicklung der Judikatur zum unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch heute – auch aufgrund der nachfolgenden Vertragspraxis – in milderem Licht.[307] Einzelnen wird mit der Staatshaftung ein unionsrechtlich determinierter Sekundärrechtsschutz gegen die nationale öffentliche Gewalt eröffnet. Die Einwirkungstiefe macht der Umstand deutlich, dass die vom Gerichtshof vorgesehene Haftung für legislatives und judikatives Unrecht[308] im deutschen Recht kein gleichwertiges Pendant findet.[309] Der EuGH formuliert einheitliche Anspruchsvoraussetzungen, die alle drei Gewalten gleichermaßen adressieren und kohärenzfördernde Parallelen zur Eigenhaftung der Union (Art. 340 Abs. 2 AEUV) aufweisen. Konkret wird vorausgesetzt, dass der Mitgliedstaat einen „hinreichend qualifizierten Verstoß“ gegen eine individualschützende Unionsrechtsnorm begangen hat, der sich als unmittelbar kausal für den Schaden der Betroffenen darstellt.[310]

 

60

Unterschiede zum deutschen Konzept

Kontrastierend zum Amtshaftungsanspruch nach § 839 BGB i. V. m. Art. 34 GG kennt der autonome (und daher auch auf Naturalrestitution gerichtete) unionsrechtliche Staatshaftungsanspruch[311] weder ein striktes Erfordernis der Drittgerichtetheit der Amtspflicht noch ein Verschuldenserfordernis (§ 276 BGB) oder ein Richterspruchprivileg (§ 839 Abs. 2 BGB). Gleichwohl ist nicht zu verkennen, dass der EuGH differenziert vorgeht und z. B. die Besonderheiten einer Staatshaftung für legislatives und judikatives Unrecht bei der Prüfung des hinreichend qualifizierten Verstoßes einbezieht.[312] Dies verdeutlicht die Köbler-Judikatur, wonach eine Haftung für Schäden aufgrund fehlerhafter Urteile letztinstanzlicher nationaler Gerichte nur bei „offenkundig[em]“ Verstoß gegen geltendes Recht bestehen soll.[313] Als Ausdruck des Respekts vor der nationalen Verfahrensautonomie bestimmen sich sowohl Umfang und Inhalt des Anspruchs als auch seine gerichtliche Durchsetzung – im Rahmen von Äquivalenz und Effektivität – nach nationalem Recht.[314]

G. Europäisierung als Prozess der Entkonstitutionalisierung

61

Verwaltungs- und Verfassungsrecht

Die Europäisierung fordert auch zur Neubestimmung des Verhältnisses von Verwaltungs- und Verfassungsrecht heraus. Hiermit ist die Frage nach Art und Umfang der Rezeption verfassungsrechtlicher Direktiven im Verwaltungsrecht adressiert. Eine Kontrastierung[315] der berühmten Zitate von Otto Mayer[316] und Fritz Werner[317] erscheint zwar aufgrund des unterschiedlichen zeitlichen Kontextes allzu simplifizierend.[318] Die übergeordnete Frage nach der Wirkmächtigkeit des Verfassungsrechts im Verwaltungsrecht bleibt aber elementar. Die Europäisierung spielt dabei aus zwei Gründen eine kaum zu überschätzende Rolle. Zum einen konnte (unter E. und F.) aufgezeigt werden, dass dem Unionsrecht ein wachsender Einfluss auf weite Teile des Verwaltungsrechts zukommt.[319] Hasso Hofmann und Michael Gerhardt deuten die fortschreitende Europäisierung gar als „De-“[320] bzw. „Entkonstitutionalisierung“[321]. Den Hintergrund dieser Beobachtungen bildet eine mit der Europäisierung verbundene Ebenendiffusion (I.). Zum anderen erweist sich die Europäisierung auch als Treiberin der Erkenntnis, wonach die Einwirkungen von Verfassungs- und Verwaltungsrecht wechselseitiger Natur sind. Im Schrifttum ist anschaulich von einer „[l]ernende[n] Beobachtung des Verwaltungsrechts durch das Verfassungsrecht“[322] oder der Europäisierung als „Anlass zur kritischen Selbstreflexion“ die Rede.[323] Sowohl die Europäisierung als auch eine hiermit verknüpfte Anerkennung der bidirektionalen Impulsfunktion sind Ausprägungen einer zunehmenden Verselbstständigung des Verwaltungsrechts. Inwieweit hieraus ein Bedeutungsverlust des Grundgesetzes resultiert oder sogar ein Bedeutungszuwachs sowohl im nationalen Verwaltungsrecht als auch als Muster auf EU-Ebene feststellbar ist, zählt zu den Gegenwartsfragen des Verwaltungsrechts (II.).

I. Ebenendiffusion durch Europäisierung

62

Immunisierung des Verwaltungsrechts

Die mit der Europäisierung verbundene Emanzipation des Verwaltungsrechts vom Verfassungsrecht wird durch eine in der Normenhierarchie wurzelnde Ebenendiffusion forciert.[324] Zwar werden die einfachgesetzlichen Vorschriften des Verwaltungsrechts grundsätzlich weiter am Maßstab des Grundgesetzes gemessen. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts führt aber zu einer gewissen Immunisierung der Institute und Regelungen gegenüber den verfassungsrechtlichen Vorgaben.[325] Fordern etwa EU-Richtlinien im Datenschutz-, Finanzmarkt-, Kartell- und Regulierungsrecht die Weisungsunabhängigkeit der nationalen Vollzugsbehörden, kann die einfachgesetzliche Umsetzung dieser Direktive – vorbehaltlich einer Aktivierung der Kontrollvorbehalte-Judikatur des BVerfG – nicht unter Verweis auf ein abweichendes nationales Demokratieverständnis verweigert werden. Setzt eine effektive Durchsetzung des EU-Beihilferechts die Rückforderung einer vertraglich gewährten Beihilfe durch vollstreckbaren Verwaltungsakt voraus, wird die im Vorbehalt des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG) wurzelnde Forderung nach einer spezifischen Verwaltungsaktbefugnis derogiert. Lässt die Verwaltung eine nationale Rechtsnorm wegen (vermeintlichen) Verstoßes gegen EU-Recht unangewendet, ergibt sich ein Spannungsverhältnis zum Vorrang des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG). Fordert schließlich der effet utile-Grundsatz eine Modifizierung der Regeln über die Aufhebung von Verwaltungsakten, droht ein Konflikt mit dem rechtsstaatlichen Gebot des Vertrauensschutzes. Diese Beispiele ließen sich vielfältig erweitern.[326]

63

Umkehrung der Normenhierarchie

Die mit einer Europäisierung verbundene Immunisierung des Verwaltungshandelns führt zu einer partiellen Umkehrung der Normenhierarchie. Das Verfassungsrecht hat nur noch insoweit Vorrang vor dem Verwaltungsrecht, als dieses nicht von unionalen Vorgaben überlagert wird. Hierin dokumentiert sich zugleich die mit der Europäisierung verbundene „doppelte Loyalität“ der Verwaltung.[327] Das Grundgesetz verliert seine Maßstabsfunktion, soweit zwingende Vorgaben des EU-Rechts eine bestimmte Ausgestaltung des nationalen Verwaltungsrechts fordern.[328] Dabei korrespondiert der Anwendungsvorrang des Unionsrechts in prozessualer Hinsicht mit einem „Vorrang der Fachgerichte im Verhältnis zum BVerfG“.[329] Die Analyse der Einwirkungsfelder (unter E. und F.) hat aber auch gezeigt, dass der EuGH die Eigenarten der nationalen Verwaltungsrechtsregime im Rahmen der primärrechtlichen Verfahrensautonomie berücksichtigt. Von einer die Identität des Grundgesetzes berührenden Degenerierung der verfassungsrechtlichen Impulse bei Sachverhalten mit Unionsrechtsbezug kann daher im Allgemeinen keine Rede sein.[330]

64

Partielle Verdrängung des Grundgesetzes

Als Ausfluss der Ebenendiffusion ist gleichwohl eine gewisse „Verdrängung der systemprägenden Leitbildfunktion“ des Grundgesetzes erkennbar.[331] Paradigmatisch hierfür steht die Ausdehnung der „Systementscheidung für den Individualrechtsschutz“ aus Art. 19 Abs. 4 GG[332] in Richtung einer Betonung der objektiven Kontrollaufgabe der Gerichte. Den unionsrechtlichen Reformimpulsen einen Verfallsbefund der Innovationskraft des Grundgesetzes gegenüberzustellen, erschiene indes angesichts der Dynamik auch der BVerfG-Judikatur unpassend.[333]

II. Bedeutungszuwachs der Verfassung qua Selbstreflexion und Ausstrahlung

65

Selbstreflexion

Die Ambivalenz der Europäisierung wird deutlich, wenn in den Blick genommen wird, dass damit neben einer partiellen Neutralisierung verfassungsrechtlicher Vorgaben auch gegenläufige Wirkungen verbunden sein können. Paradigmatisch hierfür stehen vier Bereiche, in denen der EuGH Bruchstellen des nationalen Verwaltungsrechts offengelegt hat, die bei kritischer Selbstreflexion auch aus verfassungsrechtlichen Gründen zu schließen wären.[334] Dies gilt erstens für die Judikatur zur mangelnden Umsetzungsgeeignetheit normkonkretisierender Verwaltungsvorschriften.[335] Richtigerweise steht auch die Verfassung der Setzung außenwirksamen Rechts durch Verwaltungsvorschriften entgegen.[336] Entsprechend ihrer systematischen Verortung in Art. 84 Abs. 2, Art. 85 Abs. 2, Art. 86 S. 1 und Art. 108 Abs. 7 GG sowie im Umkehrschluss aus Art. 80 Abs. 1 GG sind diese dem Gesetzesvollzug und nicht der Rechtssetzung zuzuordnen.[337] Einen zweiten Beleg liefert die unionsrechtlich veranlasste Stärkung des Verwaltungsverfahrens.[338] Die im Altrip-Urteil des EuGH verworfene Beweislastumkehr hinsichtlich der Kausalität von Verfahrens- und Formfehlern war schon im Lichte der BVerfG-Judikatur zum Grundrechtsschutz durch Verfahren unhaltbar.[339] Eine entsprechende Rezeption ist daher auch im rein nationalen Bereich des Verwaltungsverfahrensrechts angezeigt. Drittens bietet eine unionsrechtlich aufgeladene Schutznormtheorie die Gelegenheit zu notwendigen Korrekturen, vor allem mit Blick auf eine im nationalen Recht festzustellende Entsubjektivierung aggregierter Interessen Privater.[340] Auch aus Perspektive des Grundgesetzes ist nicht einsichtig, weshalb isoliert betrachtet schutzwürdige Individualinteressen bei kollektiver Betroffenheit eine subjektiv-rechtliche Entwertung erfahren sollen. Viertens gibt schließlich das als Folge der Mobistar-Judikatur des EuGH[341] durch § 138 TKG etablierte in-camera-Verfahren in der Hauptsache Anlass dazu, auch das – vom BVerfG nicht per se gerügte[342] – Trennungskonzept des § 99 Abs. 2 VwGO zu überdenken.[343] Nach der dort verankerten Alles-oder-nichts-Lösung erhält das Gericht der Hauptsache entweder überhaupt keine Kenntnis von den durch einen Fachsenat gesperrten Informationen oder diese sind offenzulegen und uneingeschränkt verwertbar. In multipolaren Konfliktlagen versperrt jene „verfehlte Alternativität“[344] eine praktische Konkordanz zwischen grundrechtlich geschützten Geheimhaltungsbelangen, effektivem Rechtsschutz und rechtlichem Gehör.[345]

66

Ausstrahlungswirkung

Einen Bedeutungszuwachs könnte das Grundgesetz – freilich außerhalb seines Geltungsbereichs – auch durch seine Ausstrahlungswirkung auf die EU-Rechtsordnung sowie die Rechtssysteme der anderen EU-Mitgliedstaaten erfahren.[346] Die Reichweite dieses Effekts hängt davon ab, inwieweit sich die grundgesetzlichen Figuren im Wettbewerb der nationalen Rechtsordnungen um Übernahme ins europäische Konzept „durchsetzen“ und womöglich sogar von anderen nationalen Rechtsordnungen übernommen werden. Ein prägnantes Beispiel bildet insoweit die weitreichende Rezeption des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.[347]