Handbuch des Verwaltungsrechts

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3. Fehlerfolgen beim Verwaltungsvertrag

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Unionsrechtswidrige Verwaltungsverträge

Wenngleich weniger im Fokus als der Verwaltungsakt, wird auch der Verwaltungsvertrag durch die Europäisierung imprägniert. Im Zentrum stehen – neben der Verwaltungsaktbefugnis bei Rückforderung vertraglich gewährter Beihilfen – die Folgen eines Verstoßes gegen Unionsrecht.[181] Weitgehende Einigkeit herrscht noch insoweit, als die zwingenden Vorschriften des EU-Rechts (soweit unmittelbar anwendbar) zu den Verbotsgesetzen i. S. v. § 59 Abs. 1 VwVfG i. V. m. § 134 BGB zählen. Hieraus resultiert grundsätzlich die Nichtigkeit entsprechender unionsrechtswidriger Verträge. Praktische Bedeutung kommt dem insbesondere im Falle von Beihilfeverträgen zu, die mit den Art. 107 f. AEUV kollidieren. Kontrovers diskutiert wird die Nichtigkeitsfolge allerdings (unter Rekurs auf § 134 Hs. 2 BGB) bei Verträgen, die nur formal mit dem beihilferechtlichen Durchführungsverbot kollidieren. Der BGH qualifiziert den einschlägigen Art. 108 Abs. 3 S. 3 AEUV als Verbotsgesetz (§ 134 BGB) und geht für privatrechtliche Beihilfeverträge auch insoweit von einer endgültigen Unwirksamkeit aus.[182] Nichts anderes könnte dann für den Parallelfall eines gegen Art. 108 Abs. 3 S. 3 AEUV verstoßenden öffentlich-rechtlichen Beihilfevertrags gelten.[183] Bei kritischer Würdigung erweist sich die BGH-Annahme einer unionsrechtlichen Verpflichtung zur Behandlung als endgültig unwirksam indes als Überdehnung des Effektivitätsgrundsatzes.[184] In der EuGH-Judikatur wird die endgültige Rückforderung einer entsprechenden Beihilfe durch nationale Richterinnen und Richter zwar für möglich gehalten, aber nicht als unionsrechtlich verpflichtend propagiert.[185] Es spricht daher mehr für die Annahme einer bloß schwebenden Unwirksamkeit des Beihilfevertrags analog § 58 Abs. 2 VwVfG.[186]

IV. Öffnung der Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht

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Funktionale Subjektivierung

Ein weiteres kontroverses Feld der (materiellen) Europäisierung des Verwaltungsrechts bilden die Einwirkungen auf die Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht.[187] Die Judikatur des Gerichtshofs lässt auch hier einen Ausgleich zwischen mitgliedstaatlicher Verfahrensautonomie und einheitlicher Anwendung des Unionsrechts erkennen. Einerseits wird die Einräumung individueller Rechte durch das Konzept der funktionalen Subjektivierung (mit-)geprägt.[188] Danach stehen die Rechte Einzelner (jedenfalls auch) im Dienste einer wirksamen Durchsetzung des Unionsrechts. In der Folge ergibt sich eine Ausdehnung klagefähiger Rechtspositionen unter Einschluss einer allgemeinen (altruistischen) umweltrechtlichen Verbandsklage,[189] einer erweiterten Rügbarkeit reiner Verfahrenspositionen[190] sowie einer Erfassung aggregierter Interessen Privater (wie der „Volksgesundheit“)[191].

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Grenzen

Ungeachtet dieser signifikanten Einwirkungen auf die Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht bleibt festzuhalten, dass sich dem Unionsrecht kein allgemeiner Normvollziehungsanspruch entnehmen lässt.[192] Vielmehr liegt auch der Judikatur des EuGH eine Spielart der Schutznormtheorie zugrunde.[193] Beleg hierfür liefert die beständige Bezugnahme auf das personale Schutzgut der in Rede stehenden Bestimmungen bzw. die tatsächliche Betroffenheit der Einzelnen.[194] Zu weitgehend ist es daher, wenn der 7. Senat des BVerwG von einer „,prokuratorische[n]‘“ Rechtsstellung“ spricht.[195] Dies gilt umso mehr, als das Unionsrecht von Beginn an (auch) eine Entscheidung für den Individualrechtsschutz beinhaltete.[196] In diesem Sinne stellt die Funktionalisierung des subjektiven Rechts ein „Zusatzelement“ dar, das sich nicht gegen die „individualbezogene Grundsubstanz“ wenden lässt.[197]

V. Stärkung des Verwaltungsverfahrens und der Öffentlichkeitsbeteiligung

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Aarhus-Konvention

Eine enge Verbindung zur Öffnung der Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht weist die Stärkung des Verwaltungsverfahrens und der Öffentlichkeitsbeteiligung auf.[198] Konzeptionelle Umbrüche sind vor allem im Umweltrecht zu verzeichnen.[199] Prägende Kraft entfaltet die 1998 zunächst von 34 Staaten und der EU unterzeichnete Aarhus-Konvention, die inzwischen 47 Staaten ratifiziert haben.[200] Deren drei Säulen umfassen neben dem Zugang zu Umweltinformationen auch die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Gerichtszugang in Umweltangelegenheiten.[201] Zur Anpassung des Unionsrechts an das Übereinkommen wurden insbesondere die novellierte Umweltinformationsrichtlinie, die Öffentlichkeitsbeteiligungsrichtlinie (mit Änderungen von UVP- und IVU-/Industrieemissionen-Richtlinie)[202] sowie die SUP-Richtlinie[203] erlassen. Die Umsetzung erfolgte auf Bundesebene mittels eines neuen UIG, des Öffentlichkeitsbeteiligungsgesetzes (u. a. mit Änderungen des UVPG und des BImSchG) sowie des UmwRG.

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Rolle des EuGH

Weiter forciert wird die Entwicklung durch die EuGH-Judikatur. Paradigmatisch hierfür steht das zur UVP-Richtlinie 2011/92/EU[204] ergangene Altrip-Urteil aus dem Jahr 2013. Dort mahnt der Gerichtshof zur Erweiterung des Kreises absoluter Verfahrensfehler in § 4 UmwRG a. F.[205] und betont mit Blick auf relative Verfahrensfehler (§ 46 VwVfG i. V. m. § 4 Abs. 1a S. 1 UmwRG n. F.), dass die Beweislast für das Vorliegen der Kausalität nicht auf Seiten der Rechtsbehelfsführung liegen darf.[206] Hierin dokumentiert sich ein erhöhter Eigenwert des Verwaltungsverfahrens in der Unionsrechtsordnung, womit der Anpassungsdruck auf nationale Verwaltungsrechtssysteme mit Betonung der dienenden Funktion steigt.[207] Andererseits stellt der EuGH unter Rekurs auf den „beträchtlichen Spielraum“ der Mitgliedstaaten aber auch fest, dass nicht jeder Verfahrensfehler zwangsläufig einen Aufhebungsanspruch desjenigen zur Folge hat, der ihn geltend macht.[208] In dieser grundsätzlichen Anerkennung des Kausalitätserfordernisses aus § 46 VwVfG findet zugleich erneut das Strukturprinzip der nationalen Verfahrensautonomie seinen Ausdruck.

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Heilung von Verfahrensfehlern

Das Spannungsfeld zwischen dienender Funktion und Eigenwert des Verwaltungsverfahrens prägt auch die Diskussion um eine Europarechtswidrigkeit der bis in den Verwaltungsprozess reichenden Heilungsmöglichkeit aus § 45 Abs. 2 VwVfG. Die Frage wird virulent, wenn nationale Behörden gegen Form- oder Verfahrensvorschriften des Unionsrechts bzw. deren nationale Umsetzung verstoßen. Zwar ist grundsätzlich anerkannt, dass die Anwendung nationaler Fehlerheilungsvorschriften nicht a priori ausgeschlossen ist, sofern die nachträgliche Legalisierung nicht zur Umgehung des Unionsrechts führt.[209] Ein Bedürfnis nach unionsrechtskonformer Auslegung der zeitlichen Grenzen könnte sich aber aus der EuGH-Judikatur zum Eigenverwaltungsrecht ergeben. Danach sind Verfahrensfehler nur während des Verwaltungsverfahrens heilbar.[210] Besonders strikt ist der Gerichtshof bei Anhörungs- und Begründungsmängeln.[211] Wollte man diese Vorgaben auf den indirekten Vollzug übertragen, resultierte hieraus ein Bedarf nach Konformitätsauslegung von § 45 Abs. 2 VwVfG.[212] In der Konsequenz wäre die zeitliche Grenze im Wege teleologischer Reduktion zumindest mit Abschluss eines etwaigen Widerspruchsverfahrens erreicht.[213] Dieser Ansatz überzeugt indes schon deshalb nicht, weil im Lichte der Verfahrensautonomie kategorial zwischen direktem und indirektem Vollzug unterschieden werden muss.[214] Vorzugswürdig erscheint vielmehr eine Einzelfallbetrachtung.[215] Dabei ist konkret zu klären, ob die Heilung nach § 45 Abs. 2 VwVfG tatsächlich unionsrechtliche Verfahrensrechte auszuhebeln droht.[216]

VI. Erweiterte Spielräume der Verwaltung

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Ausweitung administrativer Entscheidungsspielräume

Die Frage, inwieweit das Unionsrecht auch auf die gerichtszentrierte Lehre von den behördlichen Entscheidungsspielräumen ausgreift, ist in jüngerer Zeit verstärkt in den Fokus geraten.[217] Zwar deuten verschiedene Entscheidungen des Gerichtshofs zum EU-Visakodex,[218] im Telekommunikationssektor[219] sowie zur verwaltungsbehördlichen Zusammenarbeit im Bereich der Besteuerung[220] auf eine unionsrechtlich veranlasste Reduktion der gerichtlichen Kontrolldichte hin.[221] Die differenziert zu würdigenden Einzelbeispiele[222] erlauben indes noch keinen Rückschluss auf ein entsprechendes allgemeines Gebot.[223] Vielmehr verlangt grundsätzlich auch das Primärrecht eine effektive gerichtliche Kontrolle von Behördenentscheidungen, die in Anwendung des Unionsrechts ergehen (Art. 51 Abs. 1 S. 1 i. V. m. Art. 47 GRCh). Auf diese Weise werden umgekehrt Anforderungen für jene Mitgliedstaaten formuliert, deren Gerichte (bislang) mit geringerer Kontrolldichte prüfen.[224] Hiermit korrespondierend finden sich im Sekundärrecht bestätigende Garantien zur Sicherstellung einer wirksamen Gerichtskontrolle, die das nationale Recht z. T. sogar noch weitergehend (z. B. beim Geheimnisschutz) herausfordern.[225] Vor diesem Hintergrund darf auch eine Vollzugsteilung und -verflechtung im Verwaltungsverbund nicht zu Lasten des effektiven Individualrechtsschutzes gehen.[226] Eine Reduktion nationaler Kontrollstandards kann das Unionsrecht vielmehr nur dann fordern, wenn seine wirksame Durchsetzung gerade hiervon abhängt und die Rechtsschutzeinschränkung dazu nicht außer Verhältnis steht.[227]

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Typologie

Europäisierungsimpulse ergeben sich überdies hinsichtlich der überkommenen Typologie behördlicher Entscheidungsspielräume.[228] Hier hat insbesondere die neue, vom BVerwG zunächst auch unter Rekurs auf das Unionsrecht entwickelte Figur des Regulierungsermessens zur Wiederbelebung der Debatte um eine kategoriale oder graduelle Trennung geführt.[229] Der Blick ins europäische Ausland (z. B. Frankreich, Vereinigtes Königreich) macht deutlich, dass administrative Entscheidungsspielräume weithin einheitlich als „Ermessen“ qualifiziert werden.[230] Die kategoriale Trennung zwischen allgemeinem Verwaltungsermessen, Planungsermessen und Beurteilungsspielraum ist eine deutsche Besonderheit.[231] Zudem differenziert auch der Gerichtshof nicht bewusst zwischen „Ermessen“ und „Beurteilungsspielraum“.[232] Im Bereich der EMRK erfasst die vom EGMR entwickelte Doktrin der margin of appreciation etwaige Beurteilungs- und Ermessensspielräume gleichermaßen.[233] Im Lichte dieses rechtsvergleichenden Dreiklangs würde die Rückbesinnung auf eine einheitliche Systemkategorie des Verwaltungsermessens zur Anschlussfähigkeit der deutschen Dogmatik im Mehrebenensystem beitragen.[234]

 

F. Europäisierung des Verwaltungsrechtsschutzes

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Europäisierung des Verwaltungsrechtsschutzes

Die Europäisierung des Verwaltungsrechtsschutzes ist seit den 1990er-Jahren Gegenstand intensiver Befassung. Sie durchdringt weite Bereiche des Prozessrechts[235] als unionales „Durchsetzungsrecht“[236] und erstreckt sich auch auf das Gebiet der Staatshaftung.[237] Im Zentrum stehen neben Einwirkungen auf die Rechtsschutzform (I.) insbesondere das Zusammenspiel von Gerichtszugang und Kontrolldichte (II., III.) sowie die Beseitigung von Rechtsschutzeinschränkungen (IV.) und die Kohärenz des vorläufigen Rechtsschutzes (VI.). Ein prägnantes Beispiel für den Einfluss der EMRK bildet die Debatte um die Öffentlichkeit des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens (V.). Im Rahmen der Staatshaftung wird Einzelnen ein unionsrechtlich determinierter Sekundärrechtsschutz gegen die nationale öffentliche Gewalt eröffnet (VII.). Konstruktiv handelt es sich regelmäßig um Formen der indirekten Europäisierung, während bislang nur punktuell zwingende Rechtsschutzvorgaben in Sekundärrechtsakten zu finden sind.[238]

I. Einwirkungen auf die Rechtsschutzform

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Rechtsschutzform

Für die Durchsetzung des Unionsrechts stehen alle Rechtsschutzformen der VwGO zur Verfügung.[239] Eine Überformung des nationalen Systems der Klage- und Verfahrensarten ergibt sich vor allem in zweierlei Hinsicht.[240] Zum einen folgt aus dem Anwendungsvorrang, dass ein Verstoß von untergesetzlichen Normen gegen Unionsrecht nur die Unanwendbarkeit der nationalen Vorschriften zur Folge hat. Folgerichtig bleibt das OVG bei einer Normenkontrolle, deren Prüfungsmaßstab auch das von allen Staatsorganen zu beachtende Unionsrecht umfasst,[241] darauf beschränkt, die Unanwendbarkeit im konkreten Fall auszusprechen.[242] Methodisch erfolgt dies durch Konformitätsauslegung von § 47 Abs. 5 S. 2 VwGO, der als „Minus“ auch eine Unanwendbarkeitserklärung erlaubt.[243] Zum anderen lassen sich mit der allgemeinen Feststellungsklage (§ 43 VwGO) Rechtsschutzlücken schließen, wenn sich Einzelne gegen staatliche oder unionsrechtliche Normativakte wenden, die sie als solche nicht selbst anfechten können. Insoweit ist an eine vorbeugende Feststellungsklage zu denken, die auf Feststellung des Nichtbestehens eines durch die unanwendbare Norm begründeten Rechtsverhältnisses gerichtet ist.[244]

II. Erweiterter Zugang zum Gericht

1. Klage- und Antragsbefugnis

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Einklagbarkeit subjektiver Rechte

Im Rahmen der Ausführungen zur Europäisierung des allgemeinen Verwaltungsrechts ist deutlich geworden, dass hiermit auch Auswirkungen auf die Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht verbunden sind.[245] Die praktischen Konsequenzen der funktionalen Subjektivierung werden vor allem bei der Klage-/Antragsbefugnis deutlich.[246] Im Rahmen von § 42 Abs. 2 VwGO kann de lege lata zwischen zwei Rezeptionsansätzen unterschieden werden.[247] Nach der prozessualen Lösung ist die Einklagbarkeit unionsrechtlicher Rechtspositionen unabhängig vom Vorliegen subjektiv-öffentlicher Rechte zu gewährleisten. Sie sind vielmehr als anderweitige gesetzliche Bestimmungen gemäß § 42 Abs. 2 Hs. 1 VwGO zu begreifen.[248] Dagegen plädiert der materiell-rechtliche Ansatz für eine unionsrechtliche Erweiterung der Schutznormtheorie nach § 42 Abs. 2 Hs. 2 VwGO.[249] Hierfür spricht zum einen, dass es sich um die konsequente Fortwirkung einer im Ausgangspunkt materiellen Europäisierung im Prozessrecht handelt.[250] Zum anderen muss die prozessuale Lösung die in § 113 Abs. 1 und 5 VwGO normierte Voraussetzung einer Rechtsverletzung für irrelevant erachten und damit das gesetzliche Kontrollprogramm modifizieren.[251] Der materiell-rechtlichen Sichtweise hat sich auch der 7. Senat des BVerwG angeschlossen und eine „Ausdehnung des Begriffs des subjektiven Rechts“ im Wege einer Konformitätsauslegung vorgenommen.[252] Kritik erfuhr zwar die dabei erfolgte Gleichstellung von unmittelbar betroffenen natürlichen Personen und anerkannten Umweltverbänden.[253] Die Besonderheit des Falls bestand aber darin, dass der Weg zur Anerkennung einer Verbandsklagebefugnis aus § 42 Abs. 2 Hs. 1 VwGO mangels entsprechender gesetzlicher Bestimmung (noch) nicht eröffnet war.[254] Anders verhält es sich bei der auf völker- und unionsrechtliche Vorgaben zurückgehenden altruistischen Verbandsklage nach dem UmwRG. Der einschlägige § 2 UmwRG enthält eine gesetzlich zugewiesene Rechtsbehelfsbefugnis gemäß § 42 Abs. 2 Hs. 1 VwGO. Noch offen ist freilich, ob sich die unionsrechtlich induzierte Verbandsklage zu einem „Megatrend“ entwickeln oder eine atypische Sonderkonstellation im Umweltrecht bleiben wird.[255]

2. Rechtswidrigkeitszusammenhang

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Rechtswidrigkeitszusammenhang

Weitergehend hat der Gerichtshof im Jahr 2015 die Rüge einer Unionsrechtswidrigkeit des Rechtswidrigkeitszusammenhangs in § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO zurückgewiesen.[256] Insoweit wie es das Unionsrecht schon auf Zulässigkeitsebene erlaube, den Zugang Einzelner zu Gericht von einer subjektiven Rechtsverletzung abhängig zu machen, könne auch die gerichtliche Aufhebung der Entscheidung hieran anknüpfen.[257] Nur für Umweltverbände, bei denen eine Rechtsverletzung fingiert wird, kann eine solche Beschränkung keine Wirkung entfalten.[258] Dergestalt wurde sowohl ein Bruch mit der nationalen Verwaltungsrechtsdogmatik verhindert als auch die Existenzberechtigung von § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO anerkannt.

III. Umfang der gerichtlichen Kontrolle

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Faktischer Kontrollrückgang

Wenngleich sich dem Unionsrecht kein allgemeines Gebot zur Rücknahme der gerichtlichen Kontrolldichte entnehmen lässt, sind die mittelbar-faktischen Wechselwirkungen mit dem erweiterten Zugang zum Gericht augenfällig.[259] Zumindest prima facie leuchtet ein, dass ein erleichterter Gerichtszugang zu einer gleichsam kompensatorischen Reduktion der Kontrolldichte führen kann.[260] Der Konnex wurde von Generalanwältin Eleanor Sharpston im Fall Trianel anhand der Metapher vom deutschen Rechtsschutzsystem als „Ferrari mit verschlossenen Türen“ auf den Punkt gebracht.[261] Ungeachtet des Zusammenhangs zwischen Gerichtszugang und gerichtlicher Kontrollintensität sind aber auch andere Reaktionen auf erweiterte Klagebefugnisse der Individuen denkbar. Insoweit ist sowohl an eine personelle Stärkung der Gerichte als auch an die Etablierung eines abgestuften Konzepts der gerichtlichen Kontrolldichte nach Maßgabe der Rechtsbetroffenheit zu denken.[262]

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Weitere unionsrechtliche Vorgaben

Neben dem Ausmaß der Kontrollintensität werden weitere Probleme des gerichtlichen Kontrollumfangs diskutiert, die z. T. Schnittmengen mit der prozeduralen Europäisierung aufweisen. Zum einen wird der behördlichen Pflicht zur Begründung von Einzelfallentscheidungen vom EuGH eine „ganz besondere Bedeutung“ beigemessen. Im Falle einer Beschränkung unionsrechtlicher Rechte setze ein effektiver Rechtsschutz voraus, dass das angerufene nationale Gericht von der zuständigen Behörde die Mitteilung der Begründung für eine ablehnende Entscheidung verlangen und deren Rechtmäßigkeit überprüfen kann.[263] Zum anderen hat der Gerichtshof in der Rechtssache Heemskerk klargestellt, dass nationale Richterinnen und Richter nicht dazu verpflichtet sind, von Amts wegen eine Vorschrift des Unionsrechts anzuwenden, wenn hiermit ein im einschlägigen nationalen Recht verankertes Verbot der reformatio in peius (siehe § 88 VwGO) durchbrochen würde.[264]

IV. Beseitigung von Rechtsschutzeinschränkungen

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Nationale Rechtsschutzeinschränkungen

Die Europäisierung des Verwaltungsprozessrechts hat überdies zur Beseitigung diverser Rechtsschutzeinschränkungen bei der Geltendmachung von Verstößen gegen Unionsrecht geführt. Hierzu zählen neben der Intensivierung des Rechtsschutzes gegen Verfahrensverstöße[265] auch Durchbrechungen der Rechtskraft unionsrechtswidriger Gerichtsentscheidungen (1.), die Auswirkungen auf nationale Präklusionsvorschriften (2.) und Fristenregelungen (3.) sowie Verschiebungen des maßgeblichen Zeitpunkts zur Beurteilung der Sach- und Rechtslage (4.).[266]

1. Durchbrechung der Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen

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Rechtskraft

Eine kontrovers diskutierte Einwirkung des Unionsrechts auf das nationale Prozessrecht bildet die Durchbrechung der Rechtskraft unionsrechtswidriger Entscheidungen der nationalen Gerichte.[267] Praktische Bedeutung kommt der Problematik bislang vor allem im Beihilferecht zu. Leitentscheidungen bilden die Rechtssachen Lucchini, Klausner Holz und Călin.[268] Dort forderte der Gerichtshof eine Rechtskraftdurchbrechung im Namen des Effektivitätsgrundsatzes. Nicht zu verkennen ist allerdings, dass es sich um besonders gelagerte Fälle handelte, in denen das Prinzip der Rechtskraft nationaler Gerichtsurteile zwar relativiert, im Kern aber durchaus respektiert wurde.[269] Im Fall Lucchini hatte ein italienisches Zivilgericht einem Unternehmen einen Zahlungsanspruch zugesprochen, obwohl die Unvereinbarkeit der Beihilfe zuvor von der EU-Kommission bestandskräftig festgestellt worden war. In Klausner Holz wurde ein rechtskräftiges Feststellungsurteil zum Fortbestehen von Holzlieferverträgen mit dem Land NRW erwirkt, ohne dass es überhaupt zur Thematisierung der Beihilfefrage gekommen war. Im Fall Călin wurde ein Antrag auf Wiederaufnahme in Bezug auf eine rechtskräftige Gerichtsentscheidung wegen Verfristung für unzulässig erklärt, obgleich das Urteil noch nicht offiziell veröffentlicht worden war. Alle drei Entscheidungen verdeutlichen, dass eine Durchbrechung des auch auf Unionsebene anerkannten Prinzips der Rechtskraft[270] nur für Sonderfälle in Betracht kommt.[271] Hierin liegt ein erneuter Beleg für den vom EuGH praktizierten Ausgleich von Verfahrensautonomie und Effektivitätsprinzip.