Handbuch des Verwaltungsrechts

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II. Grundsätze der Äquivalenz und Effektivität

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Äquivalenz und Effektivität

Die Verfahrensautonomie ist ihrerseits mit den gegenläufigen Grundsätzen der Effektivität und Äquivalenz auszutarieren.[96] Deren Ratio liegt in der Sicherung einer einheitlichen Geltung und Anwendung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten.[97] Die Europäisierung der nationalen Rechtsordnungen findet hierin gleichsam ihre Legitimität.[98] Aus dem Gebot der Äquivalenz (oder Gleichwertigkeit)[99] folgt, dass nationale Verfahren für den Vollzug von Unionsrecht nicht ungünstiger ausgestaltet sein dürfen als bei entsprechenden Sachverhalten, die nur innerstaatliches Recht betreffen. Der Effektivitätsgrundsatz verlangt, dass nationales Verfahrensrecht die Verwirklichung des Unionsrechts nicht praktisch unmöglich macht oder übermäßig erschwert.[100] Die Kombination beider Prinzipien erweist sich als nachgerade „unerschöpflicher ,Speicher‘ für unendlich viele Deduktionen“.[101]

III. Konformitätsauslegung

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Konformitätsauslegung

Im Falle einer drohenden Kollision des nationalen Verwaltungsrechts mit vorrangigem EU-Recht stellt die in Art. 4 Abs. 3 EUV wurzelnde Figur der unionsrechtskonformen Auslegung ein Instrument der Konfliktlösung dar.[102] Einerseits obliegt es den nationalen Behörden und Gerichten, einen bestehenden Auslegungsspielraum voll auszuschöpfen, um den Anforderungen des Unionsrechts zu entsprechen.[103] Andererseits wird eine Auslegung contra legem – d. h. eine methodisch unzulässige Rechts(er-)findung durch Richterinnen und Richter – nicht gefordert.[104] Auf diese Weise soll ein schonender Ausgleich zwischen supranationaler und innerstaatlicher Rechtsordnung hergestellt werden.[105] Die enorme praktische Bedeutung der Konformitätsauslegung findet in einer Vielzahl von Anwendungsfällen ihren Ausdruck.[106] Klassiker stellen etwa die interpretatorische Überlagerung von §§ 48, 49a VwVfG bei der Rückforderung unionsrechtswidriger Beihilfen (Fall Alcan II) oder die unionsrechtlich geforderte Anordnung der sofortigen Vollziehung eines Verwaltungsakts nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO (Fall Tafelwein) dar.[107]

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Völkerrechtsfreundliche Auslegung

Mit Blick auf die Europäisierung i. w. S. ist die vom BVerfG entwickelte Figur der völkerrechtsfreundlichen Auslegung bedeutsam. Danach fungieren EMRK und EGMR-Judikatur auf Ebene des Verfassungsrechts als Auslegungshilfen für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze.[108] Grenzen markieren die anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung und Verfassungsinterpretation.[109] Die mit einer solchen EMRK-freundlichen Auslegung einhergehende Sonderstellung des grund- und menschenrechtlichen Völkervertragsrechts verankert das BVerfG u. a. in Art. 1 Abs. 2 GG.[110] Ein vieldiskutiertes Beispiel mit Bezug zum Verwaltungsrecht bildet die Diskussion um das Streikverbot für Beamtinnen und Beamte.[111]

IV. Kohärenz der Rechts(schutz-)systeme

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Kohärenter Rechtsschutz

Als eine noch über die Grundsätze der Effektivität und Äquivalenz hinausweisende „Zauberformel“ wird bisweilen das „Postulat der ‚Kohärenz‘ der Rechts(schutz)systeme“ qualifiziert.[112] Bereits seit den 1990er-Jahren fordert der EuGH, angelehnt an seine Rechtsprechung zu den Art. 278, 279 AEUV, eine „Kohärenz des Systems des vorläufigen Rechtsschutzes“.[113] Ein weiteres Beispiel bildet die Anlehnung der Voraussetzungen des unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs an die nach Art. 340 Abs. 2 AEUV zur Haftung der EU entwickelten Kriterien.[114] In kritischer Perspektive wird diese Kohärenzjudikatur als „,Harmonisierungsstrategie‘“ für Bereiche gedeutet, in denen die EU über keine Verbandskompetenz verfügt.[115] Eine nähere Analyse zeigt indes, dass es dem EuGH primär um die Sicherung einer einheitlichen und effektiven Anwendung und Umsetzung des Unionsrechts geht. Der weitgehende Gleichklang der Voraussetzungen des einstweiligen Rechtsschutzes vor nationalen und Unionsgerichten bzw. der Haftungsvoraussetzungen für EU und Mitgliedstaaten ist nur Mittel zum Zweck.[116] Vor diesem Hintergrund handelt es sich beim Kohärenzgebot nicht um einen freischwebenden Harmonisierungsansatz, sondern um eine bloße Ausprägung des Äquivalenz- und des Effektivitätsprinzip.[117]

V. Garantie effektiven Rechtsschutzes

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Effektiver Rechtsschutz

Die Garantie effektiven Rechtsschutzes bildet im deutschen Modell das Herzstück rechtsstaatlicher Kontrolle der Verwaltung.[118] Über den „Hebel“ des Art. 19 Abs. 4 GG wirkt das BVerfG auf die Verwaltungsgerichtsbarkeit und das von dieser kontrollierte Verwaltungshandeln ein.[119] Auf europäischer Ebene finden sich Pendants sowohl in Art. 47 GRCh als auch in Art. 6 Abs. 1 und 13 EMRK.[120] Indem die unionsrechtliche Rechtsschutzgarantie über Art. 51 Abs. 1 GRCh zugleich der Sicherung einer effektiven Durchsetzung des Unionsrechts im indirekten Vollzug dient, verhält sie sich in der Tendenz antagonistisch zur Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten und ist mit dieser zu einem möglichst schonenden Ausgleich zu bringen.[121] Potenzielle Konfliktfelder existieren etwa mit Blick auf das Ausmaß der gerichtlichen Kontrolldichte, die behördlichen Begründungspflichten oder den Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen.[122]

E. Das Allgemeine des Verwaltungsrechts im Prozess der Europäisierung

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Das Allgemeine im Besonderen

Die Funktionslogik der Europäisierung dokumentiert sich im allgemeinen Verwaltungsrecht wie in einem Brennglas. Als Extrakt der Wechselbezüglichkeit zu den besonderen Teilen wird der breitflächige Einfluss des Unionsrechts gerade in den Einwirkungen auf allgemeine Rechtsinstitute und Lehrsätze sichtbar.[123] Dabei sind in (fast) allen Bereichen Modifikationen durch Rechtsakte der EU zu verzeichnen. Eine zentrale Rolle kommt insbesondere dem Wirtschaftsrecht zu. In einer Vielzahl von Teilgebieten, wie dem Energie-, Finanzmarkt-, Telekommunikations- oder dem Vergaberecht, ist eine breitflächige Überlagerung des nationalen Regelungsrahmens feststellbar.[124] Hinzu tritt als weiteres zentrales Referenzgebiet der Europäisierung das Umweltrecht.[125] Im Zuge des Wandels der europäischen Integration hin zur politischen Union sind überdies weitere Felder, wie das Migrationsverwaltungsrecht, verstärkt in den Fokus geraten.[126] Dessen ungeachtet verbleibt eine hohe Disparität der Einwirkungsintensität, wie weniger imprägnierte Bereiche – z. B. das Polizei-, Kommunal- und Schulrecht – verdeutlichen. Es überrascht daher auch nicht, dass noch keine allgemeine Theorie der Europäisierung des besonderen Verwaltungsrechts entwickelt worden ist.[127]

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Referenzgebiete

Die europäisierten Gebiete des besonderen Verwaltungsrechts sind es auch, aus denen sich Impulse für die Fortentwicklung des allgemeinen Verwaltungsrechts ergeben. Als rechtsgebietsübergreifende Phänomene erweisen sich die Umgestaltung der Verwaltungsorganisation (I.) sowie die mit der Europäisierung verbundenen Herausforderungen für die Rechtsquellenlehre (II.). Modifikationen der Handlungsformenlehre resultieren vor allem aus den Einwirkungen des EU-Beihilferechts (III.). Die Debatten um eine Stärkung der Rolle des Verwaltungsverfahrens (V.) und die Öffnung der Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht (IV.) wurden im Umweltrecht vorangetrieben. Die Frage einer unionsrechtlich geforderten Reduktion der gerichtlichen Kontrolldichte (VI.) wird im Telekommunikations-, Migrations- und Steuerrecht diskutiert.

I. Umgestaltung der Verwaltungsorganisation

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Einwirkungen auf die Verwaltungsorganisation

Einwirkungen auf die nationale Verwaltungsorganisation stellen sich als Erscheinungsform der institutionellen Europäisierung dar. Im Ausgangspunkt ist insoweit festzuhalten, dass aus dem Loyalitätsgebot des Art. 4 Abs. 3 EUV eine allgemeine Verpflichtung der Mitgliedstaaten resultiert, die zur effektiven Durchsetzung des Unionsrechts erforderlichen Behörden zu etablieren und sowohl personell als auch materiell angemessen auszustatten.[128] Daneben vermittelt das EU-Recht konkrete Impulse zur Schaffung von Verwaltungsstellen (wie den „Notifizierten Stellen“ bei der Produktzulassung, den Nachprüfungsinstanzen im Vergaberecht oder den Regulierungsbehörden in den Netzindustrien), zur Einleitung von Privatisierungsprozessen (etwa in den Sektoren Telekommunikation, Post und Bahn),[129] zur Herausbildung von Behördennetzwerken[130] sowie zur Veränderung von Überwachungsregimen (wie die Zurückdrängung der Aufnahmeüberwachung durch die DLR 2006/123/EG)[131] und Anpassung wirtschaftlicher Strukturen (wie die Abschaffung bzw. Modifikation von Gewährträgerhaftung und Anstaltslast bei Sparkassen und Landesbanken).[132] Bisweilen ergeben sich hier Überschneidungen mit der prozeduralen Europäisierung.[133] Eine organisatorische Komponente haben im Übrigen auch die veränderten Beziehungsmuster staatlicher und privater Akteurinnen und Akteure.[134] So folgen aus der Europäisierung zunehmend „hybride Konstellationen“, die beide Beteiligte einschließen und insgesamt (auch) auf das Ziel der Aufgabenwahrnehmung im öffentlichen Interesse ausgerichtet sind.[135]

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Etablierung ministerialfreier Behörden

 

Besondere institutionelle und mit Blick auf das Demokratieprinzip kontroverse Herausforderungen resultieren aus der zunehmend in EU-Richtlinien geforderten Weisungsunabhängigkeit der nationalen Vollzugsbehörden.[136] Im Datenschutzrecht wurde die geforderte „völlige Unabhängigkeit“ der Aufsichtsbehörden im Jahr 2010 vom EuGH explizit bestätigt und Deutschland zu einer Neuorganisation verurteilt.[137] Für das Recht der Netzwirtschaften folgt aus den Richtlinienvorgaben in den Bereichen Energie, Telekommunikation und Eisenbahnen sogar ein sektorenübergreifendes Unionsprinzip der Weisungsunabhängigkeit der nationalen Regulierungsbehörden.[138] Hieran anknüpfend sieht jetzt im Kartellrecht die „ECN+“ Richtlinie (EU) 2019/1[139] ebenfalls eine Weisungsfreiheit der Kartellbehörden im Zusammenhang mit der Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV vor. Schließlich zeichnen sich auch die Bankenaufsicht und -abwicklung durch die unionsrechtlich geforderte politische Unabhängigkeit der zuständigen Einrichtungen und Stellen auf nationaler Ebene aus.[140]

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Unabhängigkeit gegenüber der Normgebung

Über die Ministerialfreiheit hinaus, wird in den Netzwirtschaften eine weitergehende Verschiebung des Gemeinwohlmandats auf die nationalen Behörden diskutiert.[141] Dahinter steht das von der Kommission propagierte Modell einer administrativen (im Gegensatz zur normierenden) Regulierung. Danach soll eine über die Richtlinienvorgaben hinausgehende normative Vorstrukturierung des Behördenhandelns nur begrenzt zulässig sein. Hieraus resultiert eine Unabhängigkeit der nationalen Regulierungsbehörden auch gegenüber einer (weitergehenden) Steuerung durch die gesetz- und verordnungsgebende Instanz. Im Telekommunikationssektor wurde der Wandel hin zu diesem stärker administrativ geprägten Steuerungskonzept in der „Neue Märkte“-Entscheidung des EuGH forciert.[142] Eine Paralleldiskussion wird aktuell im Energiesektor für die Regeln über den Netzzugang geführt. Die Kommission fordert auch hier eine stärkere Hinwendung zum Konzept der administrativen Regulierung und hat Aufsichtsklage gegen Deutschland vor dem EuGH erhoben. Generalanwalt Giovanni Pitruzzella ist dem seinen Schlussanträgen vom 14. Januar 2021 vollumfänglich gefolgt und hat die Feststellung einer Vertragsverletzung vorgeschlagen.[143]

II. Herausforderungen der Rechtsquellenlehre

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Rechtsquellenlehre und Europäisierung

Erhebliche Herausforderungen sind mit der Europäisierung des Verwaltungsrechts auch für die Rechtsquellenlehre verbunden. Im Fokus stehen insoweit die Kompetenz der nationalen Behörden zur Nichtanwendung unionsrechtswidriger Rechtsnormen (1.) sowie die Frage der Rechtsnatur von Verwaltungsvorschriften (2.).

1. Nichtanwendung unionsrechtswidriger Rechtsnormen

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Nichtanwendungspflicht der Verwaltung

Ein vieldiskutiertes Einwirkungsfeld bildet die vom EuGH in der Rechtssache Fratelli Costanzo propagierte Verpflichtung zur amtswegigen Nichtanwendung unionsrechtswidriger nationaler Rechtsnormen durch die Verwaltung.[144] Im Kontrast dazu hat sich das BVerwG bei Verstößen gegen rein nationales Recht zugunsten einer grundsätzlichen Anwendungspflicht der Beamtin bzw. des Beamten bis zu einer gerichtlichen Entscheidung ausgesprochen.[145] Weite Teile des Schrifttums und – im Bereich administrativer Normsetzung – der BGH plädieren für eine Aussetzungs- und Vorlagepflicht der Beamtinnen und Beamten.[146] Eine Übertragung dieser nationalen Ansätze auf Fälle mit Unionsrechtsbezug muss indes ausscheiden.[147] Anderenfalls droht die Infragestellung einer effektiven Durchsetzung des vorrangigen Unionsrechts.[148] Ebenso wenig überzeugen können Ansätze, wonach die behördliche Nichtanwendungspflicht nur bei evidenten Verstößen eingreifen soll.[149] Es erschiene widersprüchlich, wenn sich Einzelne zwar vor nationalen Gerichten uneingeschränkt auf den Vorrang des EU-Rechts berufen könnten,[150] die Verwaltung selbst aber nur bei evidenten Verletzungen zu dessen Wahrung verpflichtet wäre. Regelmäßig erscheint allein die Annahme einer umfassenden Nichtanwendungspflicht tragfähig.[151] Die nationalen Stellen sind mithin berechtigt und verpflichtet, innerstaatliche Rechtsnormen jedweder Art auf ihre Vereinbarkeit mit Unionsrecht zu prüfen und im Kollisionsfall – nach eingehender Vergewisserung[152] – unangewendet zu lassen. Etwas anderes wird man nur annehmen können, wenn eine Behörde das in Rede stehende Unionsrecht für verfassungswidrig im Sinne der Kontrollvorbehalte-Judikatur des BVerfG[153] erachtet. Insoweit wäre das Verwaltungsverfahren auszusetzen und eine Klärung durch die übergeordneten Stellen herbeizuführen. Die Aktivierung eines Kontrollvorbehalts kann freilich nur durch das BVerfG selbst erfolgen.[154] Dieses wäre mittels abstrakter Normenkontrolle analog Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG durch die Bundes- und Landesregierungen als kollegiale Verwaltungsspitze zu befassen.

2. Rechtsnatur von Verwaltungsvorschriften

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Außenwirkung von Verwaltungsvorschriften

An der Schnittstelle zur Handlungsformenlehre liegt die Frage nach der Rechtsnatur von Verwaltungsvorschriften.[155] Wegen der Beschränkung auf den verwaltungsinternen Bereich wird ihnen oft sowohl Rechtsnorm- als auch Rechtsquellencharakter aberkannt.[156] Dessen ungeachtet hat das BVerwG gesetzeskonkretisierenden Verwaltungsvorschriften im Umwelt- und Technikrecht seit Mitte der 1980er-Jahre unmittelbare Bindungswirkung für die Gerichte zugesprochen.[157] In der Folge wurde ihre unmittelbare Außenwirkung auch im Beamten- und Sozialrecht anerkannt.[158] Das BVerfG hat diese Judikatur der Sache nach gebilligt, sofern die Heranziehung der normkonkretisierenden Verwaltungsvorschriften auf einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage beruht.[159] Wollte man dem folgen, müsste hieraus folgerichtig auf den Rechtsnorm- und Rechtsquellencharakter geschlossen werden. Konterkariert wird die These von der unmittelbaren Außenwirkung indes durch die EuGH-Judikatur zur ordnungsgemäßen Umsetzung von Richtlinien. Hierzu sind normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften (wie die TA-Luft) nach Auffassung des Gerichtshofs mangels Gewährleistung der gebotenen Rechtssicherheit nicht geeignet. Einzelnen müsse die Möglichkeit eröffnet werden, Rechte vor nationalen Gerichten geltend zu machen, was den Erlass zwingender Rechtsvorschriften erfordere.[160] Diese Judikatur sollte zur kritischen Überprüfung der unmittelbaren Außenwirkung selbst dann veranlassen, wenn man mit einem weiten Begriffsverständnis[161] auch Innenrechtssätze den Rechtsnormen und -quellen zuordnen wollte.

III. Einwirkungen auf die Handlungsformenlehre

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Handlungsformen und Europäisierung

Die Europäisierung erweist sich auch im Bereich der Handlungsformenlehre als wirkmächtig. Festzustellen sind insbesondere multiple Überlagerungen der überkommenen Formen des Verwaltungshandelns.[162] Zentrale Problemkreise bilden Fragen der Bestandskraft von Verwaltungsakten (1.), der Verwaltungsaktbefugnis (2.) sowie der Fehlerfolgen beim Verwaltungsvertrag (3.).[163]

1. Bestandskraft und Aufhebung von Verwaltungsakten

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Rückforderung unionsrechtswidriger Beihilfen

Was den Verwaltungsakt als Grundlage und Fixpunkt der Verwaltungsrechtsdogmatik betrifft, so ist zunächst die EuGH-Judikatur zur Bestandskraft unionsrechtswidriger Verwaltungsentscheidungen hervorzuheben. Auf der einen Seite hat das Alcan II-Urteil (1997)[164] zu einer weitgehenden Überformung des nationalen Verwaltungsrechts im Bereich der Rücknahme und Rückforderung unionsrechtswidriger Beihilfen geführt, die durch das BVerwG rezipiert und vom BVerfG respektiert wurde.[165] Im Schrifttum ist dies auf teils (über-)pointierte Kritik gestoßen.[166] Bei nüchterner Betrachtung wird deutlich, dass sich sowohl das vom Gerichtshof angenommene fehlende schutzwürdige Vertrauen der Alcan GmbH als Empfängerin einer nicht notifizierten Beihilfe als auch die Reduzierung des Rücknahmeermessens sowie der Ausschluss des Entreicherungseinwands methodengerecht begründen lassen.[167] Die methodologische Grenze der Konformitätsauslegung überschreitet allein die vom EuGH propagierte Verdrängung der Jahresfrist, mit der Wortlaut und Ziel des § 48 Abs. 4 S. 1 VwVfG überspielt werden.[168] Mit Blick auf den durch ein nachgerade „kollusives“ Zusammenwirken von beihilfegebender und -empfangender Stelle geprägten Ausgangssachverhalt konnte dies allerdings kaum überraschen.[169]

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Aufhebung belastender Verwaltungsentscheidungen

Dass der Gerichtshof dem Aspekt der Rechtssicherheit substanzielles Gewicht beimisst, belegt die Kühne & Heitz-Judikatur.[170] Hier hat der EuGH die Voraussetzungen formuliert, unter denen eine Verwaltungsbehörde im Lichte von Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz verpflichtet ist, eine in Bestandskraft erwachsene belastende Verwaltungsentscheidung wegen ihrer Unionsrechtswidrigkeit zu überprüfen.[171] Danach muss eine Rücknahme im nationalen Recht überhaupt vorgesehen (vgl. § 51 Abs. 5 i. V. m. § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG[172]) und die Entscheidung durch alle Instanzen vergeblich angegriffen worden sein (ohne dass sich der Betroffene zwingend auf Unionsrecht berufen haben müsste), wobei das letztinstanzliche Gericht seine Vorlagepflicht verletzt hat. Überdies muss sich der Betroffene unmittelbar nach Kenntnis von der EuGH-Judikatur an die zuständige Behörde wenden. Die Mitgliedstaaten können hierfür eine angemessene Frist setzen. Im Schrifttum werden diese restriktiven Kriterien mit Recht zugleich als Ausdruck der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie gedeutet.[173]

2. Verwaltungsaktbefugnis

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Ausweitung der Verwaltungsaktbefugnis

Zur Erfüllung ihrer Aufgaben mittels Verwaltungsakts bedürfen die Behörden nach traditionellem Verständnis einer besonderen gesetzlichen Ermächtigung.[174] Inwieweit dieses Erfordernis einer Verwaltungsaktbefugnis unter dem Vorbehalt der effektiven Durchsetzung des Unionsrechts steht, wird seit einem Beschluss des OVG Berlin-Brandenburg (2005) kontrovers diskutiert. Hiernach fordert das EU-Beihilferecht die Geltendmachung der Rückforderung einer privatvertraglich gewährten Beihilfe durch sofort vollziehbaren Verwaltungsakt.[175] Dem ist entgegnet worden, dass die Verwaltung einen Erstattungsanspruch nach der sog. Kehrseitentheorie[176] grundsätzlich nur dann mit Verwaltungsakt durchsetzen kann, wenn dieser die Rückgewähr einer bereits durch Bescheid festgesetzten Leistung beinhaltet.[177] Bei einer vertraglichen Leistungsgewährung sei der Vorbehalt des Gesetzes dagegen nicht gewahrt, wenn keine separate Verwaltungsaktbefugnis bestehe.[178] Abhängig von der Rechtsnatur des Vertrages bliebe daher nur eine Leistungsklage vor den Gerichten. Der EuGH erhielt in der Rechtssache Biria (2014) die Gelegenheit zur Stellungnahme. Im Grundsatz betonte er, dass die Mitgliedstaaten frei in der Wahl der Mittel sind, mit denen sie ihrer Pflicht zur Rückforderung unzulässiger Beihilfen nachkommen. Etwas anderes soll aber dann gelten, wenn die Wiedererlangung der Beihilfe nach Maßgabe der zivilrechtlichen Vorschriften nicht sicherzustellen ist. In diesem Fall könne es in concreto erforderlich sein, eine nationale Vorschrift „unangewendet zu lassen (…) und andere Maßnahmen zu ergreifen (…)“.[179] Die Ausführungen liefern einen weiteren Beleg für die Europäisierung der nationalen Handlungsformenlehre und tragen durch die Beschränkung auf pathologische Sonderkonstellationen zugleich der nationalen Verfahrensautonomie Rechnung.[180]